Bauwerk

Musterwohnhausanlage
Helmut Christen - St. Pölten (A) - 1995
Musterwohnhausanlage, Foto: Margherita Spiluttini

Der Sieg über das Satteldach

Nobel und unspektakulär steht sie da, die Musterwohnhausanlage von Helmut Christen in St.Pölten - realisiert gegen den ursprünglichen Widerstand der Bauträger. Chronik eines Langzeitprojekts.

30. März 1996 - Liesbeth Waechter-Böhm
Man kann über die niederösterreichischen Bauaktivitäten vieles sagen, aber sicher nicht, daß der Wohnbau ein architektonisch relevantes Thema sei. Die Satteldachwirklichkeit läßt sich nicht wegzaubern. Das hat auch Architekt Helmut Christen vom Wiener „Atelier in der Schönbrunner Straße“ zu spüren bekommen, als es um die Realisierung einer Musterwohnhausanlage in St. Pölten ging. Christen hat den zweistufigen, landesweit offenen Wettbewerb für diese Wohnanlage im Frühsommer 1992 für sich entschieden. Nur war damit noch nichts gesagt: Denn erst danach, im Kampf um die möglichst ungeschmälerte Realisierung, nahm das Leiden für Architekt und Mitarbeiter so richtig seinen Anfang.

Die erste Runde ging an die Bauträger: Ursprünglich waren es vier, weil die Tiefgarage aber einem Parkplatz weichen mußte, reduzierten sich auch der Baugrund und in der Folge die Anzahl der Bauträger - am Ende waren derer nur noch drei. Und alle drei erklärten unisono: Das ist sehr schön, Herr Architekt, was Sie da geplant haben - aber bauen kann man das natürlich nicht.

Was ist es, was man so gar nicht bauen kann? Es ist eine Wohnanlage auf der grünen Wiese, die in ihrer endgültigen Form 147 Wohnungen umfaßt, davon 40 Apartments, in einem städtebaulich als Rückgrat der Anlage ausgebildeten Block, und 107 Wohnungen - zwischen 50 und 90 Quadratmetern. Was die Bauträger am meisten schockierte: Die Häuser haben keine Satteldächer, sondern Flachdächer, außerdem erreicht Christen durch das Herauslösen der Stiegenhäuser aus seinen Wohneinheiten eine lebendige Gliederung.

Christen zielte auf zweierlei: Erstens sollten alle Wohnungen gleichwertig sein; das wurde durch die konsequente Ost-West-Orientierung erreicht. Die Eingangsbereiche und Schlafräume sind stets im Osten gelegen, nach Westen orientieren sich die individuellen Freiräume und die Wohnbereiche. Zweitens sollte es, auch als Gegensatz zur Gleichwertigkeit der Wohnungen, eine Differenzierung in der Bedeutung der Freiflächen im Siedlungskörper geben. Christen macht die Aufschließung sichtbar: wie einer nach Hause kommt, weggeht, den Kinderwagen vor der Tür abstellt. Der Grundgedanke war, daß durch die Darstellung solcher Funktionen in den Gassenräumen der Siedlung Leben und Kommunikation entstehen könnten.

Christen relativierte den reinen architektonischen Raum, wie er zwischen den rhythmisierten Einzelgebäuden besteht, zu einer Art kollektivem Wahrnehmungsraum. Man müßte viel ausführlicher vom Entstehungsprozeß dieser Anlage reden: davon, daß mehr als ein Jahr über Wohnungsgrundrisse und Materialien diskutiert wurde; davon, daß eine eigene Errichtungsgesellschaft gegründet werden mußte, weil klar war, daß die Wohnbauträger, auf sich gestellt, das Projekt zu Fall bringen würden; davon schließlich, daß am Ende der pensionierte Landeshauptmann Siegfried Ludwig zum Repräsentanten des größten Wohnbauträgers mutierte und in dieser Eigenschaft die Realisierung forcierte, indem er ultimativ auf einem Entweder-Oder bestand.

Man glaubt all das kaum, wenn man St. Pöltens Musterwohnhausanlage jetzt betrachtet - sie gibt sich so nobel und unspektakulär, so gar nicht laut oder aufdringlich. Der Hauptzugangssituation in die Anlage ist ein signifikantes, zweigeschoßiges Parkdeck vorgeschoben, das nur durch ein transparentes Flugdach gedeckt ist: Nachdem die Tiefgarage gefallen war, mußten 150 Parkplätze geschaffen werden. Christen: „Die Gefahr war groß, daß das Ganze zum Parkplatz mit Häusern wird.“ Ein Großteil der Autos ist nun wirklich auf einem Parkplatz untergebracht, der kleinere Teil steht im zweigeschoßigen Parkdeck.

Gleich hinter diesem öffnet sich eine der Gassen, die Christen als Wegesystem durch seine Anlage gelegt hat. Sie führt entlang des Rückgrats dieser Siedlung: Es ist der Apartmentblock, der massiv dasteht, nur durch drei Einschnitte gegliedert. Christen hat sich für eine Laubengangerschließung entschieden. Und er hat die Erdgeschoßzone des Apartmentblocks frei gelassen. Im Wettbewerb wurde diese Zone noch als „überdachter Marktplatz“ tituliert; damals wurden für ihre Nutzung eine Sauna, ein Café und ein Kinderhäuschen vorgeschlagen. Nichts davon wurde realisiert, aber die baulichen Vorkehrungen dafür wurden getroffen, sodaß die Mieter einen Entwicklungsspielraum vorfinden, den sie nach Belieben nützen können. Rechter Hand vom Apartmentblock öffnet sich der gedeckte Marktplatz auf einen dreieckigen grünen Platz, der prädestiniert ist als Spielfläche für Kinder.

