Bauwerk

Terrassenhaus „Die Bremer Stadtmusikanten“
ARTEC Architekten - Wien (A) - 2010
Terrassenhaus „Die Bremer Stadtmusikanten“, Foto: ARTEC Architekten ZT GmbH
Terrassenhaus „Die Bremer Stadtmusikanten“, Foto: ARTEC Architekten ZT GmbH

Bauen nach Gebrüdern Grimm

Was hat ein Wiener Wohnbau mit den Bremer Stadtmusikanten zu tun? Für ihr Projekt in der Tokiostraße haben Bettina Götz und Richard Manahl, kurz Artec, Gruppen von vier unterschiedlichen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden. Vorbildlich.

20. Februar 2010 - Christian Kühn
In meiner Rangliste grausiger Begriffe der architektonischen Fachsprache steht der „Geschoßwohnbau“ weit oben, nur noch übertroffen von der „Nasszelle“. Er bezeichnet nicht den mehrgeschoßigen Wohnbau überhaupt, sondern jenen, in dem identische Geschoße so lange gestapelt werden, bis unter dem Strich ein satter Gewinn übrig bleibt.

Der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Geschoß“ wird man damit freilich nicht gerecht. Denn ursprünglich bezeichnet der Begriff nicht die horizontale Ebene, auf der wir wohnen, sondern das Auf- oder Hochschießen einer Konstruktion, weshalb das „Schießen“ ja auch dem Getreide oder dem Spargel erlaubt ist. (Der Begriff „Erdgeschoß“ ist daher ein Widerspruch in sich und sollte besser – wie schon Friedrich Torberg wusste – der Bezeichnung von Fliegerbomben vorbehalten bleiben).

Der neue Wohnbau, den Artec-Architekten in der Nähe der U1-Station Kagran entworfen haben, verdankt seinen Spitznamen – „Bremer Stadtmusikanten“ – dem gelungenen Versuch, den mehrgeschoßigen Wohnbau aus einer vertikalen Bewegung heraus zu entwickeln. So wie sich im Grimmschen Märchen Esel, Hund, Katze und Gockelhahn zu einem „Ungeheuer“ übereinanderstellen, um Räuber zu erschrecken, sind hier Gruppen von vier sehr unterschiedlichen, jeweils zweigeschoßigen Wohneinheiten zu einem vertikalen Ensemble verbunden, das durch eine Vielzahl von Terrassen, Höfen und öffentlichen Passagen aufgelockert ist. Ergänzt werden diese Maisonetten durch einen Trakt mit eingeschoßigen Wohnungen, denen jeweils eine zweigeschoßige Loggia vorgesetzt ist, ein Zaubertrick, der durch abwechselndes Versetzen der Loggien um eine Fensterachse gelingt. Da diese Loggien fünf Meter hoch sind, können sie tief und damit gut nutzbar ausgebildet werden, ohne dass sie die dahinterliegenden Räume verschatten.

Artec verstärkt die eigenwillige, vom geschoßweisen diagonalen Versatz bestimmte Geometrie dieser Straßenfront durch ein zusätzliches skulpturales Element: Kantrohre aus verzinktem Stahl, die – schräg über die Fassade geführt – ein einprägsames Bild ergeben und zum Markenzeichen des Projekts werden dürften. Metallgitter als Balkongeländer bilden eine weitere Schicht, zu der im Lauf der Zeit die Begrünung kommen wird. Die zurückhaltende Farbgestaltung nach außen – warmgraue Putzfassaden und Sichtbeton – muss überhaupt in Erwartung üppigen Grüns beurteilt werden: Vorbild in dieser Hinsicht ist für Artec die Terrassenhaussiedlung der „Werkgruppe Graz“ aus dem Jahr 1978, die wildere und lebendigere steirische Antwort auf den Wohnpark Alt-Erlaa.

Auch Artec erzielt bei seinem Wohnbau in der Tokiostraße eine bemerkenswert hohe Dichte, die allerdings durch eine besondere „Lufthaltigkeit“ kompensiert wird. Zwei großzügige, von oben belichtete Hallen dienen, gewissermaßen als überdachte Straßen, der Erschließung der Wohnungen. Dieser Typus ist zwar nicht neu, wie Artec diese Räume konzipiert, ist allerdings eine Sensation im eigentlichen Wortsinn, die auf Fotos kaum wiederzugeben ist. Diese Hallen sind tatsächlich nutzbar, mit breiten Wegen und Abstellflächen vor den Wohnungen. Das Farbkonzept setzt „leise“ Farben in der Halle in Kontrast zu einem kräftigen Signalrot in den Treppenhäusern, die als halböffentliche Bewegungsräume nicht zur Halle, sondern zum Straßenraum orientiert sind.

Was dieses Projekt zu einem der wichtigsten Beiträge zum Wohnbau der vergangenen Jahre macht, ist überhaupt die subtile Abstufung vom Öffentlichen zum Privaten. Ein guter Teil des überbauten Grundstücks wird der Öffentlichkeit zurückgegeben: als doppelt tiefe Arkade zur Tokiostraße und in Form eines Innenhofs, der parallel zur Straße einen Durchgang durchs Grundstück erlaubt. Das erklärt, warum die Höfe und Terrassen der Wohnungen, die hierher orientiert sind, mit halbhohen Betonwänden vom Hofraum getrennt sind. Die Begrünung dieser privaten Freiflächen wird später nicht nur den Bewohnern, sondern auch den Passanten zugutekommen.

Die inneren Hallen sind auf Straßenniveau nur mit Streckmettalgittern vom öffentlichen Raum getrennt. Diese „Erdgeschoßzone“ bleibt damit offen für zukünftige Entwicklungen: Vielleicht siedelt sich hier irgendwann ein kleiner Wochenmarkt an, oder die Bewohner kommen auf die Idee, hier