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ARCH+ 181/182
Lernen von O. M. Ungers
ARCH+ 181/182
zur Zeitschrift: ARCH+

Architektur oder Revolution*

Mit dieser Ausgabe setzen wir nach archplus 179 „Oswald Mathias Ungers. Berliner Vorlesungen 1964/65“ die Auseinandersetzung mit Ungers’ Lehrkonzept fort. Während die Berliner Vorlesungen den theoretisch-methodischen Ansatz seiner frühen Lehrtätigkeit aufzeigen, gibt das vorliegende Heft einen zu den Vorlesungen komplementären Überblick über seine praktisch-schöpferische Lehrauffassung, die in unzähligen Projekten und vor allem in den berühmten Veröffentlichungen zur Architektur ihren Ausdruck fanden. Den Reichtum der explizit als Materialsammlung angelegten Ausgabe verdanken wir der exzellenten Arbeit von Erika Mühlthaler, die als Gastredakteurin ihren zur Ausstellung „Lernen von O. M. Ungers“ an der TU Berlin erschienenen Katalog in einer von uns leicht gekürzten und redigierten Fassung erneut herausgibt.

Warum in kurzer Folge zwei Ausgaben zu Ungers? Es geht uns ausdrücklich nicht um einen wie auch immer gearteten Personenkult. Vielmehr erlaubt es die unvergleichliche Materialsammlung, von den Wochenaufgaben bis zu den Diplomarbeiten zu verfolgen, was es heißt, in der Architektur nicht nur die Kunst zu sehen, „Bindungen“ einzugehen – ein Architekturbegriff, der Regelhaftigkeit einfordert –, sondern auch, was es bedeutet, den Ort selbst zum Gegenstand des Studiums zu machen, sich mit der Stadt auseinander zu setzen.1 Berlin ist seit Ungers Thema. Thema ist aber nicht nur die Stadt selbst, sondern an Berlin ist auch die Hoffnung geknüpft, dass von hier aus eine Erneuerung der Architektur ausgehen könnte.

Und sie tat es auch. Wenn auch in einem ganz anderen Sinne als erwartet. Es scheint in der deutschen Architekturgeschichte immer wieder Schichten zu geben, die zunächst verdrängt und erst über den Umweg einer Rezeption von Außen in ihrer ungeheuer anregenden Bedeutung wahrgenommen werden können. Die „Berliner Geschichte(n)“ von Rem Koolhaas in dieser Ausgabe belegen es. (S. 68) Das dialektische Verhältnis zwischen Ungers und Koolhaas ist jedoch zugleich ein gutes Beispiel dafür, was „Lernen von Ungers“ tatsächlich bedeuten könnte. Für den jungen Koolhaas waren die Berliner Studentenarbeiten nicht nur ausschlaggebend für seine Entscheidung, Ungers nach Cornell zu folgen, sondern sie eröffneten ihm auch ein Spektrum von Ideen, die er aufgriff, methodisch weiterentwickelte und in verschiedenen Projekten vervollkommnete, während die deutschen Schüler, die einen Richtungswechsel einzuläuten schienen, lediglich eine Hoffnung auf die Zukunft blieben. Statt die Offenheit des Ungersschen Denkraums als Anregung für eine eigenständige Weiterentwicklung der Architektur zu nutzen, herrschen in Deutschland allzu häufig einseitige Interpretation, Besitzansprüche und Epigonentum vor.

Was sind die Gründe für das Misslingen des Berliner Experiments? Als Begründung wird an dieser Stelle immer das Destruktionspotential der Studentenbewegung angeführt und die
68er dafür verantwortlich gemacht, dass die Rückeroberung des Bauens durch die Ungerssche Lehre so jäh endete. Ein Argument, so falsch wie richtig.2 Der Einbruch des Politischen erweiterte, veränderte aber auch das Verständnis von Architektur und Gesellschaft grundsätzlich. „Architektur und Gesellschaft“ hieß auch das erste Seminar der Kritischen Universität an der TUB. Es war der erste Schritt zu einer, wenn auch anfänglich äußerst abstrakten, kritisch-historischen Aufarbeitung der unterdrückten Seite der Moderne, nämlich ihre sozialrevolutionäre und sozialreformerische Geschichte, die es später erlauben sollte, sich dem Verhältnis von Architektur und Gesellschaft konkreter zu nähern. In den 1960er Jahren war es noch ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis, das damals nur einseitig zu lösen war: Revolution oder Architektur. (Assistenz: Karoline Kleist)

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