Zeitschrift

dérive 21/22
Urbane Räume - öffentliche Kunst
dérive 21/22
zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Arte/Cidade (Kunst/Stadt)

25. Dezember 2005 - Nelson Brissac Peixoto
Das Projekt Arte/Cidade in São Paulo wurde als Kooperation zwischen TheoretikerInnen, ArchitektInnen und zahlreichen lokalen und internationalen KünstlerInnen Mitte der neunziger Jahre ins Leben gerufen und bestand aus vier Etappen. Die erste erfolgte in einem still gelegten Schlachthof in der südlichen Zone der Stadt. Die zweite Intervention im Zentrum der Stadt fand in drei Gebäuden und auf dem von ihnen umrissenen Areal statt, das von einem Viadukt durchschnitten wird. Die dritte ging im Westen der Stadt entlang eines Nebenbahngleises über die Bühne und die letzte dieser Interventionen im Jahr 2002 war für ein im östlichen Teil der Stadt gelegenes ehemaliges Industriegebiet auf einem Ausschnitt von ca. 10 km2 konzipiert. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, welche Erfahrungen sich für das Verhältnis von Kunst und Stadtraum in einer Megacity wie São Paulo ziehen lassen.

Die Ausgangssituation

Arte/Cidade entstand in São Paulo/Brasilien als Projekt, das sich seit dem Jahr 1994 Interventionen im städtischen Raum widmete. Ausgangspunkt war die zeitgenössische Metropole als komplexer und dynamischer Raum, der sich in beständiger Wandlung befindet und damit neue und ungewöhnliche urbane Konfigurationen hervorbringt. Im Rahmen des Projekts wurden Aktivitäten initiiert, die sowohl den Status wie auch die konventionellen Vorgehensweisen der Kunst, der Architektur und des Städtebaus hinterfragen. Denn: Sich Prozessen zu stellen, die als Folge der Globalisierung auftreten, erfordert eine Überschreitung von etablierten Erörterungen und Techniken.

Die Idee war, die Stadt São Paulo als einen Ort zu betrachten, dem alle Fragestellungen über Städte und Kunst inhärent sind. Während die jüngsten städtischen Revitalisierungstendenzen und die etablierten Formen der Kunst im öffentlichen Raum vor der Komplexität sowie der Fülle an neuen Situationen kapitulierten, postulierte Arte/Cidade einen Diskurs neuer urbaner und künstlerischer Strategien von Interventionen in Großstädten.

Arte/Cidade strebte nach Interventionen, die sich nicht allein auf das unmittelbar Lokale bezogen, sondern suchte auch eine Verbindung zum weiten Territorium der Großstädte sowie zu den globalen Neugestaltungen der Wirtschaft, der Macht und der Kunst. Ziel war es, die Wahrnehmung auch für Situationen zu schärfen, die sich nicht bloß in der Erforschung des unmittelbaren Ortes und der visuellen Feststellung genügen. Interventionen, welche die Prozesse der städtischen und globalen Umstrukturierungen berücksichtigen, sich jedoch der institutionalisierten und körperschaftlichen Aneignung von urbanem Raum und künstlerischen Praktiken widersetzten.

Es gilt, das Repertoire, das sich in den jüngsten Projekten im urbanen Raum entwickelt hat, zu festigen. Eine operative Beschäftigung mit dem urbanen Raum fordert die Entwicklung von adäquaten, ästhetischen und technischen Instrumenten und Vorgehensweisen: die Umsetzung von individuellen Vorschlägen in Projekten (in Form von technischen Zeichnungen) sowie die Abgleichung von technischen, materiellen, strukturbedingten und politischen Fragen, wie etwa die Beziehungen mit den im Entwicklungsprozess involvierten lokalen Gemeinschaften und politischen Entscheidungsträgern.

