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UmBau 22
Wettbewerb! Competition!
UmBau 22
zur Zeitschrift: UmBau
Verlag: ÖGFA

Ein Entwurf, der zu früh kommt

Gesetze der Preisbildung am Beispiel von Le Corbusiers und Pierre Jeannerets Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast

18. Juni 2005 - Anita Aigner
Architekturproduktion spielt sich in der Zeit, in der Zeitgenossenschaft von Ungleichzeitigen wiewohl auch unter Zeitdruck ab und der beste Entwurf ist nichts wert, wenn er zu spät oder zu früh kommt, dazu verdammt, in den Raum des Nichts verstoßen zu werden, wenn er den Geschmack der Auftraggeber oder den »Geist der Zeit« nicht trifft, das heißt den jeweils vorherrschenden Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien nicht entspricht. Dass es möglich ist, einen Nichterfolg einzufahren und dennoch Kapital daraus zu schlagen, ist jedoch im Feld der Architektur so ungewöhnlich nicht. Das Ungebaute ist im Kanon der Architekturgeschichte genauso verankert wie das Gebaute und unausgeführte Projekte, sofern sie in der Fachwelt die dazu nötige Aufmerksamkeit erhalten, vermögen ihren Autoren ebenso zu Ruhm zu verhelfen wie ausgeführte. Zurecht spricht Adolf Max Vogt im Zusammenhang mit dem negativen Ausgang des Völkerbundwettbewerbs für Le Corbusier und Pierre Jeanneret zugleich von der »Demütigung und Glorie« von Genf,(1) und auch Alfred Roth, einer der sechs Mitarbeiter am Wettbewerbsprojekt im Atelier rue de Sèvres, bringt die Niederlage, die er als die »bitterste Episode« im Leben Le Corbusiers bezeichnet, mit dem »kometenhaften Aufstieg des Künstlers« in Verbindung.(2) Dass es ein unfreiwilliger Nichterfolg zu einem »Markstein in der Geschichte der Architektur«(3) bringen, also Eingang in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur finden kann, ist jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.

Es setzt die Architektur als ein relativ autonomes kulturelles Produktionsfeld voraus, das über eigene Gesetze, Profite und Interessen verfügt, ein Universum, in dem weltlicher Erfolg und künstlerischer Wert nicht notwendig in eins gesetzt sind und in dem auch erfolglose (nicht zur Ausführung gelangende) oder »reine« (als Grenzfall der möglichen Form produktiver Tätigkeit – nicht zur Ausführung bestimmte) Produktion,(4) eben weil sie den eigentümlichen, aus der Geschichte der Autonomisierung erwachsenen Ansprüchen folgt, Anerkennung als kostbarste Gegengabe erwarten darf. Dass unausgeführte Projekte eine Kapitalisierung erfahren (ihnen ein immaterieller, nur innerhalb des architektonischen Feldes sich konstituierender und funktionierender Wert zugesprochen wird), setzt nicht nur voraus, dass der Architekt mit seinen Einsätzen die in der Gegenwart angelegte Zukunft des Spielverlaufs antizipiert – er positioniert sich nicht da, wo die anderen schon sind und die Profite einheimsen, sondern wo sie gleich anfallen –, es bedarf auch der Anerkennungs- und Legitimierungsarbeit durch feldinterne Instanzen (KollegInnen, KritikerInnen, KunsthistorikerInnen). Jedenfalls genügt es nicht, die riskanten, auf Positionierung im Feld zielenden Einsätze, die bisweilen unter größten Entbehrungen und gegen die Gesetze ökonomischer Vernunft hervorgebracht werden, einfach nur zu produzieren und sich selbst zu überlassen – sie müssen auch gut platziert, mit Überzeugung vorgetragen, verbreitet und besprochen werden. Vor allem dann, wenn niemand sie haben will.

Ruhm- und Rangsicherung durch Medienarbeit

Was den Punkt der Verbreitung betrifft, so hat bereits Vasari erkannt, dass der Ruhmesmechanismus durch Publizieren planmäßig in Gang gesetzt und gehalten werden kann. Seiner Einschätzung nach hätte Alberti seinen Ruf eher seinen Schriften als seinen Werken zu verdanken, die in Wahrheit nicht besser sind als die anderer Künstler: »Man kann daraus die Erfahrung ableiten, dass Schriften, was den Ruhm und den Klang eines Namens angeht, größte und dauerhafteste Wirkung haben. Denn die Bücher, sofern sie wahrhaftig und nicht lügenhaft sind, wandern leicht von Hand zu Hand und finden allenthalben Glauben.«(5)

Sicherlich verdankt auch Le Corbusier einen großen Teil seines Erfolges der Erkenntnis, dass die Flugbahn der Fama nicht nur von der praktischen Meisterschaft des Architekten, sondern auch maßgeblich von der schriftlichen Übersetzung künstlerisch-architektonischer Absichten und Ambitionen sowie ihrer massenhaften Verbreitung abhängig ist. Selbst aus heutiger Sicht, da aufwändige Buchpublikationen zu einem Standard der Selbstvermarktung geworden sind, nimmt Le Corbusier mit seinen Akten der unmittelbaren Selbstautorisierung eine Sonderstellung ein. Noch bevor er große Bauten vorzuweisen hat, kann der mit ausgesprochenem Orientierungs- und Platzierungssinn ausgestattete Mehrfachbegabte, der vom Kunsthandwerker, Zeichenlehrer, Maler und Kunstkritiker zum international beachteten Architekten avanciert, mit einer beachtlichen Reihe von Publikationen aufwarten, in denen er in apodiktischer und provokanter Sprache, einer Art »Poesie der Gewalt«(6) schrittweise den Bruch mit der vorherrschenden Ordnung vollzieht. Noch unter dem Namen Charles-Edouard Jeanneret publiziert er mit seinem Freund und Malerkollegen Amédée Ozenfant 1918 einen kämpferischen Text mit dem Titel Après le Cubisme (mit dem sie die im Feld der Kunst vorherrschenden Kubisten in die Vergangenheit verweisen), unter dem Pseudonym »Le Corbusier« veröffentlicht er von 1920–1925 in der gemeinsam mit Ozenfant und dem Dichter Paul Dermée herausgegebenen und in 28 Heften erschienenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau seine häretischen Ansichten zu Kunst und Architektur, die sogleich auch in Buchform in der Reihe L’Esprit Nouveau der Editions Crès erscheinen (Vers une architecture, 1923; L’art décoratif d’aujourd’hui, 1925; La peinture moderne, 1925), zudem noch eine (seit längerem in Arbeit befindliche und mehrfach, bis hin zum Wechsel der Standpunkte überarbeitete) ketzerische Schrift zum Städtebau (Urbanisme, 1925). Die in ihrer Bedeutung für das künstlerische Selbstverständnis des Architekten nicht zu unterschätzende Parallelaktion in Sachen bildender Kunst und Architektur, mit der er die Richtung seiner Entwicklung eine Zeit lang in Schwebe hält, entscheidet sich zugunsten der Architektur, nachdem er mit Vers une architecture den Resonanzkörper des architektonischen Universums nachhaltig zum Schwingen gebracht hat und schlagartig bekannt wird. Seine draufgängerische Überzeugungsarbeit als »Theoretiker« wie auch seine vorneweg auf Aufmerksamkeit und Beeindruckung berechneten, spekulativen Entwürfe (Ville contemporaine, 1922) zielen vor allem auf Anerkennung innerhalb der »Community«, nicht zuletzt gerade der arrivierten Kollegen und Kritiker, von denen – dem Gesetz folgend, dass Ruhm nur derjenige spenden kann, der ihn selbst schon besitzt – der größte Legitimationseffekt ausgeht. Deshalb verschickt er auch einzelne Publikationen an ausgewählte Architekten, unter anderen Bruno Taut und Erich Mendelsohn,(7) er versucht aber auch, Industrielle und einflussreiche politische Entscheidungsträger in den Bann zu ziehen, um die Ausarbeitung seiner »Laboratoriumsarbeit« zu finanzieren und die Ergebnisse in der Öffentlichkeit so gut wie möglich zu präsentieren. So gelingt ihm unter anderem ein großer Auftritt auf der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes (1925), auf der er mit seinen urbanistischen Visionen das tradierte Programm des Kunstgewerbes konterkariert.(8)

