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Mitten im Achten, mitten in Lourdes
Spectrum

Wie viele der Sechzigerjahre-Baudenkmäler in ihrem spezifischen Design erhalten werden können, hängt von der Finanzierbarkeit einer stiladäquaten Sanierung ab.

13. Februar 2010 - Judith Eiblmayr
Es ist eine einprägsame Szene, die den preisgekrönten Spielfilm „Lourdes“ von Jessica Hausner einleitet: Die Kamera ist aus erhöhter Perspektive in einen hallenartigen Raum gerichtet, offensichtlich ein Speisesaal.Die Esstische werden gedeckt, halbhohe holzverkleidete Pflanzentröge dienen als Raumteiler und verleihen den Sitzgruppen intimen Charakter. Plötzlich fährt ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl „ins Bild“, es folgen andere offensichtliche Patienten, denn sie werden in Rollstühlen hineingeschoben odersteuern langsamen Schrittes auf ihre Plätze zu. Es stellt sich umgehend die Assoziation eines Sanatoriums ein, denn der grünlich-schwarze Steinboden, das dunkelbraune Mobiliar, die große gardinenverhangene Verglasung an der Stirnwand, die gerasterte Decke mit eingelassenen rechteckigen Oberlichtelementen zeugen von einer nüchternen Zweckmäßigkeit im Stil der Sechzigerjahre. Allerdings spielt sich der Raum nicht selbst, sondern er wird bespielt, durch Patienten wie auch Pflegepersonal des Malteserordens, man nimmt straffe Organisation und atmosphärische Strenge war.

Man weiß um die Manipulierbarkeit des Zuseherauges, und doch lässt man sich sofort auf die Bildgeschichte ein, die da von einem Hotel oder eben Sanatorium im Südwesten Frankreichs erzählt. Hier werden die Lourdes-Pilger untergebracht, um auf den zugewiesenen Termin in einer der Kultstätten zu warten und dort um Linderung ihrer körperlichen Leiden zu bitten. Die formale Sachlichkeit des Aufenthaltsraumes wird als reziprok zur Mystik des Ortes Lourdes empfunden, hier drinnen wird professionell vorbereitet, was sich draußen bei den heiligen Stätten wunderbarerweise ereignen könnte. Was man als Zuschauer anfangs noch nicht weiß, ist, dass die geschilderte Raumatmosphäre den Film hindurch prägend sein wird. So eindrücklich die Bilder der heiligen Stätten sind, der Blick auf die handelnden Personen bleibt ohne Kitschaffinität räumlich vorwiegend internalisiert.

Schnitt. Das Studentenheim in der Pfeilgasse 3A in Wien Josefstadt wurde 1962 bis 1967 errichtet und galt damals als die modernste Einrichtung dieser Art in Österreich. Errichter war der Trägerverein „Akademikerhilfe“, eine kirchennahe Organisation, die seit 1921 für Studenten Kost und Logis günstig anbietet. Die ersten beiden neu gebauten Wiener Heime – eines davon in der Pfeilgasse 4–6 – ließ die „Akademikerhilfe“ von Clemens Holzmeister planen, was architektonischen Anspruch erkennen lässt. Beim damals neuen „Pfeilheim“ auf Nr. 3A setzte man nicht nur auf moderne Architektur in Form eines 12-geschoßigen Hochhauses, sondern auch auf ein betriebswirtschaftlich durchdachtes Konzept: Erstmalig wurden Einzelzimmer mit Bad angeboten, um das Haus in den vorlesungsfreien Monaten als „Hotel erster Klasse“ betreiben zu können und somit eine Einnahmequelle zu erschließen. Mit 368 Zimmern war das während dieser Zeit „Hotel Academia“ genannte Heim nach dem Hotel Intercontinental Ende der Sechzigerjahre das zweitgrößte Hotel von Wien.

Kurt Schlauss hat dieses Studentenheim geplant, unverkennbar, wenn man den zeitgleich in Kooperation mit Erich Boltenstern entstandenen Gartenbau-Komplex am Parkring vor dessen Generalüberholung kannte. Über einer zweigeschoßigen Sockelzone erhebt sich ein zehn Stock hoher Bettentrakt, flankiert von etwas niedrigerer Blockrandbebauung. Die schmalen Fensterprofile aus Aluminium sowie die Fassade aus lila-violett-grün-grauem Glasmosaik sind zwar in die Jahre gekommen, legen aber immer noch Zeugnis davon ab, dass man damit versuchte, einem kantigen, hohen Gebäude eine weiche Textur zu verleihen. Im Inneren herrschen die zeittypischen Materialien vor wie Bodenplatten aus hellem Konglomeratstein, dunkle Holztäfelungen, fallweise grünlich-schwarzer Marmor als Säulenverkleidung oder Bodenbelag, eine gardinenverhangene, vergilbte Glaswand mit elegantem vertikalem Knick zum Garten hin. Die dunkelbraunen Tische und Sessel sind übereinander gestapelt, die vertäfelten Tröge mit den Plastikpflanzen ebenso. Und dann realisiert man, dass man sich „mitten im Achten“ mitten in „Lourdes“ befindet. Das Wunder der Reaniamierung eines Mensa-Saals im Sechzigerjahre-Look hielt nur für die Zeit der Dreharbeitenan, jetzt liegt der Saal wieder brach.

Die Großräume der Sechzigerjahre sind nicht nur in ihrer Materialität, sondern oft auch in ihrer Funktion in die Jahre gekommen und müssen erst von Kreativen entdeckt werden, um ihren eigentlichen Zweck als Räume für soziale Interaktionen wieder erfüllen zu können. Während in Schlauss' „Seepavillon im Donaupark“ von 1964 zur Revitalisierung Tanzpartys veranstaltet wurden, dient das „Pfeilheim“ immer öfter als Filmschauplatz. Die Generation der jetzt etablierten Set-Designer wie Katharina Wöppermann, die für die Ausstattung von „Lourdes“ verantwortlich zeichnet, weiß um die strukturelle Qualität dieser Räume, die durch formale Zurückhaltung der Regie Interpretationsspielraum lassen. Gleichzeitig erfolgt durch das „Staging“ eine Fiktionalisierung von Architektur, die immer auch ein Stück emotionaler Geschichte der Filmemacher selbst transportiert. Es sind genau jene Räume aus der Jugend, mit denen man persönliche Gruppenerlebnisse verbindet, wie Schule, Sporthalle oder das Schülerheim am Skikurs. Die originalen Schauplätze fungieren als ein illusionäres Abbild bekannter sozialer Muster. Wie viele dieser „60er-Jahre Baudenkmäler“ in ihrem spezifischen Design erhalten werden können, wird von der Finanzierbarkeit einer stiladäquaten Sanierung abhängen. So manch prominentes Bauwerk jener Zeit, wie das Bundesländergebäude von Carl Appel in der Taborstraße ist längst abgerissen oder – siehe Gartenbaukomplex – durch die Generalsanierung formal stark verändert. Das „Pfeilheim“ wird zumindest durch Filmmaterial auf die Authentizität ihrer „coolen“ Bausubstanz verweisen können – wenn auch in Ort und Zeit fiktional uminterpretiert.

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