Neue Bedingungen erfordern neue Strategien

Die im Rahmen von Arte/Cidade gesammelten Erfahrungen hatten ein Ensemble an Verfahrensweisen bezüglich der Auswahl von „Situationen“ als auch hinsichtlich der angewandten künstlerischen und städtebaulichen Vorgehensweisen zum Ergebnis. Aber, diese Praktiken im urbanen Raum riefen auf Grund ihrer engen Beziehung zu Eingriffen in die städtische Weiterentwicklung sowie zur Politik von kunstnahen Institutionen Fragen wach: Wie könnte eine Evaluierung der durch Arte/Cidade entwickelten Maßnahmen ausschauen? Welche Rolle und Bedeutung hat dieser künstlerische Prozess angenommen? Welchen städtebaulichen Effekt, sei es in Bezug auf die Wirtschaft, das Soziale oder die Politik, hat das Projekt geschaffen? Der beschleunigte Prozess der globalen Verdichtung von Städten hat zu einer radikalen Veränderung der Bedingungen für und Prinzipien von städtischen Interventionen geführt. Megaprojekte im städtebaulichen Bereich und transnationale Kulturinstitutionen sind für Umstrukturierungen von Städten auf globaler Ebene verantwortlich. Es verlangt also nach einem neuen Repertoire auf technischer, ästhetischer und institutioneller Ebene sowie nach neuen Strategien, um Aktionen im öffentlichen Raum zu setzen.

Wie gestalteten sich die ästhetischen Ergebnisse der im Rahmen von Arte/Cidade durchgeführten Projekte? Wie sehr beeinflussen sie Prinzipien und Vorgehensweisen nachfolgender Projekte, die sich mit dem urbanen Raum beschäftigten? Eine Rezeptionsanalyse von Arte/Cidade und der im Rahmen des Projekts geschaffenen Kunstwerke steht noch aus. Rückschauend ist es gut möglich, dass einige der künstlerischen Interventionen als noch sehr den Regeln der plastischen Kunst verpflichtend erschienen, einer phänomenologischen Wahrnehmung von Objekten im Raum. Um intensivere und umfassendere Effekte zu erzielen, ist es ist vonnöten, weitere konzeptionelle und operative Parameter in diese künstlerische Praxis einzuführen; Strategien, die es ermöglichen, die institutionellen, diskursiven und ökonomischen Apparate der Stadt und der Kunstwelt herauszufordern. Es gilt aufzuzeigen, wie die Schaffung von städtischem Raum und Kultur – ebenso wie die Rezeption dieses Prozesses – zusehends den Allianzen von Wirtschaft und Macht unterworfen wird.

Ein Weg, diese Fragestellung zu fokussieren, wäre die Analyse der Schicksale der Örtlichkeiten, an denen die Interventionen stattgefunden haben. An einigen von ihnen entstanden Kulturzentren, Shoppingcenter und Großprojekte der Stadtplanung mit Wohn- und Bürotürmen. Anderswo entwickelten sich favelas oder Plätze für informelle Aktivitäten. Die weitere, künftige Bestimmung dieser Orte wird ebenso vielfältig sein wie die Rolle, die Arte/Cidade in diesen Prozessen möglicherweise eingenommen hat.

Angesichts dieser neuen Beziehung zwischen Kunst und städtischer Entwicklung: Welche Alternativen eröffnen sich nun den Interventionen in Metropolen, die sich in globaler Umstrukturierung befinden? Diese Projekte können sich den weiten, außergewöhnlich komplexen, dynamischen und unförmigen Gebieten zuwenden, die aus städtebaulichen Entwicklungsprojekten ausgeschlossen sind. Es ist ihnen möglich, Megaprojekte auf strukturelle Alternativen der Beschäftigung mit bis heute vernachlässigten Gebieten – auf die dynamische Unbestimmtheit dieser in den Zwischenräumen liegenden Territorien und auf eine adäquate Vorgehensweise – hinzuweisen; Vorschläge der Gestaltung und Nutzung von Infrastruktur aufzuwerfen, welche die Gliederung des städtischen Gewebes intensivieren und verändern könnten. Programmatische und leistungsfähige Interventionen in urbanen Situationen zu fordern, die in direkter Verbindung mit den lokalen Gemeinschaften stehen – anders als die Arbeiten, die von der vorherrschenden Zeichnung der Stadt und den ökonomischen und sozialen Interessen der Herrschenden dominiert sind. Eine Möglichkeit, neue urbane Strategien einzuführen.