All die schon geleisteten, ökonomisch sich nicht unmittelbar rechnenden Investitionen, die auf Revolution im Bereich der Architektur abzielen und zugleich darauf, sich im Feld zu positionieren, sämtliche auf Durchsetzung neuer Produktions- und Bewertungsnormen zielenden Akte als Publizist, Buchautor und Vortragender, in denen der als uneigennützig und interesselos wahrgenommene Kampf für eine »wahrere« Praxis den eigentlichen (vom Feld offerierten) Profit verschleiert (nämlich den, sich einen Namen zu machen), sind in Erinnerung zu rufen, will man nun die großen Erwartungen und die Verarbeitung der bitteren Enttäuschung verstehen, die für Le Corbusier mit dem Völkerbundwettbewerb verknüpft sind.

Der Neununddreißigjährige steht nun jedenfalls am Beginn jener Phase seines Berufslebens, da er mit der Verwertung des symbolischen Kapitals rechnen darf, das er mit seinen kämpferischen Wortspenden und spekulativen Entwürfen mühsam verdient hat. Der Bau des Volkshauses der Heilsarmee in Paris (1926) darf als erstes Anzeichen genommen werden und nun, wo mit cinq points (1926) auch eine knappe, die Revolution zusammenfassende Formel gefunden ist, scheint der Zeitpunkt gekommen, um endlich »Großes« zu schaffen und die bereits in kleineren Projekten formulierten Neuerungen im Maßstab eines repräsentativen Großbaus aufgehen zu lassen. Mit fünf Moser-Schülern aus Zürich, die sich unmittelbar nach einem offensichtlich beeindruckenden Vortrag Le Corbusiers im November 1926 im Atelier rue de Sèvres als Helfer eingefunden haben, und einem jungen Architekten aus Zagreb wird das Wettbewerbsprojekt in knapp zwei Monaten unter opferbereiter und letztlich unbezahlt bleibender Einsatzbereitschaft der jungen Mitarbeiter ausgearbeitet.(9) Die achtzehn großformatigen Plandrucke werden rechtzeitig, noch vor dem 25. Jänner 1927 nach Genf geschickt – nicht ohne vor dem Einpacken in berechnender Absicht noch schnell für einen Fototermin arrangiert zu werden. Mit dem »Erinnerungsbild«, das Roth auf Geheiß von Le Corbusier seinem Lehrer schickt, um ihm ein »Bild seiner so fleißig gewesenen Schüler« zu geben, wird dem Preisrichter Moser eine Vorabinformation über das Wettbewerbsprojekt zugespielt.(10)

Als sich die international besetzte, aus neun renommierten Architekten bestehende Fachjury nicht auf die Ausführung eines bestimmten Projektes einigen kann (vorgesehen war: ein erster Preis, zwei zweite und drei dritte Preise),(11) kommt es am 5. Mai 1927 zu einem »kläglichen Kompromiss«: Aus den 377 eingereichten Projekten werden neun Entwürfe mit einem ersten Preis ex aequo ausgezeichnet, darunter auch der Beitrag von Le Corbusier und Jeanneret (der übrigens als einziger der ausgewählten Entwürfe die im Programm festgesetzte Bausumme nicht überschreitet). Dem vorsichtigen Urteil der Jury,(12) welche sich damit aus der Verantwortung stiehlt, folgt eine ganze Sturmflut von Meldungen in der Tages- und Fachpresse. In den verschiedenen Ländern werden die prämierten Entwürfe veröffentlicht und deren Verfasser als Nationalhelden gefeiert,(13) Architekturkritiker ergreifen für einzelne Projekte Partei, Wettbewerbsteilnehmer melden sich zu Wort, um ihr Projekt zu lancieren, angeregt von involvierten Akteuren richten Fachverbände Protestschreiben an den Völkerbund, wobei das Dossier an Meinungsäußerungen zum Projekt von Le Corbusier und Jeanneret bei weitem das umfangreichste sein dürfte.(14) Bei all den publizistischen Aktivitäten, die Le Corbusier als legitimen Anwärter für den Auftrag ausweisen, ragt die groß angelegte Pressekampagne heraus, mit der Christian Zervos im Novemberheft (1927) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Cahiers d’Art Schützenhilfe leistet. Wohl auf seine Anfrage und Initiative hin, hat eine ganze Reihe von etablierten Architekten, Künstler- und Berufsverbänden unterstützende Stellungnahmen für den Aspiranten abgegeben (etwa Tony Garnier, Henry van de Velde, Oswald Haerdtl, Frantz Jourdain und der Preisrichter Karl Moser); der Name anderer »großer Meister«, die sich entweder nur für ein »modernes Projekt« aussprechen (wie Hendrik Petrus Berlage, der als Juror in seiner Bewertung dem Projekt Le Corbusiers keinen Preis zukommen ließ) oder auf die Anfrage gar nicht reagierten (wie etwa Hugo Häring, Walter Gropius, Mies van der Rohe oder Ernst May), wird auf unzulässige Weise vereinnahmt. Was für Le Corbusier zunächst noch mit Hoffnungen verbunden ist, entpuppt sich am 22. Dezember 1927, da sich eine neu ins Leben gerufene Fachkommission (Comitée de Cinq, mit dem nicht mehr Architekten, sondern fünf Botschafter das Sagen haben) für das französisch-schweizerische Team Nénot und Flegenheimer entscheidet und diese beauftragt, gemeinsam mit Broggi, Lefèvre und Vago die definitive Projektierung und Ausführung zu übernehmen, als herbe Niederlage.

