Bauwerk

Umnutzung U-Boot-Bunker
LIN - Saint-Nazaire (F) - 2007
Umnutzung U-Boot-Bunker, Foto: Christian Richters / ARTUR IMAGES
Umnutzung U-Boot-Bunker, Foto: Christian Richters / ARTUR IMAGES

Vom Betonmonster zum Kulturzentrum

Wie sich eine französische Hafenstadt um einen deutschen U-Boot-Bunker herum neu erfindet

Ab 1941 erbauten die deutschen Besetzer in Saint-Nazaire eine riesige U-Boot-Basis. Die durch diesen Betonwall lang vom Meer abgeschnittene Stadt nähert sich langsam wieder ihrem Hafen an.

25. September 2007 - Marc Zitzmann
Saint-Nazaire war eine der letzten Städte Europas, die 1945 befreit wurden. Nach der Eroberung der wichtigsten bretonischen Häfen im Spätsommer 1944 wurde für die Alliierten die Einnahme der Stadt an der Loiremündung strategisch zweitrangig. Das Gros der Truppen zog weiter in Richtung Berlin und überliess die «Festung Saint-Nazaire» ihrem Schicksal. So dauerte es noch lange Monate, bis die von 28 000 feindlichen Soldaten gehaltene, 1500 Quadratkilometer grosse Enklave, in der 130 000 Zivilisten eingeschlossen waren, kapitulierte. Erst am 11. Mai 1945 übergab der Festungskommandant symbolisch seine Waffe einem amerikanischen General.

Bomben auf den Bunker

Den Alliierten, die an jenem Tag in Saint-Nazaire einzogen, bot sich das Bild einer verwüsteten Geisterstadt dar. Nach 62 Bombardierungen waren von den vormals 8000 Häusern nur noch 100 unversehrt; die Anfang 1943 mehrheitlich evakuierten Bewohner fristeten in Unterschlüpfen auf dem Land oder an der Küste ein prekäres Dasein. Grund für den Abwurf von insgesamt 3500 Tonnen Bomben über der Stadt war die ab 1941 erbaute U-Boot-Basis, mit ihren 14 Becken für insgesamt 20 U-Boote eine der grössten des Atlantikwalls. Da die Decke des 300 Meter langen, 130 Meter breiten und 18 Meter hohen Betonkubus sich als resistent gegen alle Bomben erwies, suchten die Alliierten dem Stützpunkt durch die Zerbombung der Stadt die Versorgungsbasis zu entziehen. Der Bunker hielt bis zum Kriegsende durch, aber Saint-Nazaire fiel in Schutt und Asche.

Kein Wunder, wandte die Stadt nach 1945 dem Hafen und dem dortigen Stützpunkt, der wie ein Monolith die Sicht auf das zentrale Bassin de Saint-Nazaire versperrte, den Rücken zu. Das Zentrum verlagerte sich landeinwärts, wo die Architekten der Reconstruction unter der Leitung von Jean-Noël Le Maresquier entlang dem streng orthogonalen Strassenraster um die neu geschaffene Rue de la République monotone Häuserreihen errichteten. Die geduckten Gebäude mit ihren kleinbürgerlichen Fassaden atmen den Mief der Provinz – dies im Gegensatz zur aristokratisch-grandiosen, von ozeanischen Lüften durchwehten Monumentalität des von Auguste Perret wiederaufgebauten Le Havre.

Um 1980 glich der Hafen von Saint-Nazaire einem industriellen Niemandsland – auf überwucherte Hangars und verrostete Bahngleise fiel der Schatten eines Totentempels: des U-Boot-Bunkers. Die neue «Demarkationslinie», welche die Stadt vom Hafen trennte, war umso widernatürlicher, als das einstige Fischerdörfchen sein von Zeitgenossen Mitte des 19. Jahrhunderts als kalifornisch rasant bezeichnetes Wachstum just seiner Funktion als Vorhafen von Nantes verdankte. Nach der Eröffnung des Beckens 1856 wurde Saint-Nazaire zum Sitz der Compagnie Générale Transatlantique und später zu einer der grossen Schiffsbauwerften der Welt.