Der Apartmentblock ist nicht exakt in der Mitte in die Anlage hineingeschoben, sondern asymmetrisch. So ergeben sich links und rechts davon unterschiedlich ausgedehnte Wohnhausformationen, die durch die offenen Stiegenhäuser, die betonten Eingangssituationen und die deutlich erkennbaren Freiflächen, die jeder Wohnung zugeordnet sind, eine spezielle Charakteristik erhalten.

Ursprünglich war jeder Wohnung ein Freibereich zugeordnet, doch dann kam es in Niederösterreich zu einer Änderung der Wohnbauförderung, sodaß die 110-Quadratmeter-Wohnungen, die Christen teilweise vorgesehen hatte, nicht mehr finanzierbar waren. Man teilte die Wohneinheiten jeweils in eine Wohnung mit zirka 70 und eine „Einliegerwohnung“ mit etwa 50 Quadratmetern, wobei letztere keine Freiflächen hat. Wichtig ist, daß die angebotenen Freiflächen auch sinnvoll genutzt werden können. So ein Mietergarten in der Erdgeschoßzone ist zwischen 40 und 50, eine Terrasse 25 bis 30 Quadratmeter groß. Die Mieter sind im Spätherbst oder Winter in die Anlage eingezogen. Viele von ihnen kommen aus Wien oder jedenfalls aus einem herkömmlichen Geschoßwohnungsbau, in dem der Hausmeister für einen schneefreien Gehsteig zu sorgen hat. Die offenen Stiegenhäuser müssen vom Schnee gereinigt werden, aber den Hausmeister, der den Bewohnern diese Arbeit abnehmen würde, gibt es hier nicht. Es ist wirklich wie auf dem Land: Dort schaufelt auch jeder vor seiner eigenen Tür.

Aus architektonischer Sicht vermitteln die Häuser in mehrfacher Hinsicht einen angenehmen Eindruck: Erstens scheinen sie modulartig aufgebaut und nach oben „ausgedünnt“; das legt die Vermutung nahe, die Häuser könnten in Skelettbauweise errichtet sein. Tatsächlich war es ursprünglich so gedacht; doch die Ziegellobby ist hierzulande unschlagbar. So bestehen die Häuser jetzt aus 25 Zentimeter starkem Hohlblockmauerwerk. Ein zweiter Aspekt, der die Häuser angenehm erscheinen läßt, ist die beschränkte Materialvielfalt. Das fängt damit an, daß Christen hauptsächlich „Nichtfarben“ wie Weiß und Grau verwendet hat - außer in den Einschnitten des Apartmentblocks, wo auch Rot und Gelb auftauchen, und bei den Beschriftungen.

Sonst sieht man nicht viel mehr als Holz (an den Fenstern, als Belag auf den Terrassen, als Abgrenzung bei den Vorgärten), Glas und verzinktes Metall. Christens Wohnanlage ist dabei nicht minimalistisch, sie ist auch nicht puristisch. Aber sie bleibt bei der Sache.

Bei einer internen Besprechung mit seinen Mitarbeitern, erzählt Christen, sei man zum Resümee gekommen, daß man sich gut geschlagen habe: An die 95 Prozent der Zielvorstellungen seien verwirklicht worden. Außerdem habe das Büro eine Menge gelernt, zum Beispiel, wie man argumentativ gegen Vorurteile ankämpft.

Als distanzierter Beobachter tut man sich mit solchen Einsichten schwer. Man tut sich überhaupt schwer mit dem Verhalten gewisser Bauträger und fragt sich: Leben die eigentlich auf dem Mond? Wieso kann eine Wohnanlage wie die von Christen geplante zu einem derartigen Langzeitprojekt werden? Warum kann einer allen Ernstes sagen: Das ist ja sehr schön, was Sie da geplant haben, Herr Architekt, aber daß es nicht baubar ist, wissen Sie schon?!

Schauen sich Bauträger eigentlich manchmal Architekturzeitschriften an, informieren sie sich an Ort und Stelle darüber, was anderswo gebaut wird? Es bleibt zu vermuten, daß sie es nicht tun. Sonst wäre ein so absurdes Verhalten gegenüber einer absolut nicht modischen, substantiell auf die Wohnqualität hin entwickelten Architektur schwer vorstellbar. Oder ist es denkbar, daß heute jemand argumentiert, man dürfe Wohnhäuser ohne Satteldach nicht bauen?

So wird es in Wahrheit natürlich nie ausgedrückt, die Argumentationen sind viel subtiler. Trotzdem laufen sie darauf hinaus, daß ein Haus mit Flachdach und offenem Stiegenhaus nicht baubar ist. Christen hat sich mit keiner gängigen Architekturmode, er hat sich nicht mit dem Zeitgeist gemein gemacht. Er hat klar und rigoros die Schwerpunkte der Planung für sich festgelegt. Über sein Prinzip, daß alle Wohnungen gleichwertig sein müssen, könnte man streiten. Andererseits kann man dem Architekten auch wieder folgen, wenn er sagt: Wer in eine solche Wohnanlage zieht, erwartet sich, daß seine Wohnung nicht schlechter ist als jene des Nachbarn. Da ist etwas dran.

Im übrigen: Gar nicht weit entfernt von Helmut Christens Wohnanlage entsteht gerade eine zweite „Musterwohnanlage“ - von den Vorarlberger Architekten Carlo Baumschlager und Dietmar Eberle. Sie wächst in rasantem Tempo vor sich hin. Vielleicht sind - allen gegenteiligen Vermutungen zum Trotz - sogar Bauträger lernfähig?

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