Die Enttäuschung darüber, am Dirigieren des Großprojektes gehindert worden zu sein, lässt Le Corbusier jedoch nicht aufgeben, im Gegenteil, er wird zum Ankläger, der keine Mittel scheut, um seinem Ziel einen Schritt näher zu kommen. Er beeinflusst Medien und Kritiker, kontaktiert Politiker (er wird beim Schweizer Bundespräsidenten Giuseppe Motta vorstellig) und Preisrichter (den französischen Akademieprofessor Lemaresquier), verfasst formelle Protestschreiben – die äußerst umfangreiche requête (eine »Anklageschrift«, in der er die Vorzüge seines Entwurfs erläutert, zum fragwürdigen und undurchsichtigen Prozedere des Wettbewerbsverfahrens Stellung bezieht und sich durch Abdruck einer Auswahl von Artikeln der Tages- und Fachpresse auf die Unterstützung namhafter Persönlichkeiten beruft) – und greift schließlich zum bewährten Mittel der Selbstautorisierung: Noch im selben Jahr, da der Völkerbundsrat den Antrag der Spezialkommission genehmigt, legt er mit Une maison – un palais (1928) ein Buch vor, mit dem der Rang seines Projektes für alle Zeiten außer Streit gestellt werden soll.(15) Da er sich, wie auch die Vertreter der neuen Avantgarde in anderen Feldern kultureller Produktion (Literatur, Malerei, Theater etc.), zur Rechtfertigung seiner ikonoklastischen Neuerungen auf die Reinheit des Ursprungs berufen muss, hebt er im ersten Teil (»Thèse«) dieses Buchs zu einer Wesensbestimmung der Architektur an und fordert – wie schon in seinen vorgängigen Schriften (Vers une architecture, 1923; Urbanisme, 1925; Almanach d’Architecture moderne, 1926) – eine Rückkehr zur ursprünglichen und idealen Definition architektonischer Praxis, um sodann im zweiten Teil (»Explications«) die zuvor an einzelnen Villenbauten exemplifizierten Neuerungen im Großprojekt des Völkerbundpalastes kulminieren zu lassen und im Anhang (»Appendice«) die Belege sicherzustellen, mit denen das Bild des einer Intrige zum Opfer gefallenen und um einen verdienten Auftrag geprellten Vorkämpfers einer »zeitgemäßen« Architektur gezeichnet werden soll.

Der enorme Aufwand an Überzeugungs-, Mobilisierungs- und Öffentlichkeitsarbeit, den Le Corbusier und seine Freunde auch noch nach der Absegnung des Entscheids durch den Völkerbundsrat im März 1928 betreiben, hat zwar nicht zum Auftrag für den bedeutendsten Repräsentativbau jener Zeit geführt, doch in jedem Fall dazu beigetragen, dass seine Aktien im Feld gestiegen sind, er vom Außenseiter zum Anwärter auf eine Position in die »Oberliga« aufgestiegen ist und ihm im begrenzten Kräftefeld der limitierten Produktion fortan eine unübergehbare Position zugesprochen wird.

Nun kann Le Corbusier wohl als Musterbeispiel dafür genommen werden, dass, um den Status eines Stararchitekten zu erringen, derjenige am erfolgreichsten verfährt, der am besten gleich selbst den Part des Oberpriesters des eigenen Kultes übernimmt – doch dass sein Genfer Wettbewerbseinsatz in die ewige Gegenwart der kanonisierten Architektur Eingang gefunden hat, lässt sich nicht einfach nur durch die Akte der Selbststilisierung und die »dauerhafte Wirkung« seiner Bücher erklären, ebensowenig nur durch die Besonderheit und Einzigartigkeit des Entwurfs. Nicht unbegründet stellt sich der Architekturhistoriker Werner Oechslin in seiner sechzig Jahre nach dem Wettbewerb vorgelegten Dokumentation des Wettbewerbsprojektes (mit der die von ihm veranlasste Restaurierung der Projektunterlagen im Jahre 1986 zu einem würdigen Abschluss kommt) in einem Nebensatz die Frage, was wohl aus den Plänen geworden wäre, hätte es sich beim Verfasser um einen weniger bekannten Architekten gehandelt. Derselbe Entwurf von einem unbekannten Autor oder gar einer unbekannten Autorin, so ließe sich antworten, hätte weder die Solidarität der Zeitgenossen noch die gesteigerte Aufmerksamkeit des Architekturhistorikers bewirkt. Ganz in der Logik seiner Praxis befangen sieht der Architekturhistoriker in der herausragenden Stellung des Autors die Rechtfertigung für sein Unternehmen: »Die Person Le Corbusiers und der prominenteste internationale Wettbewerb lassen ein detailliertes Eingehen auf noch so geringfügige Einzelheiten [...] angemessen erscheinen.«(16) Neben der Prominenz des Wettbewerbes ist es also der Seltenheitswert der Produzenten, der das Interesse der KommentatorInnen und InterpretInnen erklärt, der jedoch – und dies scheint diesen zu entgehen – immer auch mit das Produkt ihrer eigenen Arbeit ist.