Lichtspiele und Architekturprojekte

Die Regeneration der vom Niedergang der Schiffbauindustrie lange stark in Mitleidenschaft gezogenen Stadt begann vor 25 Jahren. 1982 diagnostizierte eine Studie die Gründe für Saint-Nazaires flaue, wenn nicht gar negative Identität: das mangels Zentrum einförmige Stadtbild, die fehlende Gestaltung des öffentlichen Raums, die Abgeschnittenheit vom Strand im Süden und vom Hafen im Osten. Ein 1988 auf halber Strecke der Avenue de la République von Claude Vasconi erbautes Einkaufszentrum, im Volksmund «Le Paquebot» genannt, bot allenfalls durchschnittliche Architektur, symbolisierte mit seinem nautischen Vokabular aber den Beginn der Wiederannäherung zwischen Stadt und Hafen. Und auch die Wiedergeburt der Schiffbauindustrie, dank Aufträgen für den Bau von Kreuzfahrtschiffen wie der «Sovereign of the Seas» (1985) oder der 2003 vom Stapel gelaufenen «Queen Mary 2», dem grössten Passagierdampfer der Welt.

1991 inszenierte der Lichtkünstler Yann Kersalé die allnächtliche Illumination der Docks – ein Spektakel voller bunter Lichter und geheimnisvoller Schatten und ein wichtiger Schritt, um den Hafen wieder ins allgemeine Bewusstsein zu rücken. Die eigentlichen urbanistischen Arbeiten begannen dann vor zehn Jahren mit der Lancierung eines internationalen Wettbewerbs. Der Sieger, der Katalane Manuel de Solà-Morales, liess auf dem Riesendach der U-Boot-Basis eine Terrasse mit spektakulärer Panoramasicht einrichten. Die Durchstossung der Vorder- und Rückwände von vier der U-Boot-Becken schuf einen Durchblick von der Esplanade des Antilles auf das Bassin de Saint-Nazaire. Der Vorplatz gewann mit dem Bau von Wohnungen, eines Supermarkts und eines Multiplexkinos an Urbanität.

Leider sind diese Gebäude architektonisch höchst medioker. Zwei Bauten, die nächstes Jahr an der Esplanade vollendet werden – ein Einkaufszentrum mit 93 Wohnungen auf dem begrünten Flachdach von Bernard Reichen und Philippe Robert sowie ein Hotel von Christian Hauvette –, sehen im Rohbau und erst recht auf Computerbildern ungleich überzeugender aus. Desgleichen das Projekt von Dominique Jakob und Brendan MacFarlane für den Umbau des anliegenden ehemaligen Bahnhofs, den 2010 das Stadttheater «le fanal» beziehen soll. Kubische Auswüchse über der erhaltenen klassischen Fassade werden auf Schiffscontainer anspielen.

Ein monströser Pilz über dem Hafen

Letzteres Beispiel zeigt, dass Saint-Nazaire ähnlich wie andere Hafenstädte auf Kultur setzt, um die verloren gegangene Verbindung zum Meer wieder herzustellen. Die U-Boot-Basis, deren Sprengung auf bis zu 30 Millionen Euro veranschlagt wurde, gilt nicht mehr als Last, sondern als Trumpf. Das vor sieben Jahren im Innern des Bunkers eröffnete Zentrum Escal'Atlantic bietet auf 3500 Quadratmetern einen suggestiven Parcours durch die Welt der Atlantikschiffe von einst. Nicht nur flaniert man da durch Intérieurs, die denen von – in Saint-Nazaire erbauten – Passagierdampfern wie der legendären «Normandie» nachempfunden sind. Man findet sich auch in Szenen und Ambiancen versetzt, die das Reisen auf einem Ozeanriesen sinnlich erfahrbar werden lassen: das langsame Entschwinden des Hafens bei der Abfahrt, der frische Hauch des Seewinds auf dem Promenadendeck . . .

Ganz anders die von dem Berliner Finn Geipel umgebauten Becken 13 und 14 der Basis. Unlängst wurden dort die neuen Räumlichkeiten des VIP, eines Zentrums für alle Arten von nichtklassischer Musik, und das neugegründete LIFE, eine multidisziplinäre Bühne für avancierte Kunstformen, eingeweiht. Der Umbau bewahrt bewusst das brutalistische Ambiente. Sichtbarste Eingriffe sind zum einen die Überdeckung des Beckens 14 mit einem Betonboden, über dem zurzeit farbige Laserstrahlen synchron zu elektronischen Klängen geometrische Formen in den Kunstnebel stanzen – eine hypnotisierende Installation von Edwin van der Heide. Und zum andern die Schaffung einer Treppe sowie eines Aufzugs, die zu einer nachts von innen erleuchteten Radarkuppel auf dem Dach führen. Der monströse weisse Pilz, der Hergés «Etoile mystérieuse» zu entstammen scheint, dürfte zu einem neuen Wahrzeichen der mit ihrem Hafen versöhnten Stadt werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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