Bauwerk

Bürohochhaus SIE
Marte.Marte Architekten - Lustenau (A) - 2002
Bürohochhaus SIE, Foto: Bruno Klomfar

Chips in Haute Couture

Die Bauaufgabe war an sich banal. Das Objekt aber, das Marte.Marte in den Lustenauer Gewerbepark gestellt haben, ist alles andere als banal. Es könnte sich baukünstlerisch auch im großstädtischen Raum ohne weiteres behaupten.

6. September 2003 - Liesbeth Waechter-Böhm
Gewerbegebiete sind in der Regel die „Nicht-Orte“ unserer städtischen Peripherien. Auf ganz ungebührliche Weise wuchern sie in die Landschaft hinaus, zersiedeln sie, ohne doch jemals Stadt, und sei es nur „Satellitenstadt“, zu werden. Gewerbegebiete sind öd. Ich kenne keines, wo ich hinfahren würde, einfach, um es zu „erleben“. Man fährt notgedrungen hin, weil man dort zu tun hat, sonst lässt man es bleiben.

Das gilt zwar grundsätzlich auch für den Millenniumspark in Lustenau. Aber eben nur grundsätzlich. Denn zumindest für Architekturinteressierte stellt er die unbedingt sehenswerte, die große Ausnahme dar. Einfach weil hier vorweg - städtebaulich - geplant, geordnet wurde. Da steht nichts kreuz und quer, da gibt es vielmehr eine erkennbare und überschaubare Struktur der Bebauung, die zwar nur durch ganz einfache und rigide Erschließungswege gegliedert ist, aber immerhin.

Nun muss man natürlich sagen: Auch der beste Städtebau entfaltet keine Wirkung, wenn die gebauten Objekte nicht interessant, wenn sie nur ökonomisch, billig und folglich meistens auch dümmlich sind. Genau das ist es aber, was den Millenniumspark zur großen Ausnahme macht: Hier lohnt es sich wirklich, die einzelnen realisierten Objekte - sie stammen von Baumschlager & Eberle bis Dietrich.Untertrifaller - in Augenschein zu nehmen.

Neuestes Highlight: das „SIE“-Gebäude von „Marte.Marte Architekten“. Es ist wirklich etwas Besonderes. Es könnte überall stehen, sogar mitten im großstädtischen Raum. Der baukünstlerische Anspruch ist einfach so umgesetzt, dass sich das Gebäude in seiner architektonischen Qualität unabhängig vom Umfeld behauptet.

Das Haus beherbergt ein Unternehmen, das sich mit Elektronik beschäftigt. Was immer das ist, hier findet Chip-Handel statt, hier werden aber auch Maßanfertigungen für spezielle Aufgaben entwickelt, also elektronische „Haute Couture“.

Kommen wir zur Architektur. Die ist einfach großartig. Ist es ein Hochhaus? Keineswegs. Auch wenn es nach der herrschenden Baugesetzgebung unter diesem Titel firmiert. Nein, es ist bloß ein hohes Haus. Ein Haus mit Erdgeschoß und fünf Obergeschoßen. Knapp 26 Meter hoch, also weit höher als die empfohlene Bebauungshöhe im Millenniumspark, die sieht etwa zwölf Meter vor. Macht aber nichts, dadurch, dass das Haus ganz in der Tiefe der Fläche des Gewerbeparks liegt, setzt es einen abschließenden Akzent. Städtebaulich ist es also in Ordnung.

Architektonisch ist es etwas Besonderes. Denn es ist ein Haus ohne Regelgeschoß: Kein Geschoß ist wie das andere. Reden wir gar nicht davon, dass es erst einmal einen Bauherrn braucht, der sich auf eine solche ökonomische Regelwidrigkeit einlässt. Reden wir nur davon, was ein solches architektonisches Konzept im größeren Zusammenhang üblicher Verwaltungs- und Produktionsgebäude für einen Stellenwert behauptet. Die Botschaft ist eindeutig: Selbst in Zeiten der ökonomisch bedingten architektonischen Banalität ist so etwas wie Baukunst möglich ist. Auch bei solchen Aufgaben.

Von außen erscheint das Haus sehr, sehr transparent. Das ist aber zu einfach. Denn das erste Obergeschoß - dort ist das Lager situiert - präsentiert sich hermetisch verschlossen. Es hat schmale Lichtschlitze und an einer Seite einen Fassadenteil, der aus dem rechten Winkel verschwenkt ist.

Für die Gestalt des Gebäudes ist dieser geschlossene Fassadenteil unheimlich wichtig. Die Wirkung der riesigen Glastafeln darüber - Formate im Bereich von zwei Metern Breite und sechs Metern Höhe oder von drei Metern Höhe und vier Metern Breite, wobei jede dieser Glastafeln ungefähr eine bis eineinhalb Tonnen schwer ist -, die ist natürlich toll. Die Gebäudehaut erscheint dadurch viel homogener, als das normalerweise der Fall ist. Und sie macht etwas auch nach außen sichtbar, was man so ja gar nicht glauben würde: dass jedes Geschoß eine andere Raumhöhe hat.

