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dérive 26
Sofia, Banlieus, Broadacre City, Guantanamo, Kreative Milieus, Stadtaussenpolitik
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zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Spatial Practices as a blueprint for Human Rights violations

3. Februar 2007 - Markus Miessen
Die Vereinigten Staaten engagierten sich in zwei unterschiedlichen Konflikten, Operation Enduring Freedom (OEF) in Afghanistan und Operation Iraqi Freedom (OIF) im Irak. Die Rigorosität, mit der der Präsident dabei zu Werke ging, hatte zur Folge, dass Taliban- und Al-Qaida-Kämpfern der Schutz durch die Genfer Konventionen verwehrt wurde.[1] Schlesinger Report

Eine Anwendung des Völkerrechts als strengste Methode der Architekturkritik ist noch nie dringlicher gewesen als heute.
Auf Computermonitoren und an Zeichentischen ausgeheckte Verbrechen hinsichtlich der Gestaltung der gebauten Umwelt machen es zum ersten Mal in der Geschichte erforderlich, dass Architekten/Planer auf die Anklagebank eines internationalen Gerichtshofes gesetzt werden.[2] Eyal Weizman

Der folgende Essay erörtert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Er widmet sich der Frage, inwieweit räumliche Bedingungen die bewusste Verletzung von Menschenrechten beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen. Nur wenige Jahre nach Anbruch des 21. Jahrhunderts hat ein Schwinden des öffentlichen Vertrauens in die politischen Entscheidungsprozesse und die daraus resultierende Politik einer anmaßenden universellen Ethik aus abgedroschenen Platitüden den Weg bereitet. Insbesondere nach 9/11 kann man bei PolitikerInnen in zunehmendem Maße die Bereitschaft erkennen, die Inszenierung und die Werkzeuge der Raumplanung zu verändern, um Mikroklimata zu erschaffen, die nicht an Recht und Gesetz gebunden sind. Es gibt Beweise dafür, dass die Raumplanung als ein Mechanismus benutzt wird, mittels dessen Raum in eine strategische Waffe zur physischen Bestrafung umfunktioniert wird. Gleichzeitig kann man eine Rückbesinnung auf Themen wie Repräsentation und psychologische Rahmenbedingungen sowie eine zunehmend monotheistisch geprägte Politik beobachten.

Im Jahre 2004 interpretierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben den von den USA geführten Krieg gegen das Böse neu und charakterisierte diesen als eine symbolische Geste mit dem Ziel einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft. Zwei Monate nach den Anschlägen vom September 2001 autorisierte die Bush-Regierung – inmitten einer von ihr als nationaler Notstand empfundenen Situation – die uneingeschränkte Verhaftung von AusländerInnen, die terroristischer Aktivitäten verdächtigt wurden. Diese Politik muss laut Agamben als „Ausnahmezustand“[3] verstanden werden, als eine machtvolle Strategie, die es ermöglicht, eine neuzeitliche Demokratie in eine zivile Diktatur umzuwandeln. Agamben vertritt die These, der eigentlich nur als vorübergehende Maßnahme gedachte Ausnahmezustand sei nunmehr zu einem festen Bestandteil des amerikanischen Alltags geworden.

Als Präsident George W. Bush seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin eine TV-Botschaft zukommen ließ[4], in der er betonte, wie wichtig es sei, auch in Kriegszeiten die Grundprinzipien der Demokratie zu beherzigen, da schien Bush darüber besorgt, dass Putin nach dem Massaker von Beslan[5] eine Intensivierung und Stärkung der „Vertikalität der Macht“[6] angekündigt hatte. Seither hat der amerikanische Präsident jedoch immer wieder hervorgehoben, dass die alten Regeln und internationalen Rechte in Kriegzeiten – die seinem derzeitigen Verständnis nach weiterhin herrschen – nicht mehr anwendbar seien und deshalb vorübergehend außer Kraft gesetzt werden könnten.

