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Bauwelt 39.06
Um-, An-, Auf- und Überbau
Bauwelt 39.06, Foto: Paul Wolff
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10. Architekturbiennale Venedig

13. Oktober 2006 - Martina Düttmann
Gerade ist Halbzeit bei der 10. Mostra Internazionale di Architettura, die sich in diesem Jahr an dem Thema „Città. Architettura e società“ versucht. Viele Veranstaltungen folgen noch, der Sieger unter den Länderpavillons wird erst am Schluss der Ausstellung gekürt. Letzter Tag ist der 19. November. Wer wissen will, ob es vorangeht mit Architektur und Stadtplanung oder ob wir gerade daran verzweifeln, sollte nach Venedig reisen.

Die Architekturbiennale in Venedig macht süchtig. Wenn man nach vier Tagen die Stadt wieder verlässt, wünscht man, September 2008 stände schon vor der Tür. Es ist die einzigartige Mischung aus einer konzeptionellen Sicht auf die Welt, die in den Raumfolgen des Arsenale präsentiert wird, und der regionalen Sicht auf sich selbst, die in den Länderpavillons der Giardini stattfindet. Außerdem kann man sich darauf verlassen, fast jeden zu treffen, den man in dem beschränkten Universum Architektur kennt, und dass derjenige wieder einen neben sich hat, dem man noch nicht begegnet ist und mit dem man ein Treffen in Bordeaux oder Paris oder Austin oder Moskau oder sonstwo verabreden kann.

Nicht zu vergessen Venedig, nicht zu vergessen die Sonne. In Berlin hat um diese Zeit der Frühherbst schon begonnen.

Nur dies alles: „Cities. Architecture and Society“

Das Thema im Arsenale war gewaltig: „Städte. Architektur und Gesellschaft.“ Da geht nichts drüber. Eine Ausstellung der Feststellungen, die ihre Dramatik allein aus dem Thema bestreitet. Die Aussagen stecken in Styroporstelen, Satellitenbildern, Statistiken, Schwarzplänen, Diagrammen. Wie oft passt der Stadtgrundriss von Venedig in eine der Megastädte? Die Aussteller haben ganz einfach Material über Städte gesammelt und die Computer ihr Bestes tun lassen, um das Material zu visualisieren. Hätte man sie anders programmiert, sagt sich der Besucher, wären andere Bilder entstanden, und geht auf Distanz. Die Zufälligkeit der Aufbereitung, die Zufälligkeit dessen, was man über die einzelnen Städte erfährt, die Zufälligkeit, mit der einige der genialen Fotos von Gabriele Basilico aus Turin und Berlin in der Randleiste platziert wurden – glaubte man wirklich, das Dilemma der großen Städte dadurch begreiflicher zu machen? Oder soll der Besucher aus dem Wildwuchs der Präsentation auf die Hilflosigkeit der Gegenwart gegenüber dem Phänomen Stadt schließen?

Sechzehn Städte sind nacheinander aufgereiht, von São Paulo, Caracas, Bogotá über Kairo und Istanbul bis Mailand und Turin, Berlin und London, Tokio, Bombay, Shanghai. Manche dieser Städte wachsen unaufhörlich und belegen die These, dass in vierzig Jahren mehr als zwei Drittel der Menschen in Städten leben werden. Aber sie wachsen auf unterschiedliche Art, die einen informell, die anderen übersteuert. Manche Städte wachsen gar nicht, Berlin zum Beispiel. Die Ausstellung unterscheidet die einen nicht von den anderen. Sie fragt auch nicht, sind die Städte als Täter oder als Opfer zu lesen, sind sie den Entwicklungen ausgeliefert oder forcieren sie, weil im ständigen Wettbewerb, Entwicklungen, denen sie nicht gewachsen sind? Reagieren sie partiell, ganzheitlich, ignorant, vorausschauend? Welche tut was? Nichts wird gefragt, nichts wird beantwortet.
„Was eine Stadt ausmacht, ist nicht mehr klar. Neben den klassischen politischen Kräften und den Kräften des Marktes wirken Migration, Überalterung, Konsumverhalten und Tourismus auf die Städte ein. Und die Angst. Es ist ein unkontrollierbarer Kräftekomplex, der sichtbar und unsichtbar am Werke ist und der durch Theorie nicht mehr erfasst oder geläutert werden kann. Für Architekten hat diese Komplexität zu ei­nem Verlust ihres Engagements geführt, denn sie können die Stadt als kollektive Ganzheit nicht mehr begreifen.“ Dieser Text steht nicht in den Biennalekatalogen, sondern in einem Faltblatt, das dort auslag und die Architekturbiennale 2007 in Rotterdam ankündigt. Wenn die Ausstellung im Arsenale wenigstens diese Aussage gemacht hätte. Doch nichts dergleichen.