Der Name des Produzenten wie auch die Bedeutung seiner Produkte lässt sich nämlich nicht auf die Arbeit des Architekten selbst beschränken – auf seine aktiven, gestalterisch-erfinderischen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, eine virtuelle Lücke zu besetzen, das heißt in einer Zeit des Übergangs die in der Luft liegenden Themen und Problemzusammenhänge (Industrialisierung des Bauens, Massenwohnbau) zu verarbeiten und in einer neuen architektonischen Grammatik mit stilbildender Kraft zu formulieren, und auf seine publizistischen Aktivitäten, mit denen er seine Einsätze zu verbreiten und sich im Feld zu schaffen versucht –, sondern ist mit das Produkt der Legitimierungs- und Konsekrationsarbeit der feldinternen Instanzen (Historiker, Kritiker, Journalisten, Kollegen, Ausstellungsmacher). Insofern nämlich, als diese in den Auseinandersetzungen, in denen die Bedeutung der Einsätze ausverhandelt wird, zunächst selber Partei ergreifen (wie etwa Giedion), und sie später (nachdem es der Produzent im Feld der Architektur zu exklusiver Legitimität gebracht hat, seine Bauten und Entwürfe es geschafft haben, »in die Geschichte einzugehen«) die Produkte in einem nicht zu Ende kommenden Besprechungsprozess immer wieder einer Neubetrachtung unterziehen. In Erinnerung gerufen sei hier nur beispielhaft die vom Begriff der »Transparenz« ausgehende, positivistische »reine« Lektüre durch Robert Slutzky und Colin Rowe, die das Völkerbundprojekt einer rein formalistischen und zugleich ahistorisierenden Lesart unterziehen,(17) oder die »archäologische Betrachtung« von Adolf Max Vogt, der das im Großprojekt kulminierende Leitmotiv der auf Pfahlstützen abgehobenen Schachtel (boîte en l’air) mit historischen Bezügen anreichert.(18) Mit Bourdieu ist in Erinnerung zu rufen, dass der von professionellen (das heißt zur Suche nach Sinn und Begründung von Besonderheiten und Unterschieden entschlossenen) InterpretInnen geführte Diskurs nicht bloß unterstützendes Mittel zum besseren Verstehen und der Würdigung einer architektonischen Leistung ist, sondern immer auch ein Moment der Produktion des Werks, also zugleich ein Mittel, das den Wert der architektonischen Produkte und den Namen der Produzenten (ja bisweilen auch den Namen der InterpretInnen) schafft.(19)

Wenn Architekturhistoriker dem von Auftraggeberseite verschmähten Wettbewerbsprojekt mehr als fünfzig Jahre nach seiner Herstellung einräumen, dass es einen »Höhepunkt« in Le Corbusiers »puris
tischer Periode«, einen Höhepunkt »in der Entwicklung der modernen Architektur«, einen »Markstein in der Geschichte der Architektur« darstellt,(20) und damit das wahr werden lassen und bestätigen, was der Autor schon zehn Jahre nach der endgültigen Absage für sich reklamiert hat (»ce projet [...] a marqué une date dans l'histoire de l'architecture«(21)), so ist daran zu erinnern, dass solche bewerten
den und klassifizierenden Einschätzungen nur möglich sind, weil die AkteurInnen, die mit der Archivierung, Konservierung und Erforschung kanonisierter Produkte beschäftigt sind, dem Produktionsfeld in einer Beziehung des komplizenhaften Einverständnisses unterworfen sind. »Wenn die Kunstwissenschaft heute noch in den Kinderschuhen steckt, so rührt dies gewiss daher, dass die mit ihr Befassten, vornehmlich die Kunsthistoriker und -theoretiker, in den Auseinandersetzungen, in denen Sinn und Wert des Kunstwerks [beziehungsweise des architektonischen Werks, A. A.] produziert werden, selber Partei sind, und dies ohne es zu ahnen oder doch jedenfalls ohne daraus alle Konsequenzen zu ziehen: Sie selbst sind Teil des Gegenstands, den sie zum Gegenstand zu haben meinen.«(22) Weil die Architekturhistoriker, wie »die Literatur- und Kunsthistoriker, die, ohne es zu wissen, die Sichtweise der Produzenten für die Produzenten übernehmen, die (mit Erfolg) Anspruch auf das Monopol auf die Bezeichnung Künstler oder Schriftsteller [beziehungsweise Architekt, A. A.] erheben«, entsprechend der Logik ihrer Praxis »nur das Unterfeld der limitierten Produktion (kennen und anerkennen), [...] verfälscht sich auch die ganze Darstellung des Feldes und seiner Geschichte«.(23)

Nicht nur, dass die Baugeschichte nicht einfach auf die Geschichte der großen Bauten und Köche der Architektur reduziert werden kann, es lässt sich auch die Geschichte der limitierten Produktion, also das, was Feldgeschichte macht, nicht angemessen verstehen, wenn die einzelnen Akteure in einer Summe von kunstgeschichtlichen Einzeldarstellungen unverbunden nebeneinander stehen. Die verschiedenen Positionen der Avantgarde der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die heute im Kanon verewigt sind, lassen sich gemäß Bourdieus strukturaler Feldanalyse nur dann wirklich verstehen, wenn sie in ihrer objektiven Relation zu allen anderen bestimmt werden, also auch und vor allem im Verhältnis zu jenen, gegen die sie sich gemäß der Logik des Kampfes abgrenzen, also zu den »überholten« Architekten, die innerhalb einer Geschichte der »modernen Architektur« für gewöhnlich ausgeblendet sind.

Der Wettbewerb: Enthüllung der Struktur des Feldes der Gegenwart

Mehr als andere Gelegenheiten scheint ein internationaler öffentlicher, das heißt für alle Architekturschaffenden zugänglicher Wettbewerb, die Struktur des Feldes der Gegenwart, den Stand der Machtverhältnisse beziehungsweise den Raum der zeitlich hierarchisierten Positionen, die von den um Legitimität miteinander konkurrierenden Personen beziehungsweise Gruppen eingenommen werden, zum Vorschein zu bringen. Auf Seite der Teilnehmer synchronisiert er Neulinge und Alteingesessene, Namenlose und Etablierte, Positionsinhaber und Anwärter (weshalb er auch den an Kapital Schwachen Chancen bietet), auf Seite der Jury bündelt er Akteure, die es bereits »geschafft« haben (also über ein hohes auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung beruhendes symbolisches Kapital verfügen) und aufgrund ihres biologischen und künstlerischen Alters tendenziell im Gegensatz zu den (oft zweifach »jungen«) avantgardistischen Architekten stehen, er lässt aber auch Kritiker, Kommentatoren, Journalisten und Ausstellungsmacher auf den Plan treten, die entsprechend der Logik ihres Produktionsfeldes dazu neigen, dem »Neuen« und den Produkten, die Aufmerksamkeit erregen, den Vorrang einzuräumen – der Wettbewerb führt also sämtliche Akteure des Feldes auf einen Punkt in der Gegenwart zusammen, trennt und polarisiert sie aber auch sogleich.