Diese Entwicklung bereitet zweifellos nicht nur den Boden für einen Krieg, der keinerlei auf bewiesenen Fakten gründender Rechtfertigung bedarf, sondern auch für eine gegen den Terrorismus gerichtete Politik, die sich nicht um dessen mögliche Ursachen beziehungsweise dessen Verhinderung kümmert. Statt dessen verstärkt sie eine Politik, die bereits in Kraft gewesen war, bevor die Zwillingstürme einstürzten: „Der Krieg gegen den Terrorismus muss stets in Anführungszeichen gesetzt werden, denn es handelt sich dabei nicht um einen Krieg im herkömmlichen Sinn – es gibt keinen nationalen Feind, keine Truppen, keine territorialen Ziele als solche.“[7] Statt die Ursachen zu bekämpfen, hatte die US-Regierung eine darauf abzielende multilaterale Politik schon viel zu lange blockiert. Diese Politik der Vereinigten Staaten erwies sich schließlich als Bumerang und verleitete – angeheizt von irrationalen Motiven, die auf die Überrumpelung durch den Feind zurückzuführen waren – zu übereilten Schlussfolgerungen. Schon 1992 hatte die CIA-Zentrale zahllose Überseetelegramme aus Afghanistan und Pakistan empfangen. Der Verbindungsmann der CIA-Außenstelle in Islamabad hatte seine Vorgesetzten darüber informiert, dass Afghanistan ein Zentrum des internationalen Terrorismus zu werden drohte.[8] Doch 1992 hatten diese Informationen keinerlei Reaktionen zur Folge.

Heute werden, gemäß dem neuen Verständnis von Geopolitik, Rechte dem Wunsch nach Sicherheit und umfassender Kontrolle untergeordnet. Vor diesem Hintergrund wird Terror kurzerhand mit Krieg gleichgesetzt – und Krieg rechtfertigt nun einmal die Aufhebung von Bürgerrechten.

Berücksichtigt man diese Entwicklung, so ist es nicht verwunderlich, dass die zahllosen in Camp X-Ray & Delta (Guantanamo Bay, Kuba), im Haftzentrum auf dem Flughafen von Bagram (Afghanistan), im Gefängnis von Abu Ghraib (Irak) sowie in Gefängnissen in diversen Drittländern inhaftierten Personen in Territorien verbracht worden sind, wo die Einhaltung der Menschenrechte nicht überwacht wird – entsprechend einer Direktive des Weißen Hauses, der zufolge Terrorverdächtige nicht den Schutz genießen, den Kriegsgefangene gemäß den Genfer Konventionen erwarten dürfen. Doch in den Allgemeinen Bestimmungen des „Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen“[9] wird ein völlig anderer Kodex umrissen. Dort heißt es klipp und klar, dass sich die Vertragsparteien verpflichten, das Abkommen „unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen“[10], und es gibt dort auch eine unmissverständliche Definition des Begriffs Kriegsgefangener. Demnach sind Kriegsgefangene „in Feindeshand gefallene Personen“, zu denen auch „Mitglieder anderer Milizen und Freiwilligenkorps“ zählen, „einschließlich solcher von organisierten Widerstandsbewegungen, die (...) außerhalb oder innerhalb ihres eigenen Gebietes, auch wenn dieses besetzt ist, tätig sind.“[11] Um die Genfer Konventionen zu umgehen, konnte man die gefangenen Individuen und Gruppen daher in Territorien verbringen, die sich nicht an die Konventionen halten oder die nicht unter deren Jurisdiktion fallen. Und so begann die US-Regierung mit der Errichtung räumlicher Konstrukte, welche – ihrer Ansicht nach – keiner übergeordneten Autorität rechenschaftspflichtig sind.[12]

Zu dieser Methode der Erschaffung rechtsfreier Räume gehört auch eine als „außergewöhnliche Überstellungen“[13] bezeichnete Praxis. Im April 2005 veröffentlichte Human Rights Watch eine Zusammenfassung von Beweisen für die von US-Geheimdiensten und -Streitkräften praktizierte Misshandlung von Gefangenen im Irak, in Afghanistan und auf Kuba sowie für die Existenz weiterer, geheimer CIA-Gefängnisse.[14] Die US-Regierung gibt offen zu, dass sie „diplomatische Zusicherungen“ von Staaten anstrebt, in denen Folter gang und gäbe ist – eine Art Versprechen, mit dem ein Staat dem anderen zusichert, er werde im Falle eines bestimmten Individuums eine Ausnahme von der sonst allgemein üblichen Anwendung der Folter machen. Ein solches Vorgehen birgt zutiefst verstörende Implikationen. Der Vorschlag, derlei territoriale und rechtliche Schutzinseln zu erschaffen, veranschaulicht die unerlässliche Funktion, die dem Raum in dieser Gleichung zukommt, und läuft im Grunde auf eine bewusste Hinnahme des diese Inseln umgebenden Ozeans von Misshandlung und Folter hinaus.[15] Auch wenn ausländische Regierungen oder die Vereinten Nationen solche Folterpraktiken verurteilt haben, ist es erwiesen, dass die USA Häftlinge räumlich transferiert haben, während man gleichzeitig eine Flut von neuen rechtlichen Dokumenten veröffentlicht hat, die gewisse Verhaltensweisen innerhalb des Militärs und der CIA absegnen. Diese Technik ist jedoch weder neu noch wird sie allein von den USA praktiziert. Die britische Regierung soll laut Zeitungsberichten in Verhandlungen mit den Regierungen von Algerien und Marokko stehen – zwei Länder, in denen Misshandlung und Folter an der Tagesordnung sind –, da sie Terrorverdächtige dorthin transferieren möchte.[16] In den Augen der VerfasserInnen solcher rechtlichen Dokumente ist zum Beispiel ein Krieg gegen den Irak rechtmäßig, weil dieser einen Fall von Selbstverteidigung darstellt und, darüber hinaus, eine Maßnahme im Interesse der gesamten Menschheit.

