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ARCH+ 175
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Ein neues Image für Europa

19. Dezember 2005 - Mark Leonard
Wer die Wörter „Europa“ und „Krise“ bei Google eingibt, erhält über vier Millionen Einträge. In der Presse fallen die beiden Begriffe so häufig gemeinsam, daß sie nahezu austauschbar geworden sind: Tagtäglich war in den vergangenen 50 Jahren im Zusammenhang mit Europa die Rede von Meinungsverschiedenheiten, verfehlten Zielen, diplomatischen Streitigkeiten, so daß ein Gefühl des permanenten Scheiterns sich verbreitete. Jüngstes Beispiel sind die Referenden zur Europäischen Verfassung, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung von Frankreich und den Niederlanden, zwei Kernstaaten der Europäischen Union, abgelehnt wurden. Hinzu kommt die noch nicht beigelegte Finanzkrise, da es zum ersten Mal nicht gelang, eine Einigung über die Finanzplanung der kommenden Jahre zu erzielen. Ganz zu schweigen von den Debatten um den Beitrittskandidaten Türkei.

Doch die Historiker erzählen eine andere Geschichte als die Journalisten. Sie berichten davon, daß Europa aus jedem Rückschlag gestärkt hervorgegangen ist und nach Jahren der Eurosklerose den gemeinsamen Markt, nach dem Debakel von Maastricht eine gemeinsame Währung, nach den Kriegen auf dem Balkan eine europäische Verteidigung und nach dem Irak-Krieg eine europäische Sicherheitsstrategie auf den Weg gebracht hat. Sie beschreiben einen Kontinent mit einer der erfolgreichsten Außenpolitiken in der Geschichte. Sie stellen fest, daß binnen nur 50 Jahren ein Krieg zwischen europäischen Mächten undenkbar geworden ist, daß die europäischen Wirtschaften Amerika eingeholt haben und daß Europa Land um Land aus der Diktatur geholt und in die Demokratie geführt hat.

Da Nachrichten jedoch von Journalisten und nicht von Historikern übermittelt werden, wird Europas Macht in dieser verengten Sichtweise oft mit Schwäche verwechselt. Doch wenn Rußland die Kyoto-Protokolle unterzeichnet, um seine Beziehungen zur EU zu verbessern, wenn Polen den verfassungsrechtlichen Schutz ethnischer Minderheiten einführt, um in die EU aufgenommen zu werden, wenn eine islamistische Regierung in der Türkei Pläne der eigenen Partei fallen läßt, Ehebruch per Gesetz zur Straftat zu erheben, um nicht den Zorn Brüssels auf sich zu ziehen, dann sollten wir unsere Definitionen von Macht und Schwäche in Frage stellen.

Ausgangspunkt muß eine Kommunikationsstrategie sein, die Europa unter seinen eigenen Voraussetzungen betrachtet, anstatt es immerzu durch die amerikanische Brille zu beurteilen. Europas „Schwächen“ laufen in einer ununterbrochenen Sendeschleife über die Fernsehschirme rund um den Globus: keine Vision, uneins, pazifistisch, versessen auf Regulierungen. Es kommt nun darauf an zu zeigen, daß all das, was Amerika als Behinderungen darstellt, in Wirklichkeit Quellen der Stärke sind. Wenn wir diese vermeintlichen Schwächen genauer betrachten, wird erkennbar, daß Europa eine neue Form von Macht entwickelt hat, die der Welt, in der wir leben, auf einmalige Weise gerecht wird – und in ihrer Wirkung dauerhafter und effektvoller ist als episodische Aufbietungen amerikanischer Feuerkraft.

