Bauwerk

Schulschiheim
Martin Häusle, Gottfried Partl - Tschagguns (A) - 1995
Schulschiheim, Foto: Margherita Spiluttini
Schulschiheim, Foto: Margherita Spiluttini

Wer hat die Schule geknickt?

15.500 Kubikmeter umbauter Raum: Wie packt man ein solches Volumen in einen kleinräumigen Siedlungsbereich? Die Antwort steht in Vorarlberg: das neue Schulsportheim von Tschagguns.

10. Juni 1995 - Vera Purtscher
Tschagguns, eine 2500-Seelen-Gemeinde im Montafon. Überall steigt das Gelände an. Die meisten Häuser tun so, als ob sie in der Ebene stünden – nur ist auf der einen Seite ein Stock weniger sichtbar. In „Zelfen“ – so heißt ein Ortsteil – stehen etliche Pensionen und kleine Hotels garnis, die zwei- oder sogar dreistöckig gebaut sind. Vorherrschend sind Lochputzfassaden, oft mit diversen Malereien oder sonstigen Ornamenten versehen, manchmal finden sich Teile aus Glasbausteinen, auf jeden Fall aber „holzgeländerte“ Balkone.

Die Architekten Martin Häusle und Gottfried Partl wurden beauftragt, an diesem Ort ein Schulsportheim zu bauen: 4400 Quadratmeter Nutzfläche, 15.500 Kubikmeter umbauter Raum waren notwendig, um die Interessen der Sportschule und des Internats zu befriedigen. Wie packt man nun so ein Volumen in solch einen kleinräumigen Siedlungsbereich, ohne maßstablos zu werden?

Die Schmalseite des Baukörpers gibt sich bescheiden: Sie ist kleiner als die nachbarlichen Pensionen. Aber anders! Wellblechverkleidet steht das Gebäude am abfallenden Hang. Diese trapezförmige Seite schaut gegen den Besucher und gegen Südwest und hat eine quadratische Öffnung als Eingang zu zwei Dienstwohnungen. Das Gelände fällt hier in zwei Richtungen. Die Eingangstür liegt deswegen schon dreieinhalb Meter höher als die linke untere Ecke. Das Flachdach darüber dient als Terrasse. Zurückversetzt wurde nämlich ein weiteres Geschoß plaziert: Ein flach geneigtes Pultdach liegt auf eierschalenfarbenen, eternitverkleideten Wänden den Dienstwohnungen auf.

Hier erkennt man erstmals, daß sich dieses Gebäude vehement in die Länge zieht. Vor den Dienstwohnungen breitet sich eine Wiese aus, dann bricht plötzlich ein tiefer, in spitzem Winkel zulaufender Stützmauernspalt auf. Da ahnt man, daß dieses Gebäude noch für einige Überraschungen gut sein könnte, zeigt sich doch, daß die Länge des Baukörpers durch einen Knick gebrochen wurde. Und weiters ein beinahe parallelogrammförmiges Blechdach, das den zweiten Teil des langgestreckten Baukörpers schön – fast skulptural – deckt. Diese eher private Seite gegen Südosten spielt keine großen Architekturtrümpfe aus. Die zwei rund 90 Quadratmeter großen Wohnungen werden anständig im Grundriß bewältigt, doch nach außen ordnen sie sich bescheiden dem „großen Wurf“ unter. Dieser zeigt sich erstmals auf der gegenüberliegenden Seite. Die Zufahrtsstraße und Parkplätze begleiten die Nordwest-Fassade. 84 Meter lang liegt die Wellblechfront wie gestrandet auf dem Hanggrundstück. Dem fallenden Gelände entsprechend, zwei- oder dreigeschoßig.

Das Horizontal-Hingestreckte dieser 84-Meter-Wand wird noch verstärkt durch Bandfenster, welche durch querliegende Alu-Jalousien verdunkelt werden können. In diesem silbern gebänderten Monochrom, das vor allem durch Licht- und Schatten und die Reflexion von verschiedenem Wetter in der metallenen Oberfläche lebt, sind einige präzise Farbtupfer gesetzt. Kobaltblau, flaschengrün und maisgelb zeigen sich gefärbte Gläser, die ohne sichtbare Reihung zwischen die Bandfenster geschoben wurden. Hier stoßen im Inneren die Trennwände an die Außenmauer.