Das Verbrechen und seine Vorgeschichte

Wie kann unsere Regierung glaubhaft vom Übel der Folter in Ländern wie Ägypten, Syrien und Usbekistan sprechen, wenn sie gleichzeitig wissentlich Vereinbarungen mit den schlimmsten Elementen jener Regime abschließt, um Menschen in genau die Kerker zu verfrachten, wo Gefangene gefoltert werden?[17] Tom Malinowski, Direktor der
Washingtoner Advokatur von Human Rights Watch

Als Giorgio Agamben sowohl vor wie nach 9/11 die Grundprinzipien der westlichen Gesellschaft erörterte,[18] malte er ein düsteres Bild, das seine Eindringlichkeit aus rechtlichen Dokumenten bezog, die bis in die Zeit des Römischen Imperiums zurückreichten. Beeinflusst von Hannah Arendts Werk über den Totalitarismus und die institutionelle Form von Rechten[19], versucht Agamben einen historischen Prozess nachzuzeichnen, der kein singuläres Phänomen darstellt, sondern eine Entwicklung in Richtung seiner Hauptthese, der zufolge es eine unvorhergesehene Übereinstimmung zwischen Demokratie und Totalitarismus gibt. Im römischen Rechtssystem wurde jemand, der die Republik bedrohte, als Staatsfeind behandelt: als ein homo sacer – ein Mensch ohne Rechte –, als eine bloße Kreatur, mit der man kurzen Prozess machen konnte.[20]

In jüngerer Zeit ist es der US-Regierung gemäß dem im Oktober 2001 in Kraft getretenen Patriot Act erlaubt, jedes Individuum in Gewahrsam zu nehmen, das im Verdacht steht, die nationale Sicherheit zu bedrohen. Doch George W. Bushs neue Militärordnung macht aus den Menschen, die in Camp X-Ray & Delta in Guantanamo inhaftiert sind, rechtlose Individuen, die angesichts ihres territorialen, das heißt räumlichen Status von jedem juristischen Beistand abgeschnitten sind. Wie so viele andere politische Gefangene im Verlauf der Geschichte haben diese Individuen ihre juristische Identität eingebüßt, nachdem man sie einer Reihe von politischen und räumlichen Maßnahmen unterworfen hatte. Im Verlauf der Geschichte haben Kulturen das, was sie als böse erachteten, stets jenseits der Grenzen ihres eigenen Territoriums angesiedelt. Sobald man erkennt, dass die Ursachen für so genannte böse Taten im Innern des eigenen Territoriums lokalisiert werden können, verweist man zur eigenen Rechtfertigung auf vorhandene grausame Bilder aus dem Ausland.

Im Falle von Abu Ghraib können wir das Bild vom kolonialen Herrenmenschen erkennen, doch der Raum selbst wird dabei austauschbar. Und das Gleiche gilt für seine historischen Bezugspunkte. Einer der Gründe für die überwältigende öffentliche Reaktion könnte neben anderen schlicht und einfach darin bestehen, dass man sich an bereits vorhandene Bilder erinnert fühlt. Statt einen Schock zu bewirken, der auf ihren spezifischen Inhalt zurückzuführen ist, könnten sich die aus Abu Ghraib stammenden Bilder mit bekannten Bildern aus dem 20. Jahrhundert überlappen. Vor diesem Hintergrund ist es leicht, auf die enzyklopädischen Register des Bösen zurückzugreifen, will man das Bild im eigenen Kopf unterbringen. Die Exzesse von bösen Taten würden immer zwei Dinge gemeinsam haben: Sie würden an ein spezifisches, klar umrissenes Territorium gebunden sein, an territoriale Enklaven, die ein Haus des Bösen darstellen, und sie würden Bilder der unterworfenen Subjekte präsentieren. In dieser Pornografie der Gewalt würde sich zwar die Bühne ändern, doch die Choreografie bleibt stets die gleiche.

