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Das Mehllager

Umbau zu einem Universitätsgebäude an der Rive Gauche: ANMA

6. Oktober 2006 - Gabriel Sandwert
Das umgenutzte Mehllager (Halle aux Farines) ist eines der ersten nahezu fertiggestellten Universitätsgebäude am neuen Standort „Paris Rive Gauche“ für das beginnende Hochschuljahr. Da es auf der komplexen Baustelle mehrere Verzögerungen gab, dauern innen die Arbeiten noch an. Außen zeigt sich das Gebäude aber schon wieder in seiner früheren Kompaktheit und Klarheit.

Integriert in das bedeutende Stadtentwicklungsgebiet, mit dem schon in den achtziger Jahren begonnen wurde (Hefte 20-21/1995 und 35/1999), soll der neue Universitätsstandort die dortige Mischnutzung aus Büro, Gewerbe und Wohnen in der Nähe der Französischen Nationalbibliothek ergänzen. Der Teilbereich des Entwicklungsgebiets nennt sich Masséna. Er ist im Norden begrenzt durch die Seine, im Süden durch die neue Avenue de France, die die Gleise der Gare d’Austerlitz überdeckt, im Osten durch den Boulevard Masséna und im Westen durch die Rue Neuve-Tolbiac. Christian de Portzamparc legte bereits 1995 den Rahmenplan für diesen Sektor fest. Das Mehllager, die Großen Mühlen, die Kühlhäuser, die ehemalige Fabrik zur Luftkompression SUDAC, allesamt Bauten auf einem der letzten Industrieareale in Paris, wurden in das neu zu bebauende Gebiet einbezogen und sollen sich in den zukünfti­gen Hochschulstandort einpassen. Dabei war es das Ziel, einen offenen Bereich der Studierenden in der Stadt zu schaffen und keinen in sich gekehrten Campus wie zum Beispiel in Jussieu, einer autarken Gitterstruktur der sechziger Jahre von Edouard Albert (Seite 32). Die Aufteilung des Raumprogramms in mehrere benachbarte Gebäude ganz unterschiedlicher Gestalt und Geschichte, die von öffentlichen Straßen durchzogen werden, wird zu dieser gewünschten Mischung im Viertel beitragen. Wäh­rend des Hochschulbetriebs werden sich hier bis zu 20.000 Studenten und 4000 Lehrkräfte einfinden. Neben dem Lager stehen die ehemaligen Großen Mühlen von Paris. Den Umbau dieses weit größeren Gebäudes für die Universitätsbibliothek hat der beauftragte Architekt Rudy Ricciotti bereits abgeschlossen.

Für den Umbau des Mehllagers war 2001 das Architekturbüro Nicolas Michelin & Associés – ANMA, damals noch unter dem Namen LABFAC tätig, als Sieger eines eingelade­nen Wettbewerbs hervorgegangen. Um das Programm der Lehrräume der Universität Paris VII – 13 Hörsäle, 60 Seminar­säle, eine Mensa, Verwaltungsräume – in dieser aus Stahlbeton im Jahr 1950 erbauten Halle unterzubringen, musste man mas­sive Umstrukturierungen vornehmen. Trotz der geforderten Flächen von 17800 Quadratmetern und der geringen finanziellen Mittel haben die Architekten vehement dafür plädiert, das Volumen der Halle so weit wie möglich zu erhalten, da gerade die Struktur, aber auch die Gastalt der Längsfassaden die Qualität des 25 Meter hohen, 15 Meter breiten und 140 Meter langen Gebäudes ausmachen. Der Bau wurde mit einem Minimum an Material verwirklicht. Alle Teile, die Stützen- und Trägerquerschnitte sowie die Zuganker und Decken sind knapp bemessen worden. Denis Honegger (1907-1981) – Schüler und später Mitarbeiter von Auguste Perret – entwarf das Mehllager Ende der vierziger Jahre mit einer perfekten Beherrschung der Stahlbetonbauweise von Perret (Heft 45/2005). Honegger übernahm auch dessen Vokabular. Dies ist besonders bei den licht- und luftdurchlässigen Betongittern und anderen vorgefertigten Fassadenelementen zu erkennen.

Wie ein Schiff in der Flasche

Damit das Programm in das vorhandene Tragwerk eingefügt werden konnte, waren umfangreiche Studien erforderlich. Im Verlauf der Ausführungsplanung und später auch auf der Baustelle kam es mehrmals zu Veränderungen, damit alle Teil­bereiche sinnvoll in der Halle Platz fanden. Nichtsdestotrotz blieb das Gebäude mit seinen großen Deckenhöhen, seinem flachen Dachgewölbe aus filigranen Bögen und seinen Fassaden mit Füllelementen aus vorgefertigtem Beton als Ganzes erhalten. Einzig das Mittelschiff wurde komplett entkernt, um dort die Hörsäle frei von jeglichen Zwischenstützen unterbringen zu können. In das Existierende hin­eingeschoben wie ein Schiff in die Flasche bildet diese an­einander gebaute Folge an Volumen eine lineare, autonome Form zwischen den beiden Seitenschiffen. Die „Füllung“ ergab zudem eine offene Raumzone unterhalb des Gewölbes, in der Computerarbeitsplätze des SCRIPT (Service Commun de Ressources Informatiques Pédagogiques et Techniques) eingerichtet wurden. Nach der Fertigstellung werden die Arbeitsplätze durch Boxen aus leichten pflaumenfarbigen Wänden voneinander abgetrennt sein.