Die mit den neun erstprämierten Entwürfen gegebene (»postmoderne«) Vielfalt unterschiedlicher Stilrichtungen – das Ergebnis spiegelt die Wahrnehmung der das europäische Feld dominierenden, von neun Nationen entsandten, »aufgrund ihres Werks« zu Berühmtheit gekommenen Architekten wider – stellt einen Zustand äußerster Unsicherheit und Verunsicherung, ja eine Krise im Feld der Architektur dar. Insofern schon mit den Jurymitgliedern unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen, werden auch die Gegensätze zwischen den durch die Zeit und im Bezug zur Zeit getrennten Akteuren virulent, »zwischen denjenigen, die Epoche gemacht haben und ums Überdauern kämpfen, und denjenigen, die ihrerseits Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu verewigen; zwischen den Herrschenden, die mit der Kontinuität, der Identität, der Reproduktion im Bunde stehen, und den Beherrschten, den Neuankömmlingen, denen es um Diskontinuität, Bruch, Differenz, Revolution geht.«(24)

Was nicht heißt, dass sich Architekten bei der Produktion bewusst auf andere Positionen beziehen, doch existieren sie nur in objektiver Relation zu anderen Positionen und sind deshalb darauf angewiesen, ihre Positionierungen mit Differenz zum Bestehenden vorzunehmen. Gerade der Wettbewerb, insofern hier unterschiedliche ästhetische Produktionsweisen unmittelbar aufeinander prallen, fordert die Produzenten wie die Beurteilenden heraus, die (mehr oder weniger feinen und mehr oder weniger gesuchten) Unterschiede herauszustellen. Es ist der Anreiz des materiellen und immateriellen Profits, der mit der Ausführung eines so großen Bauvorhabens verbunden ist, mitunter die existenzielle Not (auch Le Corbusier befindet sich in einer finanziell misslichen Lage(25)), die die avantgardistischen Produzenten dazu treibt, für ihr neues Erzeugungsschema und zugleich auch gegen verbreitete und anerkannte Produktions-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata Stellung zu beziehen.

Jedenfalls wird der Schwebezustand, den das Preisgericht hinterlässt, nicht zufällig gerade von denen aufgebrochen, die ihr Publikum in der Zukunft haben. Tendenziell blasen immer diejenigen zum Angriff, die eine dominierte Position einnehmen und Interesse an der Veränderung der bestehenden Kräfteverhältnisse haben. Wobei sich ihr Kampf um Anerkennung nicht einfach auf eine Begründung der neuen Produktionsmuster beschränkt (deren Explikation übernehmen zumeist ohnehin die »Theoretiker« im Feld), sondern immer mehr in Absetzungsarbeit aufgeht, das heißt in einer negativen Beziehung auf andere beziehungsweise auf das vorherrschende Geschmackssystem (das in ihren Augen einen »alten Zopf« darstellt).

Der Kampf für eine Sache wird also immer mehr zu einem Kampf gegen eine Sache. Obschon Le Corbusier es nicht verabsäumt, immer wieder die Vorzüge seines Entwurfs zu erläutern (die organisatorischen und technischen Qualitäten, die Rücksichtnahme auf die natürliche Umgebung – seine conception paysagiste, das Einhalten der veranschlagten Bausumme etc.), so verlagert sich seine Argumentation doch zusehends auf die Zurückweisung anerkannter Produktionsmuster. Wobei die Diskreditierung der internen Konsekration (der »Akademie«), die (was seine Biografie betrifft) ganz der »Völkerbundaffaire« entkeimt, sich erst 1932 mit Croisade ou le crépuscule des académies vollends entlädt. Aber auch bei den Stellungnahmen in der Fach- und Tagespresse fällt auf, dass es immer weniger um ein bestimmtes Projekt geht, sondern immer mehr um zwei Lager. Die Rede ist vom Kampf zwischen dem esprit moderne und dem esprit ancien, von der »Epoche, die stirbt« und dem »neuen Zeitalter«, vom Projekt, »das einzig den modernen Geist repräsentiert«.(26) Die Erfordernisse des Kampfes bringen es mit sich, dass die Akteure des Feldes kollektiv eine Repräsentation des Feldes erzeugen, die, auch wenn sie der Realität nicht entspricht, besonders wirkmächtig und fortpflanzungsfähig ist – einfach deshalb, weil sie spontane Vorstellungen und Vorurteile bestärkt. Wobei der die Welt der Architektur in zwei Lager teilende Diskurs seine praktische Kohärenz der Tatsache verdankt, dass er auf der Anwendung generativer Schemata beruht, die sich auf den Gegensatz zwischen einer überholten Vergangenheit und einer fortschrittlichen Zukunft, zwischen Tradition und Moderne zurückführen lassen.

Wie bei jeder Krise, insofern sie dazu zwingt, sich zu entscheiden und alle Stellungnahmen auf eine in einem bestimmten Feld eingenommene Position hin zu organisieren, wird der in Wahrheit fließend-verschwommene Verlauf zwischen zwei Polen durch eine Trennung in klar geschiedene Lager ersetzt. So besteht das Ergebnis für Le Corbusier ganz klar aus cinq projets académiques und quatre modernes.(27) Der Schnitt in ein an sich diffuses Gewebe, zu dem in normalen Zeiten keine Notwendigkeit besteht, bewirkt, dass selbst die unterschiedlichsten Akteure in Lager eingeschmolzen werden. So wird den Juroren Moser, Berlage, Hoffmann und Tengbom gleichwie den von ihnen erwählten »modernen« Preisträgern (Le Corbusier und Jeanneret, Schweiz; Fahrenkamp und Deneke, Deutschland; Pulitz, Klophaus und Schoch, Deutschland; Eriksson, Schweden) eine Kohärenz unterstellt, die jedoch nur schwer begründbar ist. Was gestalterische Grundmuster betrifft, können freilich klare Unterschiede zwischen Le Corbusiers Projekt und den fünf der klassischen Formensprache verpflichteten Projekten ausgemacht werden – mit asymmetrischen Kompositionsmustern, dem Verzicht auf das Frontalitätsprinzip, dem frei gewichteten Spiel von klaren Baukörperformen und der Beziehung zur Umgebung sind einige Merkmale des Herausforderers benannt –, doch die unterstellte Einheit der als »modern« benannten Projekte ist selbst mit oberflächlichsten Merkmalen kaum zu fassen.(28) Die Vagheit und Unschärfe des Begriffs »modern« hält jedoch – obwohl ihm zunächst eigentlich nur die praktische Funktion zukommt, die Zeit zwischen unterschiedlichen Produktionsmustern einzuführen – von seiner Verwendung nicht ab. Im Gegenteil, der nur aus dem Kampf beziehungsweise der Mobilisierungsarbeit heraus zu verstehende Begriff »modern« wird fortan von internen Interpreten, Kunst- und Architekturhistorikern übernommen und zu einem praktischen Instrument der Klassifizierung, zu einem Stilbegriff ausgebaut – weshalb es uns heute (nachdem die Genese des Begriffs vergessen worden ist) auch möglich ist, ganz unmissverständlich von »moderner Architektur« oder der »klassischen Moderne« zu sprechen.

