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Bauwelt 3.07
Der neue Bunker
Bauwelt 3.07
zur Zeitschrift: Bauwelt

Umfeld der Marienkirche in Lübeck

Ein weiterer Anlauf zur Stadtreparatur in Lübeck: Das desolate Umfeld von St. Marien soll neu gestaltet und, in Anlehnung an die historisch enge Bebauung, durch den Bau eines Gemeindezentrums stadträumlich wieder gefasst werden. Das Ergebnis des kürzlich abgeschlossenen Gutachterverfahrens wird in der Hansestadt kontrovers diskutiert. Endlich ein Entwurf, der unaufgeregt und würdevoll zugleich die Marienkirche rahmt, sagt der Lübecker Architekt Klaus Brendle, der Kirchengemeinde und Stadt bei dem Verfahren beraten hat. Hingegen kritisiert Dieter Schacht von der „Bürgerinitiative Rettet Lübeck' eine ganze Reihe von städtebaulich verfehlten Vorgaben. Zwei Positionen.

12. Januar 2007 - Dieter Schacht, Klaus Brendle
Seit den Kriegszerstörungen der Lübecker Altstadt im Jahr 1942 gab es eine Vielzahl von Wiederaufbau-, Struktur-, Entwicklungs- und Sanierungsplänen, Verkehrskonzepten, Kolloquien und auch mehrere Wettbewerbe, die sich speziell mit dem Lübecker Markt und dem Umfeld der Marienkirche auseinandersetzten. Den letzten Ideenwettbewerb lobte die Hansestadt Lübeck vor zehn Jahren anlässlich der Umnutzung des Postareals am zentralen Markt aus. Fünf der 83 eingereichten Beiträge versah die Jury mit Preisen. Realisiert wurde keiner davon. Anstelle der ehemaligen Hauptpost steht heute der Kaufhausneubau von Christoph Ingenhoven (Heft 14/2005) am Markt. Überraschung löste nun das Ergebnis des im Oktober vergangenen Jahres entschiedenen kooperativen Gutachterverfahrens „Umfeld Marienkirche' aus. Unter den sechs Teilnehmern, die vom Kirchenvorstand gemeinsam mit Vertretern des Lübecker Gestaltungsbeirats ausgewählt worden waren, befand sich bedauerlicherweise keiner der Preisträger von 1996 - obwohl die Aufgabenstellung in beiden Verfahren nahezu identisch war. Gefragt war eine „städtebauliche Gesamtkonzeption für die Gestaltung der Straßen-, Platz- und Freiflächen im Umfeld der Marienkirche einschließlich eines Neubauentwurfs für den nordwestlichen Bereich des Kirchenplatzes'. Entlang der Straße Schüsselbuden zog sich bis 1942 eine schmale Zeile Bürgerhäuser, und an der Ecke Mengstraße stand - bis 1967 noch als Ruine - die spätgotische Kapelle „Maria am Stegel'. Den Verlust dieser städtebaulichen und topografisch bedeutsamen baulichen Einfassung des Kirchenareals gilt es zu beheben. Anlass für das Verfahren jedoch ist die Absicht des Kirchenvorstandes, sich von dem denkmalgeschützten Marienwerkhaus südlich der Kirche, dem jetzigen Gemeindezentrum, zu trennen. Stattdessen soll ein schwellenarmes „offenes' Gemeindezentrum nordwestlich der Kirche entstehen. In diesem Zuge ist vorgesehen, den Haupteingang auf der Südseite der Kirche an ihre Westseite - die Turmfassade - zu verlegen. Die Teilnehmer setzten sich engagiert mit den teilweise widersprüchlichen Vorgaben auseinander und gelangten zu konträren Vorschlägen. Der Münchner Architekt Franz Riepl, der nach einer Überarbeitungsphase mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde, verteilt das Raumprogramm auf drei separate Gebäude. Mit einem wird der Zugang zum südlichen Marienkirchhof verengt, die beiden anderen bilden die Ecke an der Mengstraße mit einem Treppendurchgang. Die Turmfassade bleibt nahezu unverstellt. Dieser Vorschlag entspricht am ehesten der vom Kirchenvorstand angestrebten Nachhaltigkeit, das heißt auch einer zukünftig möglichen Fremdnutzung, und soll als Leitlinie für eine Realisierung weiterverfolgt werden. Die Vorschläge, die das Raumprogramm in einer straßenbegleitenden Bebauung am Schüsselbuden konzentrieren, erwiesen sich wegen des geringen Abstands zur Kirchenfassade als unrealisierbar. Ohne Reduzierung der Straßenbreite ist eine Stadtbildreparatur auf den alten Baufluchten einfach nicht möglich. Der Versuch, das Verkehrskonzept diesbezüglich zu ändern, wurde aufgrund der stringenten Vorgaben von keinem der Architekten unternommen. Auch die Neuorganisation des Verkehrs speziell für den südlichen Marienkirchhof - ein Teil der Aufgabenstellung - ist bei der Bearbeitung erst gar nicht thematisiert worden. Dieser Freiraum, der von jeher die Verknüpfung zwischen Haupteingang der Marienkirche und Marktplatz darstellt, droht bei der Verlegung des Haupteingangs völlig zu veröden. Es ist zu bedauern, dass der Schwerpunkt der gestalterischen Überlegungen nicht auf der Beseitigung der Defizite dieses städtischen Raums ausgerichtet war - ebenso wenig wie auf die Modernisierung des Marienwerkhauses als Gemeindezentrum anstelle eines Neubaus, auf die Wiederherstellung alter Wegebeziehungen zum Markt, auf die Beibehaltung des südlichen Haupteingangs der Marienkirche und auf die Öffnung der gegenüberliegenden Rückfassaden. Dieter Schacht