Der „Knick“ im Haus ist an jene Stelle gerückt, an der auch der nächste starke „Knick“ im Gelände stattfindet: Hier fällt das Terrain noch einmal in die Tiefe – auf ein kleines Wäldchen zu, das vom Ganzanahler Bach gesäumt wird. Hier „fällt“ aber auch das Schisportheim in die Tiefe. Und so markiert dieser Punkt die letzte Abtreppung der Dachsilhouette. Längst schon vor den Wohnungen nur noch Terrasse, springt der leicht verschwenkte „neue“ Baukörper nun ein Geschoß tiefer. Am letzten – höchsten – Punkt der beschriebenen Wellblechfassade ist also der Haupteingang plaziert: Alemannisch nüchtern und einfach, vielleicht auch noch dem Gebot nach besonderer (Schischuh-) Beanspruchung gehorchend, öffnen sich die Türen. Aber beenden wir zuerst noch den Spaziergang ums Haus: Der geknickte Baukörper mißt rund 23 mal zwölf Meter und gewinnt jenes Geschoß, auf das er im Dach verzichten mußte, durch den Geländefall tiefer unten zurück. Die Nordost/Nordwest-Ecke ist verglast und beherbergt ein Nottreppenhaus, das zu den Internatsräumen führt. Bei dem massiv, ja körperhaft wirkenden Dach handelt es sich um ein schwach geneigtes Pultdach, das auf einem dreieckförmigen Stahlträger ruht. Trapezblechverkleidet mündet es an seinem höchsten Punkt in die Außenwand (diese ist schräggestellt), annähernd einen rechten Winkel mit dem Dach bildend.

Als Gegenbewebung zu dieser himmelwärts blickenden Wand zeigt sich dieses Pultdach nordwestseitig nur als dicker Wulst. Wegen des Dachüberstandes auf der schmalen Nordostseite hingegen wird das Volumen deutlich. An dieser Seite zieht sich das Wellblech noch rund sechs Meter ungestört an der Außenwand entlang. Dann ändert sich die Nordostfassade, wieder mehr zum Privaten hin: So sind die Fensterbänder zwischen Eternitgroßtafeln gesetzt; drei Stockwerke beherbergen hier die Zimmer der jungen Sportler. Diverse technische Einbauten wie Wärmetauscher sind eher „Skulptur am Bau“, denn arge Notwendigkeit. Dem Architekten ging es um Schichtungen. Wo gibt es Nahtstellen zwischen Natur und Architektur, und wie behandelt man sie? Martin Häusle versucht ein zusätzlich entspannendes und gleichzeitig spannendes Element hinzuzufügen. Das ist dann die „künstliche Natur“ – die Dachterrassen.

Für Martin Häusle bedeutete der Wettbewerbsgewinn einen großen Schritt – immerhin ist dieser Bau bei weitem der größte, den er bisher gebaut hat. Davor hat er vor allem mit einer Brücke – dem „Illsteg“ in Feldkirch – von sich reden gemacht. Hier nun durfte er eine „Zeichnung“ in die Landschaft setzen.

Im Inneren verwundert zunächst die Eingangshalle, die den Blick zum Turnsaal durch großformatige Glasflächen freigibt. Damit wird die zweigeschoßige, lichtdurchflutete Halle optisch wesentlich erweitert durch den gleichsam inkludierten Turnsaal. Ein Fachwerk-Stahlträger bildet das besprochene, ungewöhnliche Dach. Dreieckförmig ragen die Träger zur Glasfassade hinaus – so scheint es. Doch wegen der unerwünschten Wärmebrücken ist es tatsächlich eine darüberliegende Holzkonstruktion, die ins Freie reicht und dort den erwähnten „Wulst“ bildet.

Im ersten Stock blickt man vom Speisesaal in den Turnsaal. Von den 100 Sitzplätzen aus kann man aber auch rechts und links in die Landschaft und durchs schräge Fensterband gen Himmel schauen. Die ungewohnte Kombination von Warten, Begrüßen, Essen und Turnen verlangt neue Blickwinkel von Raumdefinitionen. Öffnen, transparent machen, Übergänge schaffen: das alles wird in diesem Schisportheim mit architektonischen Mitteln versucht. Ein Heim für eine aufgeschlossene Jugend?

25 Internatszimmer gehören organisatorisch zur Schihauptschule Schruns, 20 weitere Zimmer mit je drei Betten dienen dem Schi-Schulheimtrakt, der mit diversen Nebenräumen für Landschulwochen angemietet werden kann. Die Zimmer sind äußerst sparsam eingerichtet. Es fehlt an sympathischer Atmosphäre und Wärme. Umso erfreulicher das „Rundherum“: Hier zeigt sich eine wohltuende Großzügigkeit.

Erst sieben Jahre nach dem Wettbewerbssieg wurde das Gebäude fertiggestellt; in dieser Zeit mußten einige Abstriche vom ursprünglichen Konzept gemacht werden. Und doch glückte es Martin Häusle, seinen zweihüftigen Bau so in die Landschaft zu setzten, daß er – ganz fremd an diesem Ort – sich fügt, einfügt, ohne voller Unsicherheit „ganz zu verschwinden“! Er ist klein, wo es ihm guttut, bricht seine Länge, die Fall-Linie begleitend, wo es notwendig ist, und läßt den Besucher von der Natur in die Architektur und wieder in die künstliche Natur wechseln.

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