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(K)ein Dach wie jedes andere
deutsche bauzeitung

Wohnhausaufstockung In Cehegín (E)

Auch wenn es zunächst nicht danach aussieht – diese Aufstockung unterscheidet sich von den umliegenden Häusern weniger durch die fließenden Formen, die fragile Dachreling oder die einheitliche Polyurethanbeschichtung der Gebäudehülle, als vielmehr durch ihre wunderbare Inszenierung von Außenraumbezügen.

10. September 2012 - Roland Pawlitschko
Abseits der Touristenzentren am Mittelmeer liegt die südostspanische Kleinstadt Cehegín in einer der trockensten und sonnigsten Regionen Europas. Umgeben von einem kompakten Stadtgefüge sowie einem Gürtel aus Gewerbebetrieben und vereinzelten Eigenheimen, bildet ein Kirchplatz den höchsten Punkt der kleinen Altstadt. Von hier aus schweift der Blick über eine karge Hügellandschaft mit Wäldern, Marmorsteinbrüchen, Mandel-, Oliven- und Pfirsichbaumplantagen. Obwohl auf einer Anhöhe am südlichen Stadtrand gelegen, und obwohl es sich hierbei um das derzeit mit Abstand ungewöhnlichste Bauwerk der Stadt handelt, ist die Casa Lude von hier aus kaum zu erkennen.

Klar, die auf ein zweigeschossiges Wohnhaus der 60er Jahre aufgepflanzte Aufstockung liegt knapp einen Kilometer entfernt, verfügt über eine Grundfläche von nur 81 m² und ist nicht höher als seine Nachbargebäude. Aus der Nähe wirkt sie weit weniger spektakulär als Fotos es vermuten lassen. Da das Nebeneinander unterschiedlicher Kubaturen und Gebäudeformen hier ebenso zur Normalität gehört wie große fensterlose Wandflächen, schräge Dächer, auskragende Erker und weitläufige Dachterrassen, integriert sich der Neubau – trotz aller Expressivität – städtebaulich erstaunlich gut in sein Umfeld. Dass es darüber hinaus freilich keinerlei Gemeinsamkeiten gibt, zeigt am deutlichsten ein Rundgang durch sein Inneres.

Strasse und Landschaft im Leuchtkasten

Der Weg dorthin führt zunächst ins dunkle Treppenhaus des L-förmigen Nachbargebäudes – eine eigene Treppe gab es auch vor 20 Jahren nicht, als die Eltern des Bauherrn das Haus kauften. Befand sich hinter der Tür im 2. OG vor Baubeginn lediglich eine Abstellkammer mit begehbarer Dachfläche, offenbart sich dort heute ein zweigeschossiges, weitgehend weißes und scheinbar lediglich aus Licht und Schatten bestehendes Raumkontinuum. Das anfängliche Gefühl fast klösterlicher Introvertiertheit verschwindet unmittelbar nach Durchqueren des sparsam möblierten Wohn-Ess-Kochbereichs, wenn Straßenraum und dahinter liegende Berge in den raumhohen Erkerfenstern wie ein sorgsam inszeniertes Großformatdia im Leuchtkasten erscheinen. Wirklich überwältigend sind aber erst die Aussicht von der Dachterrasse im oberen Geschoss und das 360°-Panorama auf der Dachfläche. Umso verwunderlicher ist es, wenn beim Blick über Cehegín und die weitläufige Hügellandschaft auffällt, dass keines der Nachbargebäude über ähnliche Außenraumbezüge verfügt und Dächer entweder gar nicht, nur zum Wäschetrocknen, als Ablageflächen für Sperrmüll oder zur Unterbringung von Haustieren genutzt werden.

Sämtliche Vorzüge dieses Bauplatzes in sieben Metern Höhe voll auszuspielen – diese Idee bildete für Martín López, Architekt und Partner im Büro Grupo Aranea, den Ausgangspunkt der Planung. Konkrete Entwurfsvorgaben erhielt er zuvor weder vom Auftraggeber, ein Grundschul- und Musiklehrer und Jugendfreund, noch von dessen im unteren Teil des Gebäudes wohnenden Verwandten. Dafür zeigten sie sich alle erstaunlich aufgeschlossen und ließen den Architekt nach zahlreichen gemeinsamen Vorgesprächen mehr oder weniger unbehelligt an die Arbeit gehen.

Funktionalität statt akademischer Kunstintervention

Nach Präsentation des ersten Konzepts, das letztlich ohne grundlegende Veränderungen realisiert wurde, rieb sich die Familie zunächst erstaunt die Augen. Zahlreiche Papp- und CAD-Modelle machten jedoch schnell klar, dass die für lokale Sehgewohnheiten ungewöhnliche Architektursprache und die fließenden Räume keine akademische Kunstintervention darstellten, sondern eine auf die Bedürfnisse des alleinstehenden Bauherrn zugeschnittene, überaus funktionale Maisonettewohnung. Beispielsweise ermöglicht die Lage der Erkerfenster im offenen Wohn-Ess-Kochbereich bzw. Schlafzimmer nicht nur den gerahmten Blick in die Umgebung, sondern auch ein hohes Maß an Privatsphäre, während die schattenspendenden äußeren Rahmen dafür sorgen, dass in den heißen Sommermonaten zwar viel Licht aber keine direkte Sonneneinstrahlung in die Wohnung gelangt. Bei geöffneten Fenstern durchströmt am Nachmittag außerdem ein angenehm kühler Ostwind die Innenräume, weshalb auf eine Klimaanlage – zumindest bisher – verzichtet werden konnte.