Sie hatten wirklich einen großartigen Bauherrn. Sonst wäre das sicher nicht gegangen. Man kommt in einen sehr niedrigen Empfangsbereich hinein - 2,60 Meter und weniger -, und als Besucher fährt man dann mit dem Lift ins oberste Geschoß, das ausschließlich der Verwaltung vorbehalten ist. Das ist übrigens das Geschoß, das baulich am wenigsten „kann“. Es ist völlig normal, drei Meter hoch, mit einer Besprechungszone im Kern. Mehr braucht es hier aber auch nicht, die Aussicht ist so sensationell, dass sich alles andere erübrigt.

Im Geschoß darunter sind die 4,50 Meter Raumhöhe schon eine Kategorie für sich. Das gibt es selten. Und noch seltener gibt es eine Cafeteria mit acht Metern Raumhöhe. Das Haus hat alles das. Es ist dabei intern völlig logisch, für den Blick des Außenstehenden aber doch ungewöhnlich organisiert: ganz unten Empfang, auch Anlieferung und Versand, darüber Lager (der Grundwasserspiegel ist hier so hoch, dass es viel zu riskant wäre, die empfindlichen Elektronikteile in einer Kellersituation aufzubewahren), dann Produktion, schließlich Entwicklung und ganz oben Verwaltung.

Wie gesagt, das Haus hat viele Besonderheiten. Architektonisch vorgesehene und andere. Zu den anderen gehört die Anlieferungsrampe, „der angenehmste Ort des Hauses“ (so die Architekten), wo sich die Mitarbeiter eine Art unkontrollierten Freibereich erobert haben; dann gibt es den Balkon im Produktionsbereich; schließlich den sechs Meter auskragenden, ganz schmalen Balkon, der irgendwie die Corporate Identity des Hauses ausmacht - als Raucherbalkon erfüllt er allemal einen Zweck.

Marte.Marte haben sogar die Erschließung speziell gelöst. Es gibt kurze interne Wege, einerseits in Form einer richtigen Stiegenhausskulptur, einer runden Wendeltreppe, und andererseits in Form einer sehr langen, geraden Treppe. Das erscheint zusätzlich zu Lift und Fluchttreppenhaus aufwendig, ist aber offenkundig praktisch, denn diese Treppen werden andauernd benutzt.

Eine andere Besonderheit findet sich auf der obersten, der Verwaltungsebene: Es ist eine Art Nachdenk-Raum, der sich durch Vorhänge zu einer Variante des Beduinenzelts schließen lässt.

Und vor allem gibt es die räumlich großartige Cafeteria, auf die ein Innenbalkon orientiert ist: Die gewaltige Raumhöhe - die Glastafeln an der Fassade sind sechs Meter hoch! - verlangt geradezu nach einem solchen architektonischen Aperçu.

Die Architekten haben sich auf ganz wenige Materialien beschränkt: Sichtbeton in hervorragender Ausführungsqualität, Glas (Dreifachgläser) in den erwähnten riesigen Formaten, gehalten von natureloxierten Aluminiumprofilen, die helle Farbigkeit von Birkensperrholz an Wänden und Decken (aus akustischen Gründen), schließlich ein schwarzgrauer Filzbelag auf dem Boden. Letzterer war notwendig, weil er erstens antistatisch und zweitens ableitfähig ist, und obendrein konnte man ihn in 60-mal- 60-Zentimeter-Elementen verlegen, ohne dass man die Fugen allzu deutlich (eigentlich fast gar nicht) sieht. Das war wichtig, weil darunter ein Doppelboden ist, in dem die ganze Technik geführt wird, und zu der muss man gegebenenfalls auch dazu können.

Die Architekten geben übrigens recht freimütig zu, dass das Gebäude kein Vorzeigeobjekt des Energiesparens ist, um es einmal so zu formulieren. Es ist natürlich voll klimatisiert. Aber es liegt nicht oder nicht allein an der Glasfassade, dass hier besonders in der warmen Jahreszeit recht aufwendig gekühlt werden muss.

Die Fassadengläser mit ihren sonnenschutzbeschichteten Dreifachgläsern und ihrem im Abstand von einem halben Meter innenliegenden, zusätzlichen Blendschutz, die leisten ohnehin sehr viel. Im Produktionsbereich aber, wo bei manchen Teststationen sechzig Computer gleichzeitig laufen, da entsteht so viel Wärme, dagegen kommt auch die beste Fassadentechnologie nicht auf.

Um so etwas wie ein Resümee zu ziehen: Man muss dem Bauherrn und den Architekten attestieren, dass sie ein rundum ungewöhnliches, weil so besonderes Gebäude in den Lustenauer Millenniumspark gestellt haben. Und um es noch einmal und nachdrücklich zu wiederholen: Es ist einfach wundervoll, wenn Architektur, wenn gebaute Objekte auch Momente beinhalten, die nicht unbedingt notwendig sind. Die Großzügigkeit des Unnützen ist es, die wir heute so sehr vermissen. Wo für sie auch noch Raum (und Geld) vorhanden ist und wo Architekten planen, die das entsprechende Feeling für das gebaute Detail haben, da kann sogar bei einer so banalen Bauaufgabe wie einem Objekt in einem Gewerbepark wirklich etwas entstehen.

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