Die „Schwächen“ Europas

Erstens, der EU fehle eine Vision. Die amerikanische Macht beruht auf einer klaren Zukunftsvision: dem amerikanischen Traum. Das europäische politische Experiment fußte dagegen auf der Vision, keine Vision zu haben. Der französische Dichter Paul Valéry schrieb nach dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs: „Unsere Hoffnung ist vage, unsere Angst jedoch deutlich.“ Im Kern verweist dieser Aphorismus auf die schmerzhafte gemeinsame Vergangenheit des totalen Krieges, der wir zu entrinnen versuchen, und verrät zugleich unsere Abneigung gegen den Entwurf einer eindeutigen gemeinsamen Zukunft (aus Furcht, Europa könne in verschiedene Konfigurationen nationaler Interessen zerfallen). Anders als die US-Macht, die sich in gewichtigen Erklärungen und Plänen äußert, war das europäische Projekt von Beginn an inkrementell und auf Understatement ausgelegt. Infolgedessen dehnt Europa sich verdeckt und mit behutsamer Allmählichkeit aus. Obwohl der Kontinent die Hälfte unserer Gesetzgebung und die Hälfte unseres Handels verantwortet sowie ganze politische Felder von der Landwirtschaft bis zu Umweltregulierungen kontrolliert, ist er praktisch unsichtbar. Gleich einem mythischen Geist operiert Europa unter dem Deckmantel traditioneller Institutionen und nationaler Staatsbeamtenapparate. Das ist kein Zufall. Indem Europa gemeinsame Maßstäbe schafft, die durch nationale Institutionen implementiert werden, kann es andere Länder vereinnahmen, ohne zum Ziel von Feindseligkeiten zu werden. Während jede amerikanische Firma, Botschaft und Militärbasis ein Ziel für Terroristen bildet, kann Europa aufgrund seiner Unsichtbarkeit den eigenen Einfluß ausdehnen, ohne zu provozieren. Doch selbst wenn es Menschen gäbe, die zornig genug wären, um Flugzeuge in europäische Gebäude fliegen zu wollen, gäbe es in Europa schlichtweg keine Ikone, die ein dem World Trade Center äquivalentes Ziel böte.

Zweitens, Europa gedeiht aus der Vielfalt. Wenn es zu einer Krise kommt, beklagen sich die Amerikaner, sie wüßten nicht, an wen sie sich als Stimme Europas wenden sollen. Nach den Geschehnissen im Irak kamen viele zu dem Schluß, Europa bleibe unmaßgeblich, solange es nicht mit einer Stimme sprechen könne, ein Echo auf Henry Kissingers berühmte Bemerkung, Europa brauche eine Telefonnummer. Daß Europa keine einzelne Führungsfigur hat, sondern eher aus einem Netz von Machtzentren besteht, bedeutet jedoch, daß es von seiner globalen Schlagkraft profitieren kann, ohne einzelnen Ländern die Identität zu rauben. Anders als Amerika, dessen wachsende Macht Widerstand hervorruft, lädt Europas Netzwerk zur Zusammenarbeit ein. Das Einmalige an der EU ist, daß niemand es mit ihr aufnehmen will – alle wollen ihr beitreten. Es ließe sich sogar vorbringen, daß die Good-Cop-Bad-Cop-Nummer, die Großbritannien und Frankreich anläßlich des Irak-Konflikts unfreiwillig spielten, vom Ergebnis her beurteilt effektiv war: Bush wurde gezwungen, den Weg über die UNO zu gehen, als Gegenleistung für die britische Hilfeleistung eine „Roadmap“ für den Mittleren Osten zu erstellen und schließlich ein UN-Mandat für den Wiederaufbau zu sichern.

Um Europa zu verstehen, sieht man sich am besten ein global vernetztes Unternehmen an (beispielsweise die Firmenstruktur von Visa), anstatt es mit föderativen Staaten wie den Vereinigten Staaten zu vergleichen. Indem es Kontrolle weitgehend aufteilt und damit verhindert, daß einzelne Fraktionen oder Institutionen dominieren, kann ein vernetztes Unternehmen globale Präsenz mit Innovation und Vielfalt verbinden und zugleich den Biß bewahren, den man eher bei Start-up-Unternehmen antrifft. Obwohl Visa die größte Konzentration an Verbraucherkaufkraft weltweit darstellt (362,4 Billionen $ jährlich), handelt es sich um eine äußerst schlanke Organisation mit gerade einmal ein paar Tausend Beschäftigten. Daß Europa keine einzelne Führungsfigur besitzt – sondern eher ein von gemeinsamen politischen Maßgaben und Zielen geeintes Netzwerk von Machtzentren bildet –, bedeutet, daß es sich ausdehnen und einer immer größeren Zahl von Ländern Platz bieten kann, ohne zusammenzubrechen, und dabei imstande bleibt, seinen Mitgliedern die Vorzüge des größten Marktes der Welt zu bieten. Zwar muß dieses Netzwerk bei Bedarf auch in der Lage sein, Macht nach außen anzuwenden – wie während des Kosovo-Konflikts geschehen –, doch kann dies durch Koalitionen der Willigen erfolgen und dürfte eher als letzter Ausweg denn als primäres Einflußinstrument zur Anwendung kommen.