Was wir sahen: Pappkojen neben Pappkojen, mit denen die gewaltige Säulenkolonnade des Arsenale halbhoch zugestellt war, die Säulen von den Tafeln beidseitig angeschnitten. Einem, der noch nie auf der Biennale war, hatten wir einen in die Tiefe gehenden, archaischen Raum versprochen. Und da standen wir nun, in konventionellen Gefachen, die in jeder Tiefgarage Platz gefunden hätten. Was für eine Architekturausstellung, die zuerst einmal Raum zerstört. Vor sechs Jahren hatte Massimiliano Fuksas die Stadt, die nicht sein Thema war, im Hintergrund der Säulenkolonnaden in bewegten Bildern vorbeirauschen lassen, gewaltig, wortlos, wunderbar. Jetzt schrumpfen die Städte auf Diagramme zusammen, für deren Erläuterungen der Besucher kaum Zeit hat.
Während man von Koje zu Koje geht, muss man über ebene Tafeln schreiten, und auf die werden bewegte Luftbilder von den ausgestellten Städten projiziert. Die Bilder ziehen wie Wolken darüber hinweg. Die Tafeln liegen mitten auf dem Weg, man muss sie überqueren, und man tut es zögernd. Ei­nen Augenblick lang verliert man den festen Boden unter den Füßen und spürt die Gefährdung und die Verletzlichkeit der Städte. Hier ist etwas angedeutet, hier ist einmal das Thema der Ausstellung mit den Mitteln von Ausstellungen umgesetzt. Sonst nirgends. Kann, wenn die Botschaft groß ist, die Präsentation willenlos sein? Kann man bei der Darstellung eines an sich wahren Sachverhalts auf die Erfahrungswirklichkeit verzichten?

Die Konzeption lag in den Händen von Richard Burdett, Architekt und Stadtplaner aus London, der an der London School of Economics lehrt und einer der Berater des Mayor of London ist. Außerdem ein Freund von Richard Rogers, der rein zufällig in diesem Jahr den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt. Für das Ausstellungsdesign waren Cibic & Partners zusammen mit dem Grafikbüro Fragile verantwortlich.

Mehr Wirklichkeit bot ein Kreuzfahrtschiff mit Namen „Norwegian Jewel“, das gegenüber den Giardini drei Tage lang vor Anker lag und seine eigene Fassade in die Straßen Venedigs einschrieb, um einiges höher als die der gegenüberliegenden Häuser. Ein solches Schiff hat mehr Bewohner als zwei oder drei Stadtblocks in Berlin und beherbergt einen vollen Stadtblock an Personal. Die Bewohner des Schiffes sind mit allem versorgt. Angst ist ausgeklammert. Städte sind nicht mehr als Landausflüge. Überalterung ist ganz normal. Als Kleinststädte bewegen sich diese Schiffe rund um den Erdball. Man könnte sich vorstellen, dass sie nie mehr vor Anker gehen oder dass die Mitreisenden längst den Boden unter den Füßen verloren haben. Das überdimensionierte Schiff löst mehr Gedanken aus als die gesamte Ausstellung im Arsenale, die nicht viel mehr bietet als aufgeblähte Buchseiten, die man besser zu Hause liest. Auf den Seiten der Architectural Review, die zeitgleich mit der Eröffnung erschien, nimmt sich das unsystematisch gesammelte Material denn auch plausibler aus. Wir verlassen das Arsenale.

