Akteur

Kazuyo Sejima
SANAA - Tokyo (J)

„Un­se­re Ge­bäu­de sind nicht luft­dicht“

Der Be­griff „Nach­hal­tig­keit“ wur­de in den letz­ten Jah­ren bis zur Be­deu­tungs­lo­sig­keit miss­braucht. Die ja­pan­is­che Pritz­ker­preis­trä­ge­rin Ka­zuyo Se­ji­ma, die ab Herbst Pro­fes­so­rin an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst in Wien sein wird, ach­tet mit ih­ren Bau­ten die Um­welt aber auf ganz ei­ge­ne Wei­se, wie sie im In­ter­view er­klärt.

4. Juni 2016 - Maik Novotny
Seit 1995 lei­tet Ka­zuyo Se­ji­ma mit ih­rem Part­ner Ryue Nis­hi­za­wa das Bü­ro SA­NAA. 2010 wur­de ih­nen ge­mein­sam der Pritz­ker­preis ver­lie­hen. Ih­re Bau­ten wie das Mu­se­um des 21. Jahr­hun­derts in Ka­na­za­wa, das New Mu­se­um in New York oder die klei­nen Kunst­räu­me, die sie in ei­nem Lang­zeit­pro­jekt auf der In­sel In­uji­ma ver­teilt, zeich­nen sich durch Hel­lig­keit und Leich­tig­keit aus und schei­nen manch­mal ganz in der Land­schaft ver­schwin­den zu wol­len.

Die­se Wo­che war Ka­zuyo Se­ji­ma als Eh­ren­prä­si­den­tin der Ju­ry des Blue Award in Wien. Der die­ses Jahr zum vier­ten Mal ver­ge­be­ne, von der TU Wien aus­ge­schrie­be­ne in­ter­na­tio­na­le Stu­den­ten­wett­be­werb zeich­net Bei­trä­ge zur Nach­hal­tig­keit in Ar­chi­tek­tur und Stadt­pla­nung aus, der Ge­win­ner des Blue Award 2016 wird im Au­gust be­kannt­ge­ge­ben. Mit dem Stan­dard sprach Ka­zuyo Se­ji­ma, die ab Herbst ei­ne or­dent­li­che Pro­fes­sur an der Wie­ner Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst an­tre­ten wird, über die ja­pan­is­che Art des nach­hal­ti­gen Bau­ens und die Har­mo­nie von Haus und Um­ge­bung.

Stan­dard: In den letz­ten Jah­ren hat die ja­pan­is­che Ar­chi­tek­tur mit win­zi­gen, aber re­vo­lu­tio­nä­ren Ein­zel­häus­ern Auf­se­hen er­regt, die von in­nen viel grö­ßer wir­ken als von au­ßen und oft oh­ne ab­ge­schloss­ene Zim­mer aus­kom­men. An­de­rer­seits ist das Ein­fa­mi­li­en­haus nicht die nach­hal­tigs­te al­ler Bau­for­men. Ein Wi­der­spruch?

Se­ji­ma: Aus eu­ro­päi­scher Sicht mag das stim­men. Aber so ein­fach ist es nicht. In Ja­pan gab es schon im­mer ein Gleich­ge­wicht zwi­schen dem Haus und sei­nen Res­sour­cen. Wir be­nüt­zen leich­te Ma­te­ria­li­en, die ein­fach zu trans­por­tie­ren sind. Wenn die Le­bens­span­ne ei­nes Hau­ses en­det, las­sen sie sich gut re­cyc­len. Die Wän­de sind sehr dünn, weil wir kaum Wär­me­däm­mung be­nüt­zen. Das schwü­le Som­mer­kli­ma in Ja­pan er­for­dert gu­te Be­lüf­tung. Hier in Eu­ro­pa bau­en Sie in den Häus­ern schwe­re Tü­ren ein – wie die­se hier! (deu­tet zur Tür). Ei­ne sol­che Tür fin­den Sie in Ja­pan fast nir­gends. Un­se­re Ge­bäu­de sind nicht luft­dicht. Das heißt: Wir den­ken auf ganz an­de­re Wei­se über Um­welt und En­er­gie nach.

Stan­dard: Ih­re Häu­ser auf der In­sel In­uji­ma ver­wen­den tra­di­tio­nel­le Holz­kons­truk­tio­nen. Spielt der Holz­bau ei­ne Rol­le in Ja­pan?