Drittens gilt die Regulierungswut der Europäischen Union landläufig als endgültiger Beweis von Schwäche – der perfekte Kontrast zur pyrotechnischen Gewalt des US-Militärs. Tatsächlich aber ist sie Teil einer machtvollen politischen Strategie „passiver Aggression“. Europas Geheimwaffe ist das Recht. Bis zur Schaffung der EU war die Idee der Souveränität gleichbedeutend mit Unabhängigkeit von äußeren Eingriffen, indem man sich andere Länder vom Leib hielt. Wie Robert Cooper darlegte, haben die Europäer jedoch, anstatt ihre Souveränität eifersüchtig vor äußerer Einmischung zu hüten, wechselseitige Einmischung und Überwachung zur Grundlage ihrer Sicherheit gemacht. Im Lauf der vergangenen 50 Jahre haben Europas führende Politiker Tausende von gemeinsamen Standards und Regularien vereinbart. Diese füllen insgesamt 31 Bände, 80.000 Seiten Text, die jede Facette des täglichen Lebens regeln – von den Menschenrechten bis zum Verbraucherschutz. Man kennt sie als „acquis communautaire“. Dieses Konvolut von Vereinbarungen hat es Europa ermöglicht, seine Gesetzgebung und seine Werte in der ganzen Welt „abzusetzen“, indem es den Zutritt zu seinem Markt von der Zustimmung zu seinen Sitten abhängig macht. Viele klagen über die europäische Bürokratie, doch gestattet paradoxerweise gerade der Umfang des europäischen Gesetzeswerks, die Institutionen klein zu halten.

Ein neues Modell

Dies alles belegt nicht die Schwäche Europas – sondern, daß Europa einen neuen Typus von Macht entwickelt hat. Eine Macht, die nicht in der Geopolitik, sondern in der Innenpolitik ansetzt. Wenn die USA sich mit anderen Ländern befassen, tun sie dies aus geopolitischer Warte. Gespräche mit Rußland zielen auf die Atomwaffenfrage und die Erweiterung der Nato. Verhandlungen mit Kolumbien haben den grenzüberschreitenden Drogenstrom im Visier. Europäer dagegen fragen, auf welchen Werten ein Staat fußt, welche konstitutionellen und regulativen Rahmenwerke er sich gibt. Die Türkei hat die Todesstrafe abgeschafft, um ihre Aussichten auf Aufnahme in die EU zu befördern, Großbritannien hat die Verbannung Homosexueller aus den Streitkräften aufgehoben, und Italien hat seine verschwenderischen Wirtschaftsgepflogenheiten reformiert, um sich EU-Standards anzupassen. Europas Dringen auf gesetzliche Rahmenwerke bedeutet, daß es die Länder, mit denen es in Berührung kommt, vollständig umgestalten kann, statt nur die Oberfläche zu streifen. Die USA mögen mit militärischer Macht das Regime in Afghanistan verändert haben, doch Europa krempelt die gesamte polnische Gesellschaft um, von der Wirtschaftspolitik über die Eigentumsgesetze und den Umgang mit Minderheiten bis hin zu dem, was auf den Tisch der Nation kommt. Die hochtrabende Rhetorik vom „amerikanischen Imperium“ übersieht, daß die Einflußsphäre der USA dünn und oberflächlich ist. Die einzige globale Supermacht mag andere Länder bestechen oder schikanieren, mag fast überall auf der Welt ihren Willen durchsetzen – doch sobald sie diesen Gebieten den Rücken zukehrt, schwindet ihre Stärke. Die Kraft der EU dagegen ist umfassend und tiefgreifend: Sobald ein Land in die „Eurosphäre“ gerät, hat es sich für immer verändert.