Die antagonistische Spaltung in Lager wird von Le Corbusier in Une maison – un palais auch in einem Bild symbolisch zum Ausdruck gebracht. Den mit Lorbeer und Eichblatt als siegreich ausgewiesenen »Akademikern« stehen die mit einem Totenkopf versehenen »Anderen« gegenüber, wobei freilich auf der Seite der unterlegenen Partei nur sein eigenes Projekt aufscheint (das wie die Gegnerprojekte in Zahlen Gestalt annimmt, den von Experten geschätzten Baukosten). Die weiteren »Anderen«, die ebenso in die engere Auswahl gekommen sind, finden in der Abbildung (wie übrigens in der gesamten Dokumentation des Wettbewerbes) keine Berücksichtigung. Das Bild spricht damit auch vom mutigen Einzelkämpfer, auf dessen Schultern die ganze Last eines Epochenkampfes lastet, der nicht nur die Ungerechtigkeit zu verkraften hat, dass diejenigen zum Zug gekommen sind, die die Baukosten um das Vielfache überschritten haben, sondern auch noch die Schmach, von Akteuren vom Platz verwiesen worden zu sein, die bereits alle Anzeichen sozialer Alterung aufweisen. Wobei letztere, durch den Sieg als Hüter der kulturellen Ordnung bestätigt, im Übertrumpfungsversuch des Herausforderers freilich nur eine ungeheuerliche Anmaßung sehen können. So spricht Nénot von »Barbarei« und »Antiarchitektur, die seit einigen Jahren Furore macht, [...] Sie negiert alle schönen Epochen der Geschichte und stellt auf alle Fälle eine Beleidigung für die Sinne und den guten Geschmack dar«. Doch der Sieg gibt ihm Recht, weshalb er erleichtert feststellt: »Sie ist unterlegen, alles ist gut.«(29)

Nun spielt sich die Revolution Le Corbusiers zwar im Rahmen der permanenten Revolution ab, die sich im Feld der Architektur als legitimer Transformationsmodus durchgesetzt hat, doch was die Struktur des Feldes im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auszeichnet ist, dass sich der fortwährende, als querelles des anciens et modernes bekannte Konflikt zwischen den Etablierten und den Neuankömmlingen ausgesprochen zuspitzt, sind doch im Gegensatz zu den Neuerern der Vergangenheit, die ihre Innovationen innerhalb bestehender Grundmuster vollziehen, die Neuerer der Gegenwart dazu entschlossen, die überkommenen ästhetischen Programme völlig hinter sich zu lassen. Der Bruch mit alten Produktionsmustern ist also vergleichsweise radikal, weshalb selbst ein Neuerungen gegenüber aufgeschlossener Juror wie Tengbom dem Entwurf von Le Corbusier und Jeanneret keinerlei Chancen einräumt: »Ich habe niemals an die Möglichkeit geglaubt, Corbusiers Projekt durchführen zu können; es war zu einseitig, zu neu, zu ungewohnt. Es war künstlerisch hochstehend, aber mehr Papier als Wirklichkeit. Ich bin überzeugt, dass es besser gewesen wäre, wenn wir uns geeinigt und nicht einen so herausfordernden Entwurf hervorgeführt hätten.«(30) Vor allem macht auch die Stellungnahme von Jungo, dem schweizerischen Direktor für Bundesbauten, deutlich, dass der Entwurf nicht den vorherrschenden Vorstellungen eines Repräsentativbaus entspricht: »Es bricht radikal mit gewissen überlieferten Gewohnheiten und weist auf eine Neuorientierung in der Architektur hin. In ihrem Bestreben, Neuerungen herbeizuführen, wenden die beiden Architekten bei diesem Gebäude, das trotz allem eine repräsentative Funktion erfüllen muss, eine Formensprache und Konstruktionsweise an, die in dieser schematischen Ausgestaltung doch eher für einen reinen Zweckbau geeignet wären.«(31) Gemessen am Alter (das heißt an der Ära des Auftretens) des neuen Produktionsmusters in der relativ autonomen Geschichte des Feldes der Architektur kam der Entwurf also zu »früh«.

Dass die akademischen Fortsetzer althergebrachter Stile den Kampf für sich entscheiden konnten, hat nun aber nicht nur mit den Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern der Beurteilenden zu tun, sondern auch mit verborgenen Mechanismen der Macht. Denn so gleichwertig die Produkte auch nebeneinander stehen mögen, solange die Anonymität der Produkte gewahrt ist, so ungleichwertig stehen sie einander in der engeren Auswahl gegenüber, wenn die Verfasser der Projekte bekannt sind. Faktum ist, dass manche Akteure über ein spezifisches symbolisches Kapital verfügen (ein ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital, das als symbolisches Kapital funktioniert),32 das den Neuankömmlingen (und vor allem Autodidakten wie Le Corbusier) nicht zu eigen ist – ausgestattet mit Titeln und gekrönt mit herausragenden Funktionen und Mitgliedschaften in den Konsekrations-, Legitimations- und Reproduktionsinstanzen (Nénot etwa ist, den Angaben in der »Appendice« zufolge,(33) Präsident der Académie des Beaux-Arts, des Institut de France und des Salon des Artistes Français, aber auch Erbauer der Sorbonne) steht hinter bestimmten Entwürfen auch das Gewicht eines Namens beziehungsweise das Gewicht einer Institution, das wiederum an nationale Vormachtstellung geknüpft ist.

Gerade die französische Académie, die sich im absolutistischen Frankreich zu einem Machtinstrument des Staates auf künstlerischem Gebiet entwickelt hat und im 18. und 19. Jahrhundert das Monopol auf Konsekration in baukünstlerischen Belangen für sich beansprucht, dürfte in diplomatischen Kreisen noch immer einen Vertrauensvorschuss genießen, und auch der Umstand, dass französische Politiker in der übernationalen Vereinigung des Völkerbundes auf die Vormachtstellung Frankreichs als Kulturnation pochen, darf nicht vergessen werden.