Die Verkehrswege sind so organisiert, dass sie die Bewegungsströme im Gebäude trennen. Die Seminarsäle in den Seitenschiffen werden über Flure auf den Ebenen der existierenden Decken erreicht; in die Hörsäle im zentralen Bereich gelangt man über Treppenhäuser in neu eingefügten Zwi­schen­ebenen. Einige Seminarsäle verfügen über eine doppelte Raumhöhe. Eingebaute Glasbausteine im oberen Bereich dieser Säle bewirken eine indirekte Belichtung der Flure. Die Mensa und die Abteilung CROUS (Centre régional des œuvres universitaires et scolaires) funktionieren unabhängig vom Uni­versitätsbetrieb. Die Küche ist im Bereich des bestehenden Gebäudes angesiedelt, während sich das Restaurant, eine bescheidene Leichtmetallkonstruktion mit Fensterfronten und drei großen Lichtkegeln auf dem Dach, in einem Flachbau an der nördlichen Schmalseite mit Blick auf den neu gestalteten Quai und die Seine befindet.

Brückenkräne

Da es sich bei dem Umbau um eine Verdichtung ausschließlich im Inneren des Gebäudes handelte, wurde die Baustelle auf ungewöhnliche Weise eingerichtet. Nach dem Abriss der Ebenen im Mittelschiff und der provisorischen Stabilisierung der zwei Seitenschiffe, die nur noch durch das Dachgewölbe und die Streifenfundamente miteinander verbunden waren, wurden zwei Brückenkräne für die Versorgung der Baustelle eingesetzt. Sie dienten dazu, die vorgefertigten Betonelemente, die Träger der Hörsäle, die Verschalungen und Bewehrungen für die vor Ort gegossenen Betonwände der Hörsäle und die vorgespannten Hohlbetonplatten für die seitlichen Gänge zu transportieren. Nach Beendigung der Bauarbeiten wurden die Brückenkräne wieder abgebaut und durch neu geschaffene Öffnungen im Dach herausgehoben. Diese Dachöffnungen erhielten anschließend eine Verglasung, die eine natürliche Belichtung der Ebene mit den Computer-Arbeitsplätzen unter dem Gewölbe sichert. An den Wänden der Hörsäle soll das Kunst-Projekt „Lebende Oberfläche“ von Bertrand Segers installiert werden. Bis heute ist allerdings davon noch nichts zu sehen.

Unbearbeitete Materialien

Die Ausstattung der Innenräume ist bewusst nüchtern, sogar rudimentär gehalten. Dies ist nicht nur dem niedrigen Budget geschuldet; man wollte vor allem den industriellen Charakter des ursprünglichen Gebäudes bewahren. Die Materialien blieben weitgehend unbearbeitet. Alle Kabel und auch manche Lei­tungskanäle sind sichtbar. Bei den Trennwänden der Seminarsäle wurden Blocksteine verwendet. Die Volumen der Hör­säle sind vor Ort aus glattem Beton gegossen worden. Ihre Bodenplatten sind dicker als bautechnisch notwendig, um den Lärm von außen zu dämmen. Die hintere Wand der Hörsäle ist mit einer Schicht aus Mineralwolle, verdeckt durch lackierte Holzplatten, verkleidet. An den seitlichen Wänden wurden ge­presste Naturfaserplatten angebracht.

Zwei Passagen

Neue Treppenhäuser bedienen die sechs Ebenen. Sie liegen an zwei Querpassagen im Erdgeschoss, die auch als Durchgänge genutzt werden können. Die Passagen leiten zur begrünten Esplanade zwischen dem Mehllager und den Großen Mühlen über. Im Westen ist ein Park geplant, im Osten zwei Neubau­ten der Universität. Die Passagen sind mit Gittertoren zu schließen. Damit bleibt der Durchblick erhalten und die nächtliche Sicherheit gewährleistet. Um eine unabhängige Nutzung zu erlauben, verfügen die größeren Hörsäle mit 300 Plätzen über einen eigenen Zugang.

Die Originalfassaden mit ihren markanten Balkonen sind in ihrem eigentlichen Zustand erhalten. Im oberen Teil sind die Glasbausteine durch Fenster ersetzt worden. Darunter wurden einige der reliefartigen Fassadenelemente durch Glasfenster mit Sonnenschutz aus Leichtbeton-Lamellen ersetzt, die den linienhaften Rhythmus des gesamten Baukörpers nochmals unterstreichen.

Palazzo della Ragione

Der rationell strukturierte „Bildungsapparat“ ist gelungen, nicht nur, weil mit viel Hingabe die Architektur aus den fünf­ziger Jahren bewahrt wurde, sondern auch, weil man dem Gebäude einen städtischen Charakter gegeben hat, offen für die Bewohner und Besucher des Quartiers. Die zwei Passagen sichern die direkte Anbindung. Das neue Mehllager zeigt für mich hier eine gewisse funktionale Verwandtschaft mit dem Palazzo della Ragione in Padua, ebenfalls ein Durchgangsgebäude, errichtet zwischen zwei Plätzen. Aufgrund der Esplanade und des geplanten Parks steht zu erwarten, dass mit diesem südlichen Teil von „Seine Rive Gauche“ auch ein Ort für unterschiedliche kulturelle Aktivitäten entstehen wird. Und die umgebauten Industriebauten werden in jedem Fall treibende Elemente des Universitätslebens sein.

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Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

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