Räumliche Enklaven und die Rückkehr radikaler Bestrafungen

Die Folterungen in Abu Ghraib[21] scheinen in einer engen Beziehung zu dem zu stehen, was Michel Foucault als das Zeremoniell der Strafe[22] beschrieben hat. In Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses veranschaulicht Foucault, inwieweit die physische Bestrafung zum verborgensten Teil der Strafpraxis geworden ist – „die Justiz“, so schreibt er, „übernimmt also nicht mehr öffentlich jene Gewaltsamkeit, die an ihre Vollstreckung geknüpft ist“.[23] Im Unterschied zu früheren historischen Epochen hat sich im 20. Jahrhundert, wie er meint, das Spektakel der Bestrafung auf den Gerichtsprozess verlagert. Doch wenn es keinen Prozess gibt, so gibt es auch nichts zu sehen. Das Verschwinden der öffentlichen Bestrafung geht einher mit einem Rückgang des Spektakels.

Foucaults Behandlung der Beziehung zwischen einer neuen Machtform und einer neuen Art von spezialisierten Strukturen betrachtete beides als Folge und Voraussetzung einer im 18. Jahrhundert beginnenden Herausbildung von Formen einer disziplinierenden Macht: „Macht gilt somit als eine prinzipiell negative, als eine durch Strafe definierte Beziehung zwischen dem dominanten und dem unterworfenen Subjekt.“[24] Diese auf Überwachung basierende, individualisierende und transformierende Macht wird definiert durch die Strafvollzugsanstalt mit ihren die Insassen räumlich voneinander isolierenden Zellen und mit einer zentralen Struktur der Beobachtung und Kontrolle.

Was Hirst als die wesentlichen Charakteristika von Benthams Panoptikum – „eine Idee in der Architektur“[25] – beschreibt, also das Prinzip, dem zufolge viele von einigen wenigen beherrscht werden können, lässt sich bis zu den historischen Anfängen des Gefängnisbaus zurückverfolgen. Das beste Beispiel dafür dürfte der Liberty Tower von Abu Ghraib sein, eine zentrale, das gesamte Areal überblickende Überwachungseinrichtung: ein Raum, der nicht nur eine bestimmte korrelative Perspektive ermöglicht, sondern auch Machtverhältnisse versinnbildlicht. Obwohl Foucaults Betrachtungen zum Panoptikum aus den siebziger Jahren stammen, scheint sein Werk heute wichtiger denn je zuvor – er analysiert die Beziehung zwischen Raum und Macht. Darüber hinaus könnte das, was wir gegenwärtig erleben, als ein umgekehrtes Szenario dessen interpretiert werden, was Foucault als die im 19. Jahrhundert einsetzende und sich während der letzten zweihundert Jahre nach und nach vollziehende Humanisierung der Strafjustiz beschreibt – „weniger Grausamkeit, weniger Leiden, mehr Milde, mehr Respekt, mehr ›Menschlichkeit‹“.[26] „Das Richten“, so resümierte er, „bedeutete die Feststellung der Wahrheit eines Verbrechens, die Bestimmung seines Urhebers und die Verhängung einer gesetzlichen Sanktion.“[27] Und genau diese Verhängung einer gesetzlichen Sanktion ist derzeit aufgeschoben beziehungsweise ganz und gar eingestellt worden.

2004 wurde dem Magazin The New Yorker ein von Major General Antonio M. Tabuga verfasster Bericht zugespielt, der eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht war.[28] Die darin beschriebenen räumlichen und institutionellen Verhältnisse in Abu Ghraib waren schockierend. Laut Tabuga kam es regelmäßig zu Fällen von „sadistischer, eklatanter und willkürlicher krimineller Misshandlung.“[29] Was Foucault einst, mittels Benthams Panoptikum, als eine subtile Form von Kontrolle im Mikroklima eines Gefängnisses erklärt hatte – die an den Prinzipien der Aufklärung orientierte Institution sperrt all diejenigen weg, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen –, hat sich in ein Szenario verwandelt, bei dem es weder die von ihm beschriebene Kontrolle auf der Mikroebene noch eine voll funktionsfähige rechtliche Struktur gibt, die möglicherweise in der Lage wäre, mit dieser parasitären Beziehung zwischen Politik und Raum umzugehen.