In den vergangenen Jahren ließ sich ein Phänomen beobachten, das die Parameter der Bewertung von urbanem Raum und die Tragweite der Interventionen gänzlich verändern sollte: die weltweite Verdichtung der größten Metropolen mit dem Aufkommen von riesigen stadtarchitektonischen und vom internationalen Kapital geförderten Projekten. Sie neigen dazu, sich selbst genügende Enklaven zu schaffen, die, von mächtigen architektonischen Strukturen beherrscht, vom restlichen urbanen Gewebe abgeschnitten sind und somit der Dekadenz, der sozialen Ausgrenzung und der Gewalt überlassen werden. In enger Verbindung zu diesem Prozess verstärkt sich in den großen Museen und im Rahmen von Themenausstellungen mit weltweiter Ausrichtung die Tendenz, die ästhetische Produktion und Rezeption dieser globalen Logik mit ihren weitläufigen artifiziellen und inszenierten Arealen zu unterwerfen – eine Monumentalität, welche die Stadt und die Kunst letztlich für Spektakel und Kulturtourismus verfügbar machen.

Es ist nicht mehr möglich, Projekte für den urbanen Raum zu konzipieren, ohne diese neuen Bedingungen in Betracht zu ziehen. Gemäß der steigenden räumlichen, institutionellen und sozialen Komplexität von urbanen Situationen muss jede Intervention diesem intensiven Prozess der Neustrukturierung von Städten Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass es notwendig ist, Strategien zu entwickeln, die den Prinzipien der örtlichen Begrenzung, der totalitären architektonischen Form und der institutionellen oder kooperativen Instrumentalisierung der Kunst entgegenstehen.

Drei Projektphasen

Das waren die Fragestellungen, welche die Gründungsarbeit von Arte/Cidade kennzeichneten. Die Vorbereitung des Projektes gestaltete sich in drei Phasen: eine ausgedehnte städtebauliche Untersuchung der jeweiligen Region, die Auswahl der Orte und die Entwicklung der Intervention. Die von den teilnehmenden KünstlerInnen und ArchitektInnen durchgeführte Untersuchung fokussierte die Rolle des Gebietes in der Neustrukturierung São Paulos im Sinne der Globalisierung. Sie wird durch die Erhebung der potenziellen „Situationen“ von Interventionen sowie von Gebieten, welche eine für Großstädte charakteristische strukturelle Komplexität und örtlich gegebene soziale Dynamiken vorweisen könnten, vervollständigt.

Hierbei wurde versucht, nicht von isolierten Lokalitäten auszugehen, sondern jeweils eine ganze Region in Betracht zu ziehen, um die Prozesse der urbanen Neustrukturierung, die architektonischen Elemente und die Formen der bereits vorherrschenden Inanspruchnahme zu verstehen. Es handelte sich um eine neue Art der Initiierung von künstlerischen und urbanen Interventionen, die in kritischer Reflexion von den Strategien ausging, die von KünstlerInnen seit der land art und im Rahmen von urbanen Revitalisierungspraktiken entwickelt wurden. Die Gebiete wurden von allen Beteiligten begutachtet. Sie alle trugen mit wichtigen Literatur- und Ortsvorschlägen zum Gesamtprojekt bei und bereicherten so die ursprünglichen Projektideen. Ausgehend von dieser Arbeit entwickelten die eingeladenen KünstlerInnen und ArchitektInnen ihre Vorschläge.

Wie ist es nun in der Erarbeitung von städtischen Interventionen möglich, die multiplen und komplexen Gegebenheiten, welche die Gesamtsituation prägen, zu berücksichtigen? Wie kann gewährleistet werden, dass die TeilnehmerInnen, viele von ihnen nicht aus Brasilien stammend, mit diesen Fakten zu arbeiten vermögen? Eine Gruppe von ArchitektInnen und IngeneurInnen leistet bei jedem Projekt begleitende Hilfestellung und bemüht sich, die Grenzen der strukturellen und technischen Möglichkeiten sowie die städtische und soziale Reichweite jedes Projektes abzustecken. In jedem einzelnen Fall werden die Möglichkeiten der Interventionen im städtischen Raum und in Gebäuden, die Probleme der strukturellen Tragkraft, der Gebrauch von Materialen und die elektrischen Vorrichtungen studiert, immer im Hinblick auf die Erprobung und die Möglichkeiten der Überschreitung der konventionellen Funktionen.