Als die Stadt Lübeck 1995 beim Wettbewerb zur Neubebauung der Marktwestseite auch das Umfeld von St.Marien mit einbezog und hierfür bauliche Ideenvorschläge wünschte, konnte sie nicht ahnen, dass die Kirchengemeinde zehn Jahre später ein Raumprogramm aufstellen würde, um genau diese Flächen vor Marien's Westwerk mit einem Gemeindehaus zu bebauen. Seit der Beseitigung der Kriegsruinen lag die Fläche leer und brav bepflastert im Fallwind der hohen Kirchtürme, verengt ob der Verkehrsansprüche der Nachkriegszeit. Die Anforderungen an eine zeitgemäße Gemeindearbeit und der durch jährlich fast eine Million Besucher entstandene Kommunikationsbedarf beförderten Überlegungen, aus dem benachbarten Marienwerkhaus auszuziehen und noch näher an das Kirchenschiff zu rücken, mit einladender Architektur neue Position zu beziehen und - mit angeregt von Vorschlägen der Künstlergruppe um Rosemarie Trockel - ein wenig Stadtreparatur zu betreiben. Diese Anliegen wurden von der Kirchengemeinde an die Bauverwaltung herangetragen und fanden dort Unterstützung. Bietet sich doch nicht oft ein Eigentümer an, für einen solch schwierigen Ort einen sorgfältigen Wettbewerb auszuloben und namhafte Büros Lösungen ausarbeiten zu lassen. Die Form des nichtanonymen „kooperativen Gutachterverfahrens' gab der Kirchengemeinde, der Bauverwaltung und dem Preisgericht unter Vorsitz von Heinz Hilmer (Berlin/ München) genügend Zeit, stufenweise und im Dialog mit den sechs Büros verschiedene Lösungen zu erkunden und deren Ausarbeitung zu begleiten. Am Ende überzeugte der Entwurf von Franz Riepl aus München mit einem Gebäudeensemble, das entlang der Mengstraße die „großen Linden' - Überbleibsel einer Grünanlage aus dem 19. Jahrhundert - stehen lässt oder diese wahlweise mit Klein bau - ten, die an die historischen Brotschrangen erinnern, bausteinartig verlängert. Die Verkehrstrassierung der Wiederaufbaujahre und die Anforderungen jetziger Stadtpolitik erlauben keinen Rückbau der Straße Schüsselbuden auf die mittelalterliche „Enge'. Der Auslobungstext lässt dennoch ein Vorrücken an der Kreuzung Schüsselbuden/Mengstraße in den Straßenraum und eine Fußwegüberbauung entlang dem schmalen Streifen vor St. Marien zu. Diese Option zur Straßenprofil-Verengung griff Riepl in seinen Gebäuden auf, von denen ein kleineres den Marienkirchhof mit Café, Kirchenladen und Infozentrum räumlich schließt und zwei weitere mit Gemeinde- und Büroräumen bis um die Ecke in die Mengstraße hinein das Westwerk asymmetrisch einfassen; dazwischen liegt ein kleiner erhöhter Platz vor dem zu aktivierenden Westportal. Letzteres war, unter anderem aus liturgischen Gründen, ein Wunsch der Ausloberin. Architektonische Details wie etwa die Höhe der Arkaden überzeugten das Preisgericht nicht, wohingegen es die Entwicklungsfähigkeit des städtebaulichen Konzeptes hervorhob. Im Vergleich hierzu entwickelten Lederer Ragnarsdóttir Oei mit Arkaden zwischen den Gebäuden ein stringentes „Leitmotiv' mit leichtem, expressivem Charakter, welches aber nach Meinung des Preisgerichts eine zu eigensinnige Präsenz gegenüber der Kirche einnimmt. Bei Kahlfeldt Architekten wurde zwar die eigenständige Hervorhebung des Kirchareals gesehen, aber die etwas starre Anordnung der Bauten kritisiert. Bei der Betrachtung des Wettbewerbsergebnisses tritt, wie so oft, die Gestaltung der Freiräume in den Hintergrund. Riepl schlägt für große Teile des Areals eine raue Oberfläche vor, auch unter Einbeziehung der im Marienkirchhof überlieferten beiläufigen Pflasterung, sowie gehfreundliche Zuwege. Hier spiegelt sich die aus den Riepl'schen Arbeiten bekannte materiell-ruhige Zurückhaltung wider, die auch angemessene Lösungen im Hinblick auf Details und Material erwarten lässt. Der gegenwärtige Zustand der Freiräume um St. Marien ist desolat, teils fehlgenutzt, teils belanglos-ordentlich. Mit der Architektur des Preisträgers werden neue Zwischenräume wie der zwischen der südlichen und westlichen Fläche ausgeformt, Übergänge in den städtischen Raum formuliert, und dem Wunsch der Kirche nach dem neu zugänglichen Westportal wird entsprochen mit der kleinen Vorfläche, abgehoben und geschützt vor dem Verkehr. Ob die Linden im Nordosten nun fallen oder bleiben, muss in Lübeck noch diskutiert werden. Der Riepl'sche Entwurf lässt beides zu und belegt damit seine unaufgeregte Haltung rund um Marien - fast so, wie zuvor die kleinen Wohn- und Geschäftshäuser am Fuße der beiden Türme gewirkt haben mögen. Klaus Brendle

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