Um diese Wirkung von institutionalisiertem Raum und den ihm immanenten Machtverhältnissen zu veranschaulichen, führte Philip Zimbardo – ein emeritierter Psychologieprofessor der Stanford University – 1971 ein Experiment durch, mit dem er einer einfachen Frage auf den Grund gehen wollte: Was geschieht, wenn man gute Menschen in einen bösen Raum steckt? Im Rahmen dieses Experiments wurden studentische Freiwillige nach dem Zufallsprinzip dazu bestimmt, in einem simulierten Gefängnis entweder die Rolle von Wärtern oder die von Gefangenen zu übernehmen. Obwohl alle Teilnehmer vorher untersucht und für geistig gesund befunden worden waren, entwickelten sich die Wärter in kürzester Zeit zu Sadisten, während die Gefangenen starke Symptome einer Depression an den Tag legten. Nach sechs Tagen musste die Untersuchung abgebrochen werden, um schlimmere Misshandlungen zu verhindern. Das Experiment erhellte, wie die Macht sozialer Konstrukte persönliche Identitäten und Wertvorstellungen verändert, da die Studenten in ihren Rollen als Wärter und Gefangene situationsbedingte Identitäten annahmen. Als Zimbardo der Edge Foundation 2005 ein Interview gab, meinte er: „Um die Misshandlungen in diesem irakischen Gefängnis verstehen zu können, muss man als Erstes die situationellen und systematischen Kräfte untersuchen, die auf diese Soldaten eingewirkt haben, wenn sie während der Nachtschicht in diesem kleinen Horrorladen Dienst hatten.“[30] Laut Zimbardo veranschaulichte sein Experiment den Wettstreit zwischen den institutionellen Mächten auf der einen Seite und dem Widerstandswillen des Individuums auf der anderen. Sexuelle Erniedrigung war für die Wärter von Abu Ghraib offenbar ein probates Mittel, um Kontrolle über die Gefangenen auszuüben, und dies illustriert, dass die Beziehung zwischen Lust und Schmerz auf einem räumlich autonomen und seinen eigenen Regeln gehorchendem Territorium nicht mehr an die Gebote der Menschlichkeit gebunden ist: „Sobald ein Gefängnis von einem Schleier der Geheimhaltung umgeben ist – und dies trifft auf die meisten Gefängnisse zu –, ist dort buchstäblich alles möglich.“[31]

Räumliche Autonomie als die Blaupause des Bösen

Camp X-Ray ist eine Insel auf einer Insel auf einer Insel – eine abgeriegelte Zone innerhalb eines Areals, welches wiederum vom Rest der Insel Kuba abgeriegelt ist. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die USA Terrorverdächtige vorzugsweise an diesen Ort schaffen: Es ist unmöglich, dorthin zu gelangen, außer man wird vom US-Militär eingeflogen.[32] BBC-Bericht, 2004

Die auf Kuba gelegene Marinebasis Guantanamo Bay ist im Wesentlichen ein Territorium, auf dem Gefangene unbegrenzt festgehalten werden können, ohne dass US-Gerichte eine wie auch immer geartete Interventionsmöglichkeit hätten. Manche dieser Gefangenen befinden sich dort bereits seit 2001. Da Guantanamo Bay nicht als amerikanisches Hoheitsgebiet gilt, hat keiner der dort Inhaftierten die Rechte, die jemandem zustehen würden, der auf amerikanischen Boden gebracht wird. Im Unterschied zu den auf amerikanischem Territorium gelegenen Militärbasen ist Guantanamo der perfekte Ort zur Durchsetzung der Strategie einer Verhinderung der juristischen Überprüfung des Rechtsstatus der Gefangenen. Auf dem amerikanischen Festland gelegene Einrichtungen kamen als Gefängnis nicht in Betracht, da sie unter die Jurisdiktion des 9th U. S. Circuit Court of Appeals gefallen wären.[33]
Amnesty International hat Guantanamo mit den unter dem Namen Gulag bekannt gewordenen sowjetischen Lagern verglichen, in denen Widerstand als ein rechtlicher Beweis für die Notwendigkeit der Behandlung angesehen wurde. George W. Bush behauptet, die Gefangenen in Guantanamo würden menschlich behandelt. Die US-Regierung gewährt den Insassen jedoch nicht den Status von Kriegsgefangenen, da sie laut US-Behörden nicht in Uniformen gekämpft und kein fest umrissenes, regiertes Territorium repräsentiert haben.[34]