Vor nahezu 500 Jahren erfand Europa die effektivste politische Organisationsform in der Geschichte: den Nationalstaat. Durch eine Reihe von Kriegen und Eroberungen breitete sich diese Organisationsform wie ein Virus aus, so daß sie an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die einzige Art der Organisation von Politik darstellte, die Reiche, Stadtstaaten und Feudalsysteme verschwinden ließ. Da sich Nationalstaaten am besten darauf verstanden, mit weiteren Nationalstaaten zu verhandeln, standen andere politische Systeme vor der drastischen Entscheidung, sich entweder selbst zum Nationalstaat zu wandeln oder von einem solchen übernommen zu werden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gingen die Europäer daran, dieses Modell neu zu fassen. Der Erfolg Europas hat dabei einen regionalen Dominoeffekt ausgelöst, der die Beschaffenheit der Macht auch über die Grenzen des Kontinents hinaus verändern könnte. In allen Ecken der Welt nehmen sich Länder das europäische Modell zum Vorbild und bilden ihre eigenen nachbarschaftlichen Verbände, von ASEAN und Mercosur bis zur Afrikanischen Union und Arabischen Liga. Dieser regionale Dominoeffekt ist dabei, unsere Vorstellungen von Politik und Ökonomie zu verändern und der Bedeutung von Macht im 21. Jahrhundert eine neue Definition zu geben. Die sich hier abzeichnende Welt wird sich nicht um die USA oder die UNO drehen, sondern eine Gemeinschaft aufeinander angewiesener regionaler Zusammenschlüsse sein.

Das Bild Europas

Wie also kann Europa den Raketenneid überwinden und die Welt für sich gewinnen? Eine einfache Antwort auf diese Frage kann es nicht geben, da die europäische Macht per Definition darauf eingerichtet ist, unsichtbar zu sein. Die Herausforderung dürfte darin bestehen, das „ikonographische Defizit“ auszugleichen, wie Rem Koolhaas dies genannt hat. Will sagen, Europa steckt voller Symbole, die nach dem Vorhaben aussehen, eine Nation aufzubauen (blaue Fahnen, Hymnen, Pässe), die jedoch unfähig sind, subtilere Aussagen über die Verbindung von nationaler Identität und europäischer Stärken zu transportieren. Ein Teil des Problems rührt aus der katastrophalen Unfähigkeit der europäischen Institutionen, Geschichten und Bilder europäischer Stärke zu entwickeln. Statt dessen überschütten sie die Journalisten mit langweiligen Schaubildern und produzieren unzählige Bilder, auf denen Minister in Autos ein- und aussteigen und graue Männer sich bei Gipfeltreffen zum Fototermin aufstellen.
Der Schlüssel zu einem neuen Image für Europa wird darin liegen, Möglichkeiten zu finden, die europäische Stärke in all ihren Vorzügen zu kommunizieren. Dies erfordert eine zweigleisige Strategie – einerseits einprägsame Wahrzeichen nationaler Identität zu vermitteln und andererseits die Vorzüge des europäischen Projektes anschaulich und erlebbar zu machen. Damit der erste Teil der Strategie aufgeht, müssen die Entwickler eines neuen Image dem Eindruck der Öffentlichkeit entgegentreten, Brüssel sei ein abstrakter Ort sich einmischender EU-Institutionen; sie müssen statt dessen die Stadt als einen gelebten Ort vorstellen, an dem Minister und Staatsbeamte verschiedener Nationen ihre (berechtigten) Interessen vertreten und Konflikte austragen.

Nach einigen Brainstormings mit mir und anderen haben Koolhaas und seine Kollegen ein Symbol vorgelegt, das genau dies leistet – einen aus den Nationalfahnen zusammengesetzten europäischen Strichcode. Nachdem Koolhaas bei einem Symposium mit Romano Prodi seinen Vorschlag präsentiert hatte, sickerte dieser an die Öffentlichkeit durch und sorgte für internationale Furore. Die Europäische Kommission sollte Koolhaas jetzt beauftragen, seine Vorüberlegungen in einen Handlungsplan umzusetzen. [Unterdessen kann Koolhaas’ Wanderausstellung über das Bild Europas als Ausgangspunkt einer solchen öffentlichen Debatte dienen].

Natürlich wird eine Änderung des Image für Europa nicht funktionieren, sofern es nicht mit Substanz untermauert wird. Die EU muß, wenn sie ein Anziehungspunkt werden will, noch einige politische Schlüsselpositionen revidieren. Dies bedeutet, eine europäische Sicherheitsstrategie und Interventionsdoktrin zu entwerfen, die Heuchelei im Handel mit der Dritten Welt zu beenden und die Nachbarschaftspolitik strategisch auszubauen (sowohl im Osten zum vormaligen Sowjetblock und zur Türkei hin als auch im Süden zu Nordafrika). Dies ist keine kleine Aufgabe, doch wenn die europäische Führung sie bewältigen kann, könnte die einmalige Beschaffenheit der europäischen Macht das 21. Jahrhundert zum europäischen Jahrhundert werden lassen. Nicht, weil Europa als Imperium die Welt beherrscht, sondern weil die Welt europäische Vorgehensweisen und Strategien übernimmt.

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