Publikation

Die Disziplinierung der Stadt
Städtebau in Zürich 1900 bis 1940 und das Vorbild Berlin
Die Disziplinierung der Stadt
Autor:in: Daniel Kurz
Verlag: gta Verlag
ISBN: 3856762167
Sprache: Deutsch
Publikationsdatum: 2008
Umfang: 440 S., Daniel Kurz
Format: gebunden, 26 x 17 cm

«Wachstumsbeschwerden der Grossstadt»

Ein neues Standardwerk zur Geschichte der Moderne in Zürich von Daniel Kurz

Im «gta»-Verlag ist ein knapp 400-seitiger Band erschienen, der sich mit der Zürcher Stadtentwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt. Anhand des Städtebaus von 1900 bis 1940 wird dargelegt, wieso sich die Stadt Zürich heute so präsentiert, wie sie es tut.

7. Oktober 2008 - Urs Steiner
Es darf ja ausnahmsweise einmal stimmen – das Klischee nämlich, wonach sich hinter einem spröden Äusseren gelegentlich ein Feuerwerk an Spannung verbirgt. Eine dieser Ausnahmen ist das neue Buch mit dem eher esoterischen Titel «Die Disziplinierung der Stadt – Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940». Selbst wer von Städtebau etwa so viel versteht wie von Astrophysik, wird von dieser neuen, im «gta»-Verlag erschienenen Publikation fasziniert sein. Jedenfalls, wenn er oder sie sich für die wirtschaftliche, politische, kulturelle oder gesellschaftliche Seite der Stadt Zürich interessiert – und wer täte das nicht?

Chaos im Kaff

Die Geschichte beginnt mit dem süffig überschriebenen Kapitel «Wachstumsbeschwerden der Grossstadt». Im Jahr 1870 war Zürich ein Kaff mit gerade einmal 58 657 Einwohnern, ein gutes Drittel kleiner als heute Winterthur. Mit der ersten Eingemeindung 1893, als die Vororte Aussersihl, Enge, Fluntern, Hirslanden, Hottingen, Oberstrass, Riesbach, Unterstrass, Wiedikon, Wipkingen und Wollishofen mit Zürich fusionierten, wuchs die Kernstadt, der heutige Kreis 1, mit einem Schlag auf 121 000 Seelen. Den Verkehr in der neuen «Grossstadt» – aus heutiger Sicht ein gemütliches Knattern und Flanieren über menschenleere Strassen und Plätze – empfanden die Einwohner um 1900 indes als chaotisch und bedrohlich. Im Jahr 1913 wurden an der Bahnhofstrasse sagenhafte 529 Motorfahrzeuge gezählt, hinzu kamen 535 Fuhrwerke und 1855 Fahrräder. Den Limmatquai passierten gleichen Jahres 165 Motorfahrzeuge – das waren wohl weniger als nach der Umwandlung in Fussgängerzonen . . . Allerdings fehlte es an einem Regelsystem für den Verkehr. So sei die Strasse zur Gefahrenzone geworden, schreibt der Autor Daniel Kurz im Kapitel «Das Automobil verändert die Stadt». Zwischen 1926 und 1931 hätten sich die Verkehrsunfälle in Zürich von rund 2000 auf 3200 pro Jahr erhöht. 1934 gab es bereits 4400 Unfälle, 700 Schwerverletzte und 32 Todesopfer. Zum Vergleich: 2006 waren es bei einem Mehrfachen an Verkehr noch 3800 Unfälle, 200 Verletzte und 5 Tote.

Der Verkehr ist nur eines der Dauerthemen im Bereich der Stadtentwicklung: Zentral war und ist die fortschreitende Segregation, die sich in erster Linie in den Wohnbauten ausdrückt. Wo Zürich heute chic ist, nämlich in den ehemaligen Arbeiter- und Industriequartieren im Westen, waren die Lebensbedingungen vor hundert Jahren am prekärsten. Ende 1885, also kurz vor der Eingemeindung, stand Aussersihl vor dem Ruin. Grund dafür waren die jährlich fast tausend mittellosen Menschen, die in der Landwirtschaft kein Auskommen mehr fanden und ihre Hoffnung auf die städtische Industrie setzten. Die Klassenzimmer der Aussersihler Schulen waren mit achtzig bis hundert Kindern überfüllt, Geld für Infrastrukturen war keines vorhanden. Durch den Zusammenschluss mit der Stadt Zürich erhoffte man sich sowohl einen sozialen Ausgleich als auch eine planmässigere Stadtentwicklung. Doch vorderhand verschärfte sich das Problem weiter. Bis zur Jahrhundertwende vermehrte sich die Stadtbevölkerung jährlich um 8000 Personen, was den Bau von 2000 Wohnungen pro Jahr nötig machte – mit entsprechenden Auswirkungen auf den Verkehr und die Grundversorgung mit Gas, Wasser, Gütern und . . . Kultur.