Die räumliche Konstruktion von Camp Delta ist ein Labyrinth aus Zäunen, NATO-Draht und Wachttürmen. Die Mauern bestehen aus Maschendraht, und die Zellen werden von Wellblechplatten gegen die Unbilden des Wetters geschützt. Die Gefangenen verbringen die meiste Zeit in ihren Zellen, wo sie entweder auf dem Fußboden hocken oder auf Schaumstoffmatratzen liegen. Nachts wird das gesamte Areal taghell erleuchtet, damit die Wachen jede Bewegung ihrer Gefangenen verfolgen können. Die Einrichtung eines zusätzlichen, etwa acht Kilometer von Camp X-Ray entfernten Zellenkomplexes wurde Mitte April 2002 abgeschlossen und von Brown & Root Services (BRS) durchgeführt, einer Tochterfirma des Erdölkonzerns Halliburton. Jede dieser Zellen ist 2,5 Meter lang, knapp zwei Meter breit und 2,5 Meter hoch und besteht aus Maschendraht auf einem soliden Metallrahmen. Jeder Gefangene erhält eine Schaumstoffmatratze, eine Decke und eine etwa einen Zentimeter dicke Gebetsmatte.[35] Es handelt sich dabei um ganz bewusst geschaffene Bedingungen, die das Verhalten der Insassen ändern sollen und die bei ihnen Symptome wie chronische Depression, Selbstmordgedanken, zwischenmenschliche Aversion, psychische Störungen und Traumata hervorrufen. Man hat eine physische Umgebung geschaffen, die darauf angelegt ist, Geständnisse zu erzwingen. Es ist ein wesentliches Charakteristikum der Bedingungen in Guantanamo, dass räumliche Komponenten als Werkzeuge der Bestrafung und des Zwangs fungieren. Sobald das erwünschte Ziel erreicht ist – das heißt ein Geständnis des Gefangenen –, werden die räumlichen Bedingungen geändert. Geständige und kooperationswillige Gefangene haben die Chance, als Vorzugshäftling nach Camp Four verlegt zu werden, wo die Insassen in Gemeinschaftsunterkünften leben.

Die Implikationen dieser Art von Outsourcing der Folter und der exterritorialen Inhaftierung in Guantanamo sind immens. Der Raum besitzt dort eine Realität, die nicht nur physische Bedingungen etabliert, sondern auch eine Struktur, die deren Existenz erleichtert: Das Leiden jener Menschen besteht zu einem erheblichen Teil darin, dass sie sich in einem spezifischen Raum befinden, der zu heiß oder zu klein sein kann und der schwere Depressionen, Angstgefühle, Halluzinationen und den Verlust motorischer Fähigkeiten bewirkt.

Angesichts der heftigen Kritik an den räumlichen Bedingungen des Camps kündigte das Pentagon im März 2005 an, man werde Gefangene von Guantanamo in Gefängnisse in Saudi-Arabien, Afghanistan und im Yemen verlegen, ungeachtet der Befürchtungen, dass ihnen dort noch schlimmere Menschenrechtsverletzungen zugefügt werden könnten. Diese Verlegungen würden in etwa der viel kritisierten, als Überstellungen bekannten Praxis entsprechen, mit der die CIA bereits Gefangene nach Syrien und Ägypten transferiert hat.[36] Da den Insassen eine Verlegung in Länder bevorsteht, wo erwiesenermaßen gefoltert wird, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) das Pentagon bereits 2002 darauf hingewiesen, dass die Gefangenen dort unter ähnlichen Haftbedingungen leiden müssten.

Jenseits einer linearen Geschichte

Berücksichtigt man solche räumlichen Zustände und die daraus resultierenden Verhaltensmuster, so kann man nicht länger so einfache Fragen stellen wie: Warum ist so etwas möglich, wer ist dafür verantwortlich, was hat das Ganze zu bedeuten? Obgleich das erkannte Problem physischer Natur ist, würde eine Veränderung der räumlichen Komponenten nicht genügen, um die beschriebenen Übergriffe zu unterbinden.

