Zeitschrift

Bauwelt 44.06
Japanische Museen
Bauwelt 44.06, Foto: Ingo Schrader
zur Zeitschrift: Bauwelt

La Sagrada Familia 1882 – 2036

Ein Zwischenbericht

In 60 Meter Höhe wird Beton gegossen. Im Untergeschoss entwerfen Architekten an Monitoren und an Gipsmodellen immer weiter hinauf. Circa 2036 soll der zentrale Turm 170 Meter erreicht haben. Erst dann wird La Sagrada Familia von Antoni Gaudí über den höchsten Kirchturm der Welt verfügen.

17. November 2006 - Ingo Schrader
Chinesinnen verkaufen Regenschirme mit Burberry-Muster. Seit zwei Tagen regnet es in Strömen, doch aus den Bussen, die am Bauzaun parken, steigen immer noch mehr Besucher. 2004 waren es zwei Millionen.

Die Baustelle existiert seit 1882. So sind viele Bauleiter nacheinander aus Altersgründen ausgeschieden, der Architekt selbst geriet 1926 unter eine Straßenbahn und starb an den Folgen des Unfalls. Heute ist der 48-jährige Neuseeländer Mark Burry „Executive Architect and Researcher“ auf der Baustelle und zugleich „Professor of Innovation“ an der RMIT University in Melbourne. Er leitet an den Besuchermassen vorbei in den Rohbau. Auf dem Betonboden haben sich Pfützen gebildet. Arbeiter schauen uns aus dem tropfenden Halbdunkel des Innenraums neugierig nach, als wir zunächst im Kellergewölbe verschwinden. Hier liegt das Baubüro. Wir erreichen einen gro­ßen Raum mit Computerbildschirmen und etwa 20 jungen Architekten bei der Arbeit. Alles scheint ganz normal, lägen da nicht auf den Tischen Gipsmodelle von Säulenkapitellen und steinerne Blumenornamente neben bunten Inkjet-Ausdrucken und Detailmodellen aus dem 3D-Plotter. Die Monitore zeigen komplizierte Gewölbekonstruktionen. An den Wänden hängen neben CAD-Plots vergrößerte Schwarzweiß-Fotos historischer Baupläne einer immensen Kathedrale. Das Dröhnen der Presslufthämmer von der Baustelle ist so stark, dass wir unser Gespräch unterbrechen müssen. Der 82-jährige Jordi Bonet i Armengol kommt herein, sprühend vor Energie und Charme. Seit zwanzig Jahren steht er als Chefarchitekt in der Nachfolge Gaudís. Schon als Junge war er mit der Baustelle vertraut, da sein Vater den Architekten persönlich kannte.

Ein weiterer Raum beherbergt Stahlregale in engen Reihen. Diese sind bis an die Decke gefüllt mit Modellfragmenten aus Gips, Silikonformen, Originalstücken aus Stein. Es sind Kapitelle, Knotenpunkte, Ornamente, geometrische Skulpturen – ein kaum zu erfassender Schwall von dreidimensionalen Bildern und Ideen. Alles ist nummeriert, archiviert, geordnet.

Durch eine Glaswand sieht man in die hallenartige Modellbauwerkstatt, wo meterhohe Modelle aus Gips und anderen Materialien im Maßstab 1:20 bis 1:1 entstehen. Konzentrierte Arbeit an seltsamen Konstruktionen, die jedoch durch ihre präzise Geometrie und die oft an natürliche Formen erinnernde Gestalt eine eigentümliche Vertrautheit, beinahe Selbstverständlichkeit ausstrahlen. Während der 3D-Plotter ge­rade seine stoische 12-Stunden-Arbeit an einem circa 30 x 30 x 30 cm gro-ßen Modellstück aufnimmt, gehen wir wieder hinaus auf die Baustelle.
Das Innere der Kathedrale ist fast zur Hälfte mit einem 60 Meter hohen Stahlgerüst ausgefüllt, die andere Hälfte lässt überschlanke Stützen erkennen, die an der Basis aus dunklen, druckfesteren Steinen bestehen, nach oben immer heller und leichter werdend. Von Porphyr über Basalt und Granit zu Kalkstein. Von wulstigen Knotenpunkten aus gabeln sich die Stützen in dünnere Äste, die einmal das Dach tragen werden.