Auf mehreren Ebenen ist also eine Form der symbolischen Macht im Spiel, die aus den Akteuren mit vermeintlich gleichen Chancen sehr ungleiche Teilnehmer macht und die Akteure beziehungsweise ihre Position ganz unabhängig von den erbrachten Leistungen mit Gewinnchancen ausstattet. Eine Macht, die umso reibungsloser zirkulieren, umso besser ihre Wirksamkeit entfalten kann, je bedingungsloser sie Anerkennung findet. Und das tut sie vor allem – wie im Fall der zweiten, aus fünf Diplomaten bestehenden Fachkommission zu sehen – bei feldexternen Personen, also jenen, die keine (oder nur begrenzt über) fachspezifische Kompetenz verfügen und geneigt sind, die Realität der sozialen Fiktionen (Ehrentitel, Würden) über die Projekte zu stellen. Le Corbusier selbst spricht es an, wenn er sagt: »Anstatt ein Projekt zu wählen, haben sie einen Architekten gewählt.«(34) Mit der einseitigen Bestallung des Komitees durch feldexterne Personen, gegen die freilich nicht nur Le Corbusier, sondern auch die Fachverbände Sturm laufen (womit sich die Architekten für die Autonomie ihres Feldes einsetzen – dem Prinzip der Ehre folgend, will niemand von »Dilettanten« bewertet werden), sind aber auch die spezifischen Geschmacksausprägungen einer konservativen Elite im Spiel. Die heteronomen Kommissionsmitglieder sind nämlich nicht nur für den durch Titel und Institution verbrieften Rang und Namen arrivierter Architekten empfänglich, sie gehören auch einem Personenkreis an, für den in der Regel Avantgardeprodukte erst dann anerkennungswürdig sind, wenn diese kanonisiert sind.