In den Giardini

Hier sind wir verpflichtet, zuerst nach dem deutschen Pavillon zu sehen. Das bedeutet, nach dem Eingang nach rechts abbiegen, vorbei an der Schweiz, Russland, Japan, Dänemark, der skandinavischen Dreiheit Norwegen, Schweden, Finnland. Der deutsche Pavillon liegt an einem kleinen Platz, den er mit den Pavillons von Großbritannien und Frankreich teilt. Die Buchstaben Germania sind schon länger verschwunden, ihre Abdrücke noch lesbar. Die unbeholfenen, quadratischen Säulen kann man leider nicht in Abdrücke verwandeln, auch die Symmetrieachse bleibt dominant. Weil das Thema diesmal aber Convertible City heißt, was die Aussteller ziemlich einfach durch Beispiele von Um- und Anbauten belegt haben, welche natürlich keine Antwort auf das Dilemma der Stadt geben können, wurde der Anspruch durch eine asymmetri­sche rote Treppe versinnbildlicht, mit der man die Symmetrieachse stört. Der Ausblick von oben ist, wie nicht anders zu erwarten, herrlich. Von der Treppe löst sich schon am Tag der Eröffnung der Belag (verantwortlich: die Berliner Architekten Armand Grüntuch und Almut Ernst).

Gegenüber die Franzosen. Auf Migration gibt es keine angemessenen Antworten sagte sich Patrick Bouchain, der verantwortliche Architekt, aber eines können wir: Gastfreundschaft inszenieren. Er hat sich mit seinem Konzept eines von unten bis hoch aufs Dach bewohnten Pavillons gegen die Gepflogenheiten der Biennale durchsetzen müssen. Lauter Gerüste, auf denen man schläft, neben denen man arbeitet, in die eine veritable Küche eingehängt ist, aus der es duftet, und eine Bar, wo jeder willkommen ist. Wenn Architekten, so die Botschaft, als Randgruppe in dem Mächtespiel um die Stadt nicht mehr gefragt sind (es sei denn als Auslage im Schaufenster, wie die Entwürfe von Renzo Piano, Zaha Hadid, Richard Rogers et al. belegen), dann greife man auf das zurück, was Architekten auch vermitteln können müssen, vor allem, wenn sie ein Einfamilienhaus bauen: die Lust zu leben.

Brodsky und Brodsky

Wir gehen den Weg Richtung Eingang zurück. Die Japaner, sonst immer Garantie für ein radikales Konzept, präsentieren sich diesmal barfüßig, barhäuptig, alternativ, bambusselig. Was Russland, gleich nebenan, betrifft, so haben die vorangegangenen Biennalen keine großen Erwartungen aufkommen lassen. Umso überraschender der Pavillon diesmal: Ein Architekt namens Alexander Brodsky inszenierte ein visuelles Gedicht über Moskau in vier Maßstäben: eine Siedlung aus Plattenbauten in der Vitrine, über die der Besucher den Schnee rieseln lassen kann, dämmernde Wohngebäude, geschichtet hintereinander, erleuchtete Wohnungen nebeneinander mit dem immer gleichen kleinen scherenschnitthaften Leben darin. Zu lesen wie eine Strophe von Joseph Brodsky. „Überall ist Nacht. In Winkeln, Augen, Wäsche, im Tisch, in den Papieren, in der fixen Rede, im Kruzifix, im Laken ... Alles schläft ein. Das Fenster. Und der Schnee im Fenster. Des Nachbardaches weiße Schräge. Wie ein Tischtuch. Sein First. Das ganze Viertel, tief im Schlaf, von Fensterrahmen tödlich kleingeschnitten...“ Doch hier, in der Ausstellung, legt Alexander Brodsky den Bildausschnitt des winzigen wirklichen Wandfensters so, dass der Blick auf den blau schimmernden Canale Grande fällt. Wieso der Architekt und der Dichter, der uns sofort dazu einfällt, den gleichen Namen tragen, ließ sich nicht entschlüsseln. „Inhabited Localities“ heißt die Inszenierung, die sich als künstliche Baustelle weiter durchs Treppenhaus zieht. Einige wenige Bauten von Alexander Brodsky (vielleicht hat er gar nicht mehr bauen dürfen?) werden am Ende der Treppe an die Wand geworfen: kleine Aufträge, subtile Umsetzung. Er ist ein Architekt, über den man gern mehr wüsste, doch er macht sich unsichtbar hinter dem Untertitel seiner Präsentation: „A Few Episodes in the Life of the Architect’s Favourite City, as Told by Himself.“