Ein laut scheppernder Baustellenaufzug bringt uns auf die Plattform über dem Stahlgerüst, etwa die Höhe des späteren Kirchengewölbes. Hier wird betoniert. Nach der Fertigstellung in circa 30 Jahren soll von hier aus der mittlere und größte Turm der Kirche bis auf insgesamt 170 Meter aufsteigen und den Bau damit zur höchsten Kirche der Welt machen. Alle Teile werden von kleineren Handwerksbetrieben ausgeführt, die ausschließlich für diese Baustelle tätig sind. Eine große Baufirma wäre nicht in der Lage, eine solche Aufgabe zu leisten, erklärt Mark Burry. Die Kosten werden seit Baubeginn allein durch Spenden finanziert.

Wir steigen weiter einen Gerüstturm hinauf. Unter uns liegt die Stadt, über uns die fünf großen Kräne, auf Augenhöhe ragen Stützen mit freiliegenden Anschlussbewehrungen aus der mit Brettern abgedeckten Plattform. Seitlich blickt man hinab in die mit Gerüsten zugestellte Apsis, in der sich Säulen mit unregelmäßig gezackten Kapitellen, Bewehrungseisen und Fiberglas- oder Stahlschalungen abzeichnen. Insgesamt ein verwirrendes Bild, komplex genug, um größten Respekt vor der Koordination dieser Baustelle zu haben.
Laut Mark Burry sind die Formen der Sagrada Familia geome­trisch bestimmt und nicht, wie bei früheren Bauten Antoni Gaudís, Freiformen. Indem heute die komplexe Geometrie mit CAD nachvollzogen wird, entdeckt man die Gesetzmäßigkei­ten der Formgebung und ist in der Lage, einmal entschlüsselte Detailpunkte auf andere, analoge Bereiche zu übertragen. Der Enthusiasmus des Teams und die Betriebsamkeit der Baustelle haben etwas Mitreißendes, gleichzeitig fragt man sich angesichts der gewaltigen Aufgabe der posthumen Realisierung die­ser seltsamen, so unzeitgemäßen Bauaufgabe, ob das mittlerweile über 100 Jahre alte Werk sich als verschrobenes Hirngespinst herausstellen könnte oder eher als eine geniale Verrücktheit. Schon in den fünfziger Jahren hatte Oriol Bohigas, katalanischer Architekt und späterer Stadtbaurat von Barcelona, eine große Zahl von Architekten gegen den Weiterbau der Votivkirche zu Ehren der Heiligen Familie mobilisiert, unter anderem Le Corbusier und Walter Gropius. Es sei unmöglich, Architektur nach einer Ästhetik und einer Technologie zu reproduzieren, die inzwischen vollständig überholt seien, argumentierte er. Diese Kontroverse flammte auch in den neunziger Jahren noch einmal auf.

Heute machen die unentwegte Unterstützung des Projekts durch Spenden aus aller Welt, vor allem aus Japan, und die Begeisterung der Menschen für diese Architektur stutzig. Die Kathedrale wird, ähnlich wie vielleicht im Mittelalter, zu einer kollektiven Angelegenheit, bei der sich das Werk von seinem Autor löst und ein Identifikationsobjekt der Gemeinschaft wird. Es ist verständlich, dass besonders die Architekten vor den Computern die mögliche Missachtung von Urheberrechten kritisieren und die Materialgerechtigkeit oder die Authentizität in Frage stellen. Doch überwiegt ihre Faszination, gleichzeitig bauhistorische Forschung, fast schon Archäologie zu betreiben und eine Großbaustelle zu managen, die mittelalterliche Steinmetzkunst, Goldmosaik, Lasertechnik, raffinierte Betonarbeiten, Bildhauerei und modernste Krantechnik miteinander verbindet. Um diese Erfahrung sind sie zu beneiden.

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