Le Corbusier, der sich bislang eher mit kleineren Projekten (vor allem exquisiten Villenbauten) durchgeschlagen hat, das heißt Abnehmer in jenem spezifischen Milieu gefunden hat, das dem avantgardistischen Geschmack der Künstler immer aufgeschlossen gegenüber ist (etwa den Banker Raoul la Roche oder den wohlhabenden amerikanischen Journalisten William Cook), der auch dank seiner persönlichen Überzeugungskraft Vertreter einer ökonomisch potenten Elite zur Durchführung seiner Experimente gewinnen konnte (etwa Großindustrielle wie Henri Frugès oder Daniel Voisin), ist im Zuge der Auftragsvergabe eines Großprojektes auf die ganze Realität seines Feldes zurückgeworfen. Auf ein Feld, das nicht nur als ein Kräftefeld zu denken ist, in dem einzelne Produzenten, künstlerische Generationen und ästhetische Präferenzsysteme um Legitimität konkurrieren, sondern auch als ein Feld, das externen Zwängen unterworfen ist, das in seinen Beziehungen zum Feld der Macht beziehungsweise in seiner Abhängigkeit von Auftraggebern und Politik zu sehen ist. Auf ein Feld, das zugleich aber auch selbst Zwänge und symbolische Gewalt hervorbringt und auszuüben vermag (in Form von Sprache, Klassifikationen, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata etc.) – und spätestens da, wo auch die nicht unmittelbar bewussten Formen symbolischer Macht ihre Produktions-, Funktions- und Wirkungsweisen in einer Befragung einberechnet werden, wäre das Forschungsprogramm Bourdieus in seinen Grundlagen erkannt, könnten die Forschungsinstrumente (wie sie etwa mit seiner Kapitaltheorie oder den Begriffen »Feld« und »Habitus« gegeben sind) als aufklärerisches Werkzeug wirksam werden und wären davor gefeit, zu sinnentleerten Gemeinplätzen zu werden.
1 Adolf Max Vogt, Le Corbusier, der edle Wilde, Zur Archäologie der Moderne (Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1996), p. 31.
2 Alfred Roth, »Der Wettbewerb, die Projektbearbeitung und LCs Kampf um sein preisgekröntes Projekt«, in: Werner Oechslin (Ed.), Le Corbusier und Pierre Jeanneret: Das Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast in Genf 1927 (Zürich: Institut gta-ETH, 1988), pp. 20–28, p. 27.
3 Werner Oechslin, »Kleinliche Begebenheiten – und ein großes Projekt«, in: Werner Oechslin (Ed.) (1988), pp. 8–18, p. 8. 4 Neben dem Bauwettbewerb, in dem auf der Grundlage eines definierten Bauprogramms für eine ganz konkrete Bauaufgabe die beste Lösung ermittelt werden soll, gibt es auch Formen des Wettbewerbs – der künstlerische Wettstreit, die Preisaufgabe, der Ideenwettbewerb –, die gar nicht die Ausführung eines Entwurfs zum Ziel haben, sondern veranstaltet werden, um der Ehre willen den größten Künstler zu ermitteln; vid. Hannelore Sachs, »Zur Geschichte des künstlerischen Wettbewerbs«, in: Staatliche Museen zu Berlin, Forschungen und Berichte, vol. 7 (Berlin, 1965), pp. 7–21; Jean-Marie Pérouse de Montclos, Les Prix de Rome, concours de l’Académie Royale d’Architecture au XVIIIe siècle (Paris: Berger-Levrault, 1984).
5 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti Pittori, Scultori ed Architettori scritte da Giorgio Vasari [1550], 2. von Vasari rev. Aufl., 1558, nach der 2. Auflage Gaetano Milanesi (Ed.), 9 vol. (Florenz: 1906), zit. nach Martin Warnke, Hofkünstler, Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers (Köln: DuMont, 1996 [1985]), p. 113.
6 Guillemette Morel Journel, »Le Corbusiers Binäre Figuren«, in: Daidalos, no. 64 (Berlin, 1997), pp. 24–29.
7 Francesco Passanti, »Wolkenkratzer für die ›Ville contemporaine«‹, in: Stanislaus von Moos (Ed.), L’Esprit Nouveau, Le Corbusier und die Industrie 1920–1925 (Berlin: Ernst, 1987), pp. 54–65, p. 63. 8 vid. Le Corbusier, Almanach d’architecture moderne, Faksimile der 1926 bei Crès erschienenen Erstausgabe (Paris: Editions Connivences, o. J.).
9 Roth berichtet von der Enttäuschung und der gedrückten Stimmung, als Le Corbusier seine Mitarbeiter nach getaner Arbeit zu einem Ausflug nach Chartres einlädt und ihnen beim anschließenden Abendessen eröffnet, dass er sie nicht bezahlen kann. Alfred Roth, »Der Wettbewerb, die Projektbearbeitung und LCs Kampf um sein preisgekröntes Projekt«, in: Werner Oechslin (1988) p. 23f.
10 Wobei sich für den naiven Boten der Beeinflussungsversuch erst da entbirgt, als Moser die Sendung umgehend retourniert; ibid.
11 vid. Richard Quincerot, »Schlachtfeld – Völkerbundpalast, Eine Chronologie der Ereignisse um den Internationalen Architekturwettbewerb für den Völkerbundpalast in Genf, 1923–1927«, in: Werner Oechslin (Ed.) (1988) pp. 54–71, p. 56f.
12 Zur Urteilsfindung des Preisgerichts vid. Jacques Gubler und Richard Quincerot, »Da Maratona a Ginevra«, in: Parametro, no. 7 (Faenza, 1985), pp. 24–31.
13 Ein Überblick über diese ersten Publikationen findet sich in: Werk, no. 8 (Winterthur, 1927), pp. 254–256.
14 Nähere Angaben zur Medienschlacht vid. Richard Quincerot, »Schlachtfeld – Völkerbundpalast«, p. 65.
15 vid. Le Corbusier, Une maison – un palais, A la recherche d’une unité architecturale, Faksimile der 1928 bei Crès erschienenen Erstausgabe (Paris: Editions Connivences, Fondation Le Corbusier, 1989). 16 Werner Oechslin (1988), p. 11.
17 Colin Rowe, Robert Slutzky, Transparenz, mit einem Kommentar von Bernhard Hoesli und einer Einführung von Werner Oechslin (Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 1997 [1968]), pp. 48–53; beziehungsweise die Originalbeiträge: »Transparency: Literal and Phenomenal«, in: Perspecta, vol. 8, Yale Architectural Journal (New Haven, 1963); »Transparency: Literal and Phenomenal«, Part II, in: Perspecta, vol. 13/14, Yale Architectural Journal (New Haven, 1971).
18 Adolf Max Vogt (1996), pp. 72ff, 101ff, 121ff. 19 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Genese und Struktur des literarischen Feldes [Les règles de l'art, Genèse et structure du champ littéraire, 1992] (Frankfurt/M: Suhrkamp, 2001 [1999]), p. 276.
20 Kenneth Frampton, Die Architektur der Moderne, Eine kritische Baugeschichte [Modern Architecture, 1980] (Stuttgart: DVA, 1997 [1983]), p. 138; Werner Oechslin (1988) p. 11.
21 Le Corbusier in einem Brief vom 10. März 1938 an Alfred Roth, zit. nach Werner Oechslin (1988), p. 8.
22 Pierre Bourdieu (2001), p. 464. 23 Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns [Raisons pratiques, Sur la théorie de l'action, 1994] (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1998), p. 69.
24 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst (2001), p. 252ff.
25 Nicht nur, dass er seine Mitarbeiter nicht bezahlen kann, er sieht sich auch zehn Jahre später genötigt, die Pläne des Völkerbundprojektes zu verhökern; im Katalog zu seiner vom 15. Jänner bis 6. Februar 1938 im Kunsthaus Zürich gezeigten Ausstellung, in der es neben seinem Œuvre plastique auch fünf Pläne des Projektes für den Völkerbund zu sehen gibt, sind nicht nur die Artefakte, sondern auch die Pläne als »verkäuflich« angeführt.
26 M. Christian Zervos (Ed.), Cahiers d’Art, no. 9 (Paris, 1927); Karel Teige, L’Europe Centrale, 05.11.1927, zit. nach Le Corbusier, Une maison – un palais, pp. 116, 233.
27 Programmtext, der seine Ausstellung des Völkerbundprojektes in der Galerie Georges Bernheim vom 1. bis 21. Juni 1928 begleitet; Le Corbusier, Une maison – un palais, p. 195.
28 Für formale und typologische Interpretationen vid. Reyner Banham, Theory and Design in the First Machine Age (London: Architectural Press, 1960), p. 21; Stanislaus von Moos, Le Corbusier, Elemente einer Synthese (Frauenfeld Stuttgart: Huber, 1968), p. 272ff; Kenneth Frampton, »The Humanist versus the Utilitarian Ideal«, in: Architectural Design, no. 28 (London, 1968), pp. 134–136; Kenneth Frampton, »Le Corbusier's Designs for the League of Nations, the Centrosoyus, and the Palace of the Soviets, 1926–1939«, in: H. Allen Brooks, Alexander Tzonis (Eds.), The Le Corbusier Archive, vol. III: Palais de la Société des Nations, Villa les Terrasses and Other Buildings and Projects, 1926–1927, Fondation Le Corbusier (Paris) (New York: Garland, 1982), pp. IX–XXII; Patrick Devanthéry, Inès Lamunière, »Das Völkerbundprojekt: Ein moderner Palast?«, in: Werner Oechslin (Ed.) (1988), pp. 74–94.
29 Le Corbusier Une maison – un palais, p. 173.
30 Brief von J. Tengbom an Karl Moser vom 25. Februar 1928, zit. nach E. Strebel: »›[...] wohingegen 273 mir die Erfüllung des Problems zu versprechen scheint‹, Le Corbusier, das Wettbewerbsprojekt für den Völkerbundpalast – und der Schweizer Preisrichter Karl Moser«, in: Werner Oechslin (1988) pp. 95–134, 117.
31 Richard Quincerot, »Schlachtfeld – Völkerbundpalast«, p. 67.
32 Zur soziologischen Kapitaltheorie Bourdieus vid. Pierre Bourdieu, »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital«, in: Pierre Bourdieu, Schriften zu Politik & Kultur, vol. 1, Die verborgenen Mechanismen der Macht, Margareta Steinrücke (Ed.) (Hamburg: VSA, 1997) pp. 49–79; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn, Kritik der theoretischen Vernunft [Le sens pratique, 1980] (Frankfurt/M: Suhrkamp 1999 [1987]), p. 205ff; Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft (1998), pp. 150f, 173ff; Pierre Bourdieu, Meditationen, Zur Kritik der scholastischen Vernunft [Méditations pascaliennes, 1997] (Frankfurt/M: 2001), p. 309ff; Lothar Peter, »Pierre Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt«, in: Margareta Steinrücke (Ed.), Pierre Bourdieu, Politisches Forschen, Denken und Eingreifen (Hamburg: VSA, 2004), pp. 48–73. 33 Le Corbusier, Une maison – un palais, pp. 172, 216.
34 ibid., p. 173.

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