Se­ji­ma: In der Edo-Pe­ri­o­de wur­de in Ja­pan noch über­all mit Holz ge­baut. Dann brann­ten die Häu­ser al­le zehn Jah­re ab und wur­den wie­der auf­ge­baut. Die Wirt­schaft hat al­so vom Feu­er pro­fi­tiert. Heu­te pro­du­zie­ren vie­le ja­pan­is­che Fir­men von der Re­gie­rung sub­ven­tio­nier­te Häu­ser, die 100 Jah­re hal­ten sol­len. Das sind aber kei­ne Holz­häu­ser mehr.

Stan­dard: Ist für nach­hal­ti­ges Bau­en Hight­ech oder Low­tech der bes­se­re An­satz?

Se­ji­ma: Das ist schwie­rig zu tren­nen. Was wir heu­te Hight­ech nen­nen, ist in ein paar Jah­ren schon wie­der ver­al­tet. Wir soll­ten über Tech­no­lo­gien nach­den­ken, aber uns da­bei im­mer der Zeit be­wusst sein, in der wir le­ben.

Stan­dard: 2010 wa­ren Sie Di­rekt­orin der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le Ve­ne­dig, de­ren Mot­to „Peo­ple meet in ar­chi­tec­tu­re“. Wie wich­tig ist der mensch­li­che Fak­tor für nach­hal­ti­ge Ar­chi­tek­tur?

Se­ji­ma: Es ist wich­tig, die Nach­hal­tig­keit aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln zu be­trach­ten – et­wa öko­lo­gi­sche und kul­tu­rel­le Aspek­te, aber auch das Ver­hält­nis des ei­ge­nen Kör­pers zum Raum ist. Was den mensch­li­chen Fak­tor be­trifft: Frü­her war Ja­pan ge­sell­schaft­lich sehr ho­mo­gen, es gab we­ni­ge ganz Rei­che und we­ni­ge ganz Ar­me. Heu­te geht die Sche­re aus­ein­an­der. Aber es gibt po­si­ti­ve Ent­wi­cklun­gen: Äl­te­re ja­pan­is­che Ehe­paa­re, die nach dem Aus­zug ih­rer Kin­der al­lein woh­nen, fan­gen an, ar­me Kin­der zu sich ein­zu­la­den, um zu­sam­men zu es­sen.

Stan­dard: Ih­re Her­an­ge­hens­wei­se an Ar­chi­tek­tur ist von der Su­che nach der Har­mo­nie zwi­schen Ge­bäu­de und Um­ge­bung ge­prägt. Wie er­reicht man die­se Har­mo­nie?

Se­ji­ma: Da­bei sind vor al­lem zwei Din­ge zu be­ach­ten: er­stens die Be­zie­hung zwi­schen in­nen und au­ßen. Ich will kei­ne schwar­zen Kis­ten bau­en, bei de­nen sich nie­mand vor­stel­len kann, was drin­nen pas­siert, und die Leu­te drin­nen nicht re­gis­trie­ren, was drau­ßen pas­siert; zwei­tens die Be­we­gung durch den Raum. Erst wenn man ein Ge­bäu­de durch­wan­dert, ver­steht man es, so­wohl in sei­ner Funk­ti­on als auch in sei­ner Ge­stalt als Gan­zes.

Stan­dard: Wie in Ih­rem 2010 fer­tig­ge­stell­ten Ro­lex Le­ar­ning Cen­ter der Po­ly­tech­ni­schen Hoch­schu­le in Lau­san­ne, das als rie­si­ges, of­fe­nes Raum­kon­ti­nu­um zum Wan­dern, Sit­zen, Lie­gen und Schau­en ein­lädt.

Se­ji­ma: Ge­nau. Aber seit­dem hat sich un­se­re Ar­chi­tek­tur wie­der ver­än­dert. Heu­te den­ken wir mehr über das Ver­hält­nis zwi­schen Ge­bäu­de und Um­ge­bung nach. Zu­erst schau­en wir uns die­se Um­ge­bung ganz ge­nau an, dann über­le­gen wir uns, in wel­cher Be­zie­hung zur Au­ßen­welt je­der ein­zel­ne In­nen­raum ste­hen soll – ob er auf ein Nach­bar­ge­bäu­de, ei­nen Baum oder ei­nen Hof schaut. Ir­gend­wann be­gan­nen wir, un­se­re Ge­bäu­de in ein­zel­ne klein­ere Vo­lu­men auf­zu­tei­len, da­mit je­der Raum ganz für sich mit sei­ner Um­ge­bung kom­mu­ni­zie­ren kann.