Abstinenzler, Nudisten, Mystiker

In den bisherigen Vororten entstand verdichteter Wohnungsbau, in den privilegierteren Gegenden am See und an den Hügeln des Zürichbergs ein in Zürich neuer Typus, nämlich das mittelständische Einfamilienhaus – mit den Folgen einer sich weiter akzentuierenden sozialen Segregation. Die Blockrandbebauung – bis dahin ein kaum hinterfragter urbaner Bebauungstyp – erhielt den abschätzigen Namen «Mietskaserne». Sozialreformer traten auf den Plan – von Naturheilern über Abstinenzler, Vegetarier, Rohkostler und Nudisten bis zu Tao-Mystikern. Sie alle hatten ihre unfehlbaren Rezepte gegen die drohende Unfruchtbarkeit, das Gespenst der Stillunfähigkeit oder die «Entartung der Rasse» durch ungesundes Leben in der Stadt. Kurz bilanziert dazu trocken: «Die im 19. Jahrhundert formulierten Analysen, Forderungen und ideologischen Konstrukte zur Wohnungsfrage wurden im 20. Jahrhundert zur verinnerlichten und nie mehr hinterfragten Grundlage aller städtebaulichen Theorien.»

Was von diesen Dogmen und Theorien über die Jahre in die gebaute Stadt einfloss, ist bei Kurz im Detail zu lesen: Die Gartenstadt findet ihren Niederschlag ebenso wie der «künstlerische Städtebau» oder der Untergang des Historismus und der Durchbruch des Neuen Bauens. Breiten Raum nimmt in der Publikation der während des Ersten Weltkriegs durchgeführte Wettbewerb für ein Gross-Zürich ein, der es den Stadtbehörden ermöglichte, die Rahmenbedingungen für eine vernünftige Stadtentwicklung zu setzen. Dass in der Vorortsgemeinde Schlieren und im Oberhauserried zwischen Seebach und Opfikon Binnenhäfen vorgeschlagen wurden, gehört zu den absurderen Vorschlägen daraus. Und natürlich stand mehr als einmal die Altstadt zur Disposition. Noch 1933 schlug kein Geringerer als Karl Moser, der einflussreiche ETH-Professor und Architekt von Universität und Kunsthaus, ein Pendant zu Le Corbusiers «Villa Radieuse» am Limmatquai vor: Statt mittelalterlicher Gebäude erhöben sich nach seinen Vorstellungen entlang der Limmat heute elfgeschossige Geschäftshochhäuser.

Insgesamt ermöglicht das Buch dem Leser und der Leserin, die enge Perspektive der eigenen Erinnerung an den Wandel Zürichs auszuweiten und die Stadt wie mit einer Zeitmaschine als gewachsene Struktur wahrzunehmen. Das ist ein höchst kurzweiliges Unterfangen, nicht zuletzt deshalb, weil die Publikation mit historischen Bildern reich illustriert ist. Einziger Wermutstropfen ist das Fehlen eines Registers, das schnellen Zugriff auf einzelne Aspekte oder Orte ermöglichen würde. Als Lese- und Schaubuch hingegen ist der vom Zürcher Büro Prill & Vieceli ansprechend gestaltete, in fast keckem Violett gebundene Band spannend wie ein Krimi – und das ist doch allerhand für eine Doktorarbeit.

[ Daniel Kurz: Die Disziplinierung der Stadt. Moderner Städtebau in Zürich 1900 bis 1940. «gta»-Verlag. 396 S., 320 Abb., Fr. 69.–. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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