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Bauwelt 48.06
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Bauwelt 48.06
zur Zeitschrift: Bauwelt

Räume, Licht und Farbe

Opulente Dan-Flavin-Retrospektive in München

21. Dezember 2006 - Sandra Hofmeister
Mit unerschütterlicher Wucht breitet sich das gleißend weiße Licht aus, dringt in alle Winkel des hohen Ausstellungsraums vor. Die Welt scheint sich in ein vielsagendes Nichts aufzulösen, dessen Zentrum an der Stirnseite des Raums prangt wie der Altar in der Hauptapsis einer Kirche. „The nominal three“ nannte Dan Flavin dieses Werk aus sechs vertikalen Lichtstäben, die wie ein Triptychon an der Wand angebracht sind. Gerade so, als ob die Heilige Dreifaltigkeit ein zufälliges Nebenprodukt handelsüblicher Leuchtstoffröhren wäre. Der intellektuelle Anspruch, den diese Arbeit von 1963 nicht ohne Ironie und Doppeldeutigkeit in der Widmung an den Nominalisten Wilhelm von Ockham (1280–1349) formuliert, gehört ebenso wie politische Aussagen zur Kunst von Dan Flavin dazu. Doch das Potential und der Reiz der Werke des 1933 in New York geborenen und vor zehn Jahren verstorbenen Künstlers liegen in der unmittelbaren Erfahrung der Kunst selbst. Seit 1963 arbeitete Flavin ausschließlich mit Leuchtstoffröhren. Er schuf mit diesem banalen Industrieprodukt beeindruckende Lichtszenerien, die er weder als Skulptur noch überhaupt als Kunst gedeutet wissen wollte. Als Susan Sonntag 1964 gegen die Interpretation als Zähmung und Reduktion von Kunstwerken wetterte, könnte Dan Flavin ihr Gewährsmann für die Praxis gewesen sein: Seine nüchternen Leuchtröhren rufen eine Sensibilität sinnlicher Erfahrung auf den Plan, die sich selbst genügt, ganz ohne Worte.

Die Pinakothek der Moderne in München zeigt über 70 Werke des Künstlers und lässt die weihevollen Räume im Ostflügel des Braunfels-Tempels in wohltuend sachlichem Licht erstrahlen. Mehrere Serien Dan Flavins sind in der chronologisch geordneten Retrospektive versammelt. Einige von ihnen, die „Monuments for V. Tatlin“ oder die „icons“, wurden noch nie in diesem Umfang als Werkgruppe gezeigt, sie befinden sich sonst als Einzelstücke über verschiedene private und öffentliche Sammlungen verteilt. Skizzen des Künstlers zu einzelnen Werken und Fotos ergänzen die sehr sorgfältig kuratierte Schau – ein Eindruck, der sich mit jedem Schritt durch die Räumlichkeiten neu präsentiert und dabei verdichtet. So ergießt sich das leuchtende Grün der unbetitelten Lichtbarriere von 1973, die Flavin seinem Freund und Galeristen Heiner Friedrich widmete, in den angrenzenden Flur der Mittelachse, wo es zu pinkfarbener Luft verpufft. Nach längerem Verweilen erst lässt dieses starke Nachbild die Netzhaut los, bis man wahrnimmt: Es ist doch kein rötliches, sondern ein schlichtes weißes Licht, das sich an diesem Herbsttag mit dem fahlen Tageslicht mischt. „Schlicht ist nicht einfach schlicht“, meinte Dan Flavin einmal. „Es ist schlicht anspruchsvoll.“

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