Stan­dard: Wie zeigt sich das?

Se­ji­ma: Zum Bei­spiel bei un­se­rem Nis­hin­oya­ma-Pro­jekt in Kio­to. Es ist ein Haus für zehn Fa­mi­li­en, wir woll­ten aber nicht ein­fach zehn Ein­zel­häu­ser bau­en. Al­so ha­ben wir zu­erst ei­ne Va­ri­an­te ent­wor­fen, in dem wir je­des Zim­mer zu ei­nem Haus mach­ten. Das er­gab 70 Häu­ser – das pass­te aber nicht mehr zur Nach­bar­be­bau­ung. Jetzt sind es 21 Dä­cher, un­ter de­nen sich die Zim­mer und In­nen­hö­fe frei ver­tei­len.

Stan­dard: Al­so ein Ge­bäu­de, das wie ein Dorf funk­tio­niert?

Se­ji­ma: Könn­te man sa­gen. Es hat aber auch mit der Stadt zu tun: Die tra­di­tio­nel­len Häu­ser in Kio­to ha­ben al­le In­nen­hö­fe. Ei­ne sehr be­son­de­re Raum­er­fah­rung! Das woll­ten wir bei un­se­rem Pro­jekt wie­der auf­grei­fen.

Stan­dard: Das heißt, al­le Ih­re Bau­ten sind stark mit dem Ort ver­floch­ten, an dem sie ste­hen. An­de­re Ar­chi­tek­ten, et­wa Ihr Lands­mann Shi­ge­ru Ban, der Leicht­bau­kons­truk­tio­nen für No­tun­ter­künf­te kon­zi­piert, bau­en Pro­to­ty­pen, die über­all ste­hen kön­nen. Könn­ten Sie sich vor­stel­len, ein Haus zu ent­wer­fen, das über­all ste­hen könn­te?

Se­ji­ma: Ich ha­be ge­ra­de ei­nen Ex­press­zug ent­wor­fen, des­sen Au­ßen­haut die Land­schaft ref­lek­tiert. Ei­ne sehr spe­ziel­le Auf­ga­be, denn ein Zug ist et­was an­de­res als ein Au­to. Au­to­ty­pen wer­den in Stück­zah­len von Zehn- oder Hun­dert­tau­sen­den pro­du­ziert, ei­nen Zug­typ gibt es viel­leicht 20- oder 30-mal. Das bie­tet die Mög­lich­keit, auch hand­werk­li­che De­tails zu in­te­grie­ren. Ein Stück Ar­chi­tek­tur gibt es im­mer ge­nau ein Mal. Al­ler­dings gibt es vor al­lem in To­kio vie­le Bau­ten, die wie ein Zug oder ein Au­to ent­wor­fen wur­den – als an­ony­me Se­rien­pro­duk­te. Pro­to­ty­pen sind sinn­voll, aber es müs­sen gu­te Pro­to­ty­pen sein.

Stan­dard: An­ders als bei vie­len an­de­ren Sta­rar­chi­tek­ten be­to­nen Ih­re Bau­ten das Ho­ri­zon­ta­le. Übt ein Wol­ken­krat­zer kei­nen Reiz für Sie aus?

Se­ji­ma: Das New Mu­se­um in Man­hat­tan ist zu­min­dest ein Hoch­haus! Ein Wol­ken­krat­zer wä­re si­cher ei­ne span­nen­de Auf­ga­be, aber be­ur­tei­len kann ich das nur, wenn ich den Ort und die Funk­ti­on weiß. An­sons­ten ist es nur ei­ne ab­strak­te Idee, und das ist nicht die Art, wie ich über Ar­chi­tek­tur nach­den­ke.

Stan­dard: Im Herbst wer­den Sie Ih­re or­dent­li­che Pro­fes­sur an der Uni­ver­si­tät für an­ge­wand­te Kunst über­neh­men. Wel­che Ar­chi­tek­tur-Denk­wei­se wer­den Sie den Stu­den­ten ver­mit­teln?

Se­ji­ma: Ich möch­te als Leh­re­rin die Rol­le der Ar­chi­tek­ten in der heu­ti­gen Zeit über­den­ken, und mit den Stu­den­ten ei­ne Zu­kunft für die Ar­chi­tek­tur und für un­se­re Städ­te er­schaf­fen. Ich bin froh, die­se Ge­le­gen­heit zu ha­ben.

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