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Bauwelt 44.06
Japanische Museen
Bauwelt 44.06, Foto: Monobloque
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Possibilités – das Erbe André Lurçats in Maubeuge

17. November 2006 - Anne Kockelkorn
Beim Namen Maubeuge denken die meisten Franzosen an eine verregnete Industriestadt, und die 34.000 Maubeuger verwechseln den städtebaulichen Entwurf des Architekten André Lurçat von 1947 nicht selten mit ihren Hochhaussiedlungen der 60er Jahre. Das ist schade, denn es handelt sich bei diesem Projekt um eines der seltenen Beispiele partizipativer Stadtplanung der Nachkriegszeit, das zudem eine ganz eigene Architektursprache spricht – leiser und zurückhaltender als die Entwürfe von Perret für Le Havre (Heft 45/2005) oder von Le Corbusier für La Rochelle.

Als Militärbastion an der belgischen Grenze und Sitz der Stahlindustrie war die Stadt bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich und strategisch wichtig. 1940 brannte die deutsche Wehrmacht den Stadtkern im Innern der Befestigungsanlagen nieder, kurze Zeit später ließ die Vichy-Regierung die Ruinen beseitigen und mit dem Abraum Teile des Befestigungsgrabens auffüllen – das historische „Material“ der Stadt wurde ausradiert.
Nach dem Abzug der Front wurde Lurçat als Stadtplaner des Wiederaufbaus nach Maubeuge geschickt, unter anderem auch, weil er als ehemaliges Mitglied der Résistance die lokalpolitischen Unruhen dämpfen sollte. Lurçat bewies Verhandlungsgeschick, artikulierte durch ein Stadtplanungskomitee die Bedürfnisse der Bevölkerung und erarbeitete mit den Eigentümern ein neues Grundbuch. Der mittel­alterli­che, zu 80% bebaute Stadtgrundriss wurde zu einer modernen Stadt mit kollektiven Wohnhäusern; der Wert von Grundstücken und Eigentum war vorher durch Volksentscheide festgelegt worden. Auf formaler Ebene führte Lurçat die Prinzipien der Moderne mit Anklängen der Beaux-Arts-Tradition zusammen: Er stellte die Reste der Festung von Vauban un­ter Denkmalschutz, ließ aber das Erdreich weiter nivellieren; er fasste die Bausubstanz in Wohnblöcken zusammen und richtete sie an zwei orthogonalen Achsen aus; er erhielt die Mischung von Wohnen und Einkaufen, staffelte aber die Wohnungsbauten hinter den flachen Boutiquen zurück; er öffnete die Stadt mit einer Promenade zum Fluss und behielt die Anlegestellen der Industrie-Lastkähne. Schließlich entwarf er auch industrielle Prototypen, vom Fensterrahmen bis zum Türgriff, mit denen die Architekten in seiner Sprache weiter entwerfen sollten.

Doch leider hatte Lurçat bereits 1946 die Stadtregierung nicht mehr auf seiner Seite. Den Sozialdemokraten war er nicht nur als Kommunist unbequem, sondern vor allem deshalb, weil er direkt mit den Eigentümern verhandelte. Lurçats majestätische Achse zwischen Bahnhof und Theater läuft daher bis heute an beiden Endpunkten ins Leere. In den 50er Jahren begann zudem der Niedergang der Stahlindustrie. Maubeuge geriet ins infrastrukturelle Abseits von Lille und Valenciennes, und während die Elite flüchtete, zogen Immigranten aus dem Maghreb nach. In den 90er Jahren starteten verschiedene Initiativen, um das Kulturleben zu reanimieren, unter anderem eine Organisation zur Förderung visueller Kunst, die Residenzstipendien vergibt – im letzten Jahr an die Berliner Grafikerin Dorothée Billard und den Architekten Clemens Helmke (monobloque).

Mit ihrem Projekt „Possibilités“ knüpfen die Künstler an die Methode Lurçats an, individuellen Ausdruck und serielle Fertigung zu verbinden, und bieten ein Spiel an: ein Stempelset, das die Gebäude Lurçats als Axonometrien abbildet, und eine Karte von Maubeuge zur Stunde null mit den Befestigungsanlagen und den Höhenlinien. Die Maubeuger haben nun in einem Ausstellungsraum im Zentrum ei­nen Mo­nat lang Gelegenheit, ihre eigene Variante der Stadt zu stempeln, unter Zuhilfenahme von Buntstiften und Kugelschreibern; ein Angebot, das die ungeliebten Gebäude der Nachkriegsmoderne zur Debatte stellt und unerwartete Begegnungen provoziert, etwa zwischen Kirche und Tankstelle oder zwischen Befestigungsgraben und Wohnhaus. Dabei stehen die unkontrollierbare Vervielfältigung von Gebäuden durch das Stempeln und die Gewalt der bürokratischen Geste in eigentümlichen Kontrast zur natürlichen Trägheit von stadtplanerischen Prozessen. Will man als Architekt mitspielen, sollte man sich vom Wunsch nach Sys­tematik und Verantwortung erst einmal verabschieden und auf die Dynamik des Spiels vertrauen.

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