Alternative Strategien zur Neustrukturierung der Stadt

Die Komplexität und die Bandbreite der vorgeschlagenen Interventionen erlauben nicht, so ein unkritisches Anpassen an die vorherrschende Situation vermieden werden soll, im Arbeitprozess auf entsprechende technische und operative Hilfestellungen zu verzichten. Daher wird – abgesehen vom Bruch mit den heute erstarrten Vorgehensweisen in Projekten in Bezug auf spezifische Orte – zusätzlich versucht, eine intuitive, generelle ästhetisierende Anpassung an die Lokalitäten zu vermeiden. Ziel ist es, zu verhindern, dass die Verortung lediglich als Kontext dient, als Prospekt für Werke, die Anspielung und lediglich Kommentar der Situationen bleiben. Die im Rahmen von Arte/Cidade entwickelten Vorschläge sind im Grunde genommen keine architektonischen und städteplanerischen Projekte. Sie weisen auf alternative Strategien der weltweiten Neustrukturierung der Stadt ebenso hin wie auf eine Stadtpolitik der Dezentralisierung. Diese Strategien basieren auf den Aktivitäten, die sich in diesen – in städtischen Zwischenräumen liegenden – Gebieten entwickeln, auf einer Dynamisierung ohne Konzentration auf Ausschlussmechanismen, auf Akzeptanz von räumlicher Heterogenität sowie auf unterschiedlichen Beschleunigungsprozessen.

Die Projekte beschäftigten sich mit einer intensiven Kartografie der Stadt, die es vermag, die Komplexität und die Dynamik des Gebietes, die Varietät der Formen seiner Inanspruchnahme sowie die Möglichkeiten der im Gange befindlichen Eingriffe aufzuzeigen. Es ist eine Arbeit an der Schnittstelle unterschiedlicher Vektoren, in den Zwischenräumen eines fragmentierten städtischen Gewebes und im unregelmäßigen Fluxus der Großstadt. Ziel ist es, neue Verbindungen zwischen den unterschiedlichsten Situationen zu schaffen, ihre Bedeutung und urbane, kulturelle und soziale Wirkung zu erweitern, sowie die Rezeption dieser Prozesse seitens der Bevölkerung zu intensivieren. Im Gegensatz zu den konventionellen Maßnahmen ging es im Rahmen von Arte/Cidade um ein hohes Maß an Experimentierfreudigkeit, da die Projekte mit Fakten und Variablen zu tun hatten, die sich der Vorhersage und der Kontrolle entziehen. Es sind dies Komponenten, die das Spiel der Akteure im urbanen Raum und die die der Stadt eingeschriebene Unbestimmtheit akzeptieren.

Interventionen in Großstädten verlegen die Frage nach der Rezeption großer urbaner Gebiete, die sich vollends den mental maps ihrer BewohnerInnen entziehen, auf die etablierten Parameter des Städtebaus und auf die Theorie von Kunst im öffentlichen Raum. Welche Fragen stellen sich in Bezug auf die öffentliche Wahrnehmung von Interventionen dieses Ausmaßes? Fällt die Wahl auf einen sich der persönlichen Erfahrung entziehenden Ort, so ist es unmöglich, einen gemeinsamen Begriff der Dimensionen und Zeichnung des Ortes zu finden. Städte unterliegen zusehends den Strategien der Monumentalisierung – Marketing, Immobiliengeschäfte und Kulturtourismus; Arte/Cidade steht für das Anliegen, den – diesen Prozessen inhärenten – Charakter des Spektakels zu vermeiden.

Arte/Cidade, ursprünglich ein Projekt, das sich mit künstlerischen Interventionen im öffentlichen urbanen Raum beschäftigt: Könnte es sich zu einem Diskussionsfeld weiterentwickeln, das Platz bietet, über Prozesse der städtischen Neustrukturierung nachzudenken, in der künstlerische und städteplanerische Interventionen einen anderen Stellenwert einnehmen? Wird Arte/Cidade es schaffen, jene Glaubwürdigkeit zu erreichen, um Initiativen seitens Regierungen und der großen privaten Trusts in seine Diskussion integrieren zu können? Ist es möglich, im von großen Trusts und von mächtigen politischen und wirtschaftlichen Institutionen bestimmten bestehenden Szenario der Verwaltung von Städten und der Kultur eine öffentliche Diskussion über die Alternativen der Stadtentwicklung und der künstlerischen Tätigkeit zu schaffen?

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Für den Beitrag verantwortlich: dérive

Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimermail[at]derive.at

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