Im oberen Geschoss befinden sich u. a. offene Arbeitsbereiche sowie die nach Osten ausgerichtete Terrasse, auf der es v. a. an heißen Sommernachmittagen angenehm kühl bleibt. Die über steil ansteigende Sitzstufen erreichbare, komplett nutzbare Dachfläche eignet sich hingegen eher für die Wintermonate oder sommerliche Abend- und Nachtstunden. Zur komfortablen Nutzung dieser Fläche stehen in einer niedrigen Wandscheibe Beleuchtungselemente, Wasser- und Stromanschlüsse bereit. Dass Partys am besten mit begrenzten Alkoholmengen und ohne Kleinkinder stattfinden sollten, versteht sich angesichts der filigranen Dachreling von selbst. Die über zwei Geschosse wogende Metallrohrkonstruktion resultiert aber nicht nur aus dem Willen nach einem eleganten Kontrast zur kantig kristallinen Form der Aufstockung; sie ist vielmehr auch unmittelbare Folge baurechtlicher Einschränkungen – massive Brüstungen hätten schlicht zu einer Höhenüberschreitung geführt.

Den Baubeginn markierte der Abbruch der alten Dachdecke über dem 1. OG. Diese Maßnahme war notwendig geworden, um eine tragfähige Grundlage für die darüber geplante Skelettkonstruktion aus Stahlstützen und Betondecken zu schaffen. Grundsätzlich hatte sich die Statik des Sockels als tragfähig erwiesen, sodass der Einbau zusätzlicher Tragstrukturen überflüssig war – u. a. auch weil vertikale Lasten des Neubaus ausschließlich direkt in die bestehenden Wände des Altbaus einfließen. Und um Gewicht zu sparen, wurden zwischen die statisch wirksamen Bereiche der Stahlbetondecke großflächige Styroporelemente eingelegt. Die Decken zum DG und zur Dachfläche liegen auf dünnen Stahlstützen, sämtliche Innen- und Außenwände sind aus nichttragendem Mauerwerk ausgeführt. Eine reine Stahlkonstruktion kam allein aus Kostengründen nicht infrage. Zugleich hätte sie aber auch über zu wenig Speichermasse für die wärmende Wintersonne verfügt – aufgrund der Lage Cehegíns knapp 600 m über dem Meeresspiegel sind Winternächte mit mehreren Minusgraden keine Seltenheit. Daher erhielten alle Außenwände und -decken mit Gipskartonplatten verkleidete Innendämmungen. Nach außen wurden die gemauerten bzw. betonierten Wände und Decken zunächst glatt verputzt und dann mit einer dreilagigen grauen, als Dachabdichtung und fertige Fassadenoberfläche dienenden Polyurethanbeschichtung überzogen. Die Farbauswahl basiert dabei nicht zuletzt auf finanziellen Überlegungen. Zur Ausführung kam Grau – Farbtöne außerhalb der vier Standardfarben Rot, Grün, Weiß und Grau – hätten zwar problemlos gemischt werden können, wären aufgrund der kleinen Fläche unverhältnismäßig teuer geworden.

Die Einhaltung des relativ knappen Baubudgets war bei fast jeder Entscheidung bestimmend: bei der Polyurethanbeschichtung und der Dachreling ebenso wie bei der Wahl der hybriden Primärkonstruktion und den Styroporeinlagen in der Decke. Dennoch entstand ein konstruktiv vielleicht etwas heterogener, aber in sich konsequenter und v. a. räumlich absolut stimmiger Dachaufbau. Dass die Gebäudehülle heute nicht mehr ganz so elegant in der Sonne schimmert wie kurz nach der Fertigstellung, liegt an den seltenen, mitunter aber sehr heftigen Regenschauern, die sich mit abgelagertem Staub mischen und an den Fassaden Schlieren hinterlassen – der größte Teil des auf der Dachfläche anfallenden Niederschlags wird über einen am Fuß der Dachreling angebrachten Stahlwinkel in ein vertikales Fallrohr geleitet. Die etwas verblasste Fassade vermag die einzigartige Ausstrahlung der Casa Lude jedoch kein bisschen zu schmälern. Im Gegenteil: Sie lässt die Aufstockung in ihrem Umfeld noch selbstverständlicher wirken. Und auf die wunderbare Inszenierung von Raum und emporgehobenem Außenraum hat sie ohnehin keinen Einfluss.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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