An der Hauptachse links liegt der kleine belgische Pavillon. Er hat vor zwei Jahren mit einer Dokumentation über Kinshasa den Preis der Biennale gewonnen. Diesmal schaut das Land auf sich selbst und zeigt „The Beauty of the Ordinary“. Ein Luftbild von Belgien deckt den Boden des zentralen weißen Raums, ringsherum fünf Projektionskojen, in denen Videobilder, von fest installierten Kameras aufgenommen, Situationen irgendwo im Lande zeigen. Ein Auto fährt an der Tankstelle vorbei, eine Frau geht eine helle Straßen hinunter, Kids sitzen auf dem Dach einer Sporthalle, einer kommt, zwei gehen. Kein Schnitt. Mit großer Kunst ist vermieden worden, die Orte interessant werden zu lassen, ist vermieden worden, dass sie durch den Blick der Kamera mehr werden, als sie sind. Festgehalten wurde lediglich ein fragiler Moment an einem bedeutungslosen Ort. Festgehalten wurde eine Hommage an das Gewöhnliche, und darin enthalten: eine Absage an die Ästhetisierung der Welt. Es geht um das Absonderliche im Alltäglichen, um das Unwahrscheinliche im Banalen, um die imaginierbare Geschichte einer Frau, von der man nur den Rücken sieht. Wir mögen es so, lautet die Botschaft der stillen Bilder, wir sind sicher, dass sich gerade diese banalen Orte weiterentwickeln lassen, ohne sie je zu Ende denken zu müssen. Städtebau als Weitererzählung. Der kleine Katalog zur Ausstellung im belgischen Pavillon ist schwarzweiß gedruckt. Dreizehn Autoren umkreisen das Thema Banalität, und es gelingt ihnen, Robert Venturi und der Überhöhung von Banalität auszuweichen.

Kurze letzte Anmerkung zum Thema Städte

In dem großen italienischen Pavillon am Ende der Hauptachse, der schon immer mit vielen Einzelausstellungen das Thema des Arsenale weitergeführt und Italien nur gestreift hat, gab es eine Arbeit von OMA, die sich mit den Städten entlang der arabischen Küste beschäftigt, vom Anfang der Straße von Hormus und wieder zurück: Dubai, Abu Dhabi, Katar, Manama, Bahrain, Doha, Kuweit City, Ra’s al-Chaima. Jede dieser Küstenstädte steht mit der anderen im Wettbewerb und entwirft ein jeweils besonderes Bild von sich selbst, alle importieren sie die westliche Moderne, übersetzen sie ins Größere, Outriertere, nie Dagewesene, um sie vielleicht irgendwann an den Westen zu re-exportieren. Der Tourismus nimmt zu, die vorauskalkulierten Zuwachsraten (auf die einige der Staaten setzen, weil ihnen die Ölvorräte ausgehen werden) sind enorm. Die Ausstellung über diese unbekannte Region, leicht verständlich, weil ohne jeden graphischen Überbau, liest sich wie der Vorspann zu einer größeren Studie. Im September 2008 werden wir es wissen.

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