Es stellt sich die Frage, was uns dazu bewegt, Gehorsam zu üben. Repräsentiert der Soldat sich selbst und kann er für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden oder trägt er auch Verantwortung für andere – vielleicht sogar für das System selbst? Ist er bloßer Befehlsempfänger, der jede persönliche Schuld von sich weisen kann? Dies bedeutet den Verzicht auf die eigene Handlungsfähigkeit und verwandelt letztlich jeden grausamen Akt in eine Banalität. Wie entwickelt sich das individuelle Urteilssystem und was bedeutet es, sich einer „höheren Ordnung“ wie Religion unterzuordnen, die als Bezugsrahmen gilt und der man sich verantwortlich fühlt? Führt diese höhere Ordnung dazu, dass man als Individuum oder gar als Regierung Einrichtungen wie z. B. den Gerichtshof in Den Haag oder die Vereinten Nationen als unzuständig oder gar unzulässig einstufen und bezeichnen kann?

Um nicht immer wieder die selben Erzählungen, die mit Konflikträumen verknüpft scheinen, als Basis für das Sprechen über diese Räume und deren Beschreibung zu verwenden, weil sie neue Ansätze erschweren oder gar verhindern, sollte stattdessen eine Plattform für ein rationales, offenes, auf die Zukunft bezogenes Denken angestrebt werden. Als Beispiel für einen solchen Zugang liefert Udi Aloni, ein in New York lebender israelischer Künstler, der Local Angel drehte, einen Dokumentarfilm über die gegenwärtigen Widersprüche im palästinensisch-israelischen Konflikt.[37] Er bediente sich einer Technik, die den Zusammenhang zwischen konkretem politischen Kampf, örtlichen Verhandlungen und der Bedeutung räumlicher Überlappungen erhellte. Indem er spezifische ländliche und städtische Gegebenheiten näher heranzoomte, gelang es ihm, den Mythos vom Religionskrieg als der einzigen Form kulturellen Inhalts in der Region zu zerstören. Statt dessen zeigt er einen Raum, wo eine säkulare Menschlichkeit möglich ist, ein Mosaik von Fragmenten, deren Zusammenhalt sich dadurch ergibt, dass der Filmemacher die Geschichte außer Acht lässt, die sonst immer als die einzig wahre vorausgesetzt wird.

Auf vergleichbare Weise hat Eyal Weizman – ein in Tel Aviv und London lebender Architekt und Sozialforscher – für seine Publikation A Civilian Occupation: The Politics of Architecture[38] im Auftrag der Menschenrechtsorganisation B´tselem die planerischen Aspekte der israelischen Besetzung des Westjordanlandes untersucht. Ausgehend von seiner Theorie, wonach es uns an Vertikalität fehle, gelangt er zu dem Ergebnis, dass keiner von uns über eine zusammenhängende mentale Landkarte des israelisch-palästinensischen Konflikts verfügt: Von den Siedlungen bis zum Abwassersystem, von der Archäologie bis zum militärischen Flugverkehr bietet seine Interpretation eine rationale, durch und durch überzeugende Analyse davon, wie sich Ideen über Macht und Planung mit Politik überschneiden, um genau die Räume herauszubilden, in denen sich der israelisch-palästinensische Konflikt entwickelt. Diese präzise Untersuchung von Komponenten, die ein in sich geschlossenes Gewebe bilden, ist genau das, was bei der Beschreibung des Gefängnisraums – bislang – noch gefehlt hat.
Anmerkungen:
[1] James R. Schlesinger: Final Report of the Independent Panel to Review DoD Detention Operations, Arlington (VA), August 2004, S. 79.
[2] Eyal Weizman: The Evil Architects Do, in: Rem Koolhaas (Hrsg.): Content, Taschen, Köln 2004, S. 60.
[3] Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004.
[4] Paul Lersch, „Demokratie im Ausnahmezustand – Die verhüllte Freiheitsstatue“, in Spiegel Online, 27. Oktober 2004.
[5] Am 1. September 2004 brachten TerroristInnen in einer Schule im südrussischen Beslan 1300 Geiseln in ihre Gewalt, ein Terrorakt, der sich in erster Linie gegen Kinder richtete. Hunderte von Kindern verbrachten 53 Stunden ohne Wasser und Nahrung in einer überfüllten, stickigen Turnhalle, in der überall Sprengsätze angebracht waren. Sie mussten miterleben, wie Familienmitglieder, Freunde und LehrerInnen misshandelt und ermordet wurden.
[6] Starke Präsidentschaft und Präsidialregierung; Ernennung der Oberhäupter der regionalen Regierungen durch den Präsidenten; Ernennung der Gouverneure; hierarchische Parteiorganisation; selektive Justiz; staatliche Kontrolle des Fernsehens.
[7] Peter Marcuse: The ,War on Terrorism‘ and Life in Cities after September 11, in: Stephen Graham (Hrsg.): Cities, War and Terrorism – Towards an Urban Geopolitics, Blackwell, Oxford 2004, S. 263.
[8] Steve Coll: Ghost Wars, Penguin, London2005, S. 235.
[9] Die Genfer Konventionen (auch: Genfer Abkommen, Genfer Übereinkommen) bestehen aus vier Dokumenten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz von zunächst 59 Regierungen unterzeichnet wurden. Sie bilden ein völkerrechtliches Vertragswerk, das bestimmte Verhaltensregeln im Kriegsfall bindend festlegt. Sie sind ein Eckpfeiler des humanitären Rechts und sollen die Menschen vor solchen Übergriffen schützen, wie sie sie im Kampf gegen den Nationalsozialismus erdulden mussten. Fast jedes Land hat alle vier Abkommen ratifiziert, darunter auch die Vereinigten Staaten von Amerika.
[10] Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen, Allgemeine Bestimmungen, Artikel 1, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Die Genfer Rotkreuz-Abkommen vom 12. August 1949, Schriften des Deutschen Roten Kreuzes, Bonn 1980, S. 137 (den vollständigen originalen Wortlaut findet man unter http://www.genevaconventions.org/).
[11] Artikel 4 (A. 2.), a. a. O., S. 138.
[12] Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Military_Commissions_Act
[13] Renditions and Diplomatic Assurances – Outsourcing Torture? (s. http://www.hrw.org/campaigns/torture/renditions.htm).
[14] Getting Away with Torture? Command Responsibility for the U. S. Abuse of Detainees, Vol. 17, No. 1 (G), April 2005 (s. http://hrw.org/reports/2005/us0405/).
[15] Yuval Ginbar, Rechtsberater von Amnesty International, zitiert in: The Tacit Acceptance of Torture (s. http://hrw.org/reports/2005/eca0405/4.htm#_Toc100558824).
[16] Diplomatic Assurances Allowing Torture – Growing Trend Defies International Law, 15. April 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/04/15/eu10479.htm).
[17] Tom Malinowski, U.S. State Department 2004 Human Rights Report – Testimony to U. S. House of Representatives, Human-Rights-Watch-Dokument, 18. März 2005 (s. http://hrw.org/english/docs/2005/03/18/usint10347.htm).
[18] In „Homo Sacer“ und „Ausnahmezustand“.
[19] Hannah Arendt: The Human Condition, University of Chicago Press, Chicago 1958.
[20] S. Giorgio Agamben: Homo sacer. Souveräne Macht und bloßes Leben, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2002.
[21] Seymour M. Hersh: Torture at Abu Ghraib, The New Yorker, 3. Mai 2004 (s. auch: http://www.newyorker.com/fact/content/?040510fa_fact).
[22] Michel Foucault: Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses [Paris 1975], Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1976 (aus dem Französischen von W. Seitter), S. 15.
[23] Michel Foucault, a. a. O., S. 16.
[24] Michel Foucault, a. a. O., S. 16.
[25] Paul Hirst, a. a. O., S. 167.
[26] Paul Hirst, a. a. O., S. 167.
[27] Michel Foucault, a. a. O., S. 28.
[28] S. M. Hersh: a. a. O.
[29] ibid.
[30] Philip Zimbardo: You Can´t Be a Sweet Cucumber in a Vinegar Barrel – A Talk with Philip Zimbardo, in: Edge, 19. Januar 2005.
[31] M. B. Stannard: Stanford Experiment Foretold Iraq Scandal – Inmates Got Abused in Psychology Study, in: San Francisco Chronicle, 8. Mai 2004.
[32] Richard Lister: Grim Life at Guantanamo, BBC, 7. Februar 2002.
[33] Siehe Guantanamo Bay – Camp Delta, in: www.globalsecurity.org/military/facility/guantanamo-bay_delta.htm
[34] Bush lässt Alternativen zu Guantanamo prüfen, in: Spiegel Online, 9. Juni 2005.
[35] Siehe: Guantanamo Bay – Camp Delta, a.a.O.
[36] Siehe S. Goldenberg, US Faces Cuban Prison Crisis, in: The Age, 13. März 2005.
[37] Udi Aloni: Local Angel, Theological Political Fragments, London: ICA, 2004.
[38] Eyal Weizman und Rafi Segal (Hgg.): A Civilian Occupation: The Politics of Architecture („The Banned Catalogue“), überarbeitete Auflage, Babel Publishers, Tel Aviv / Verso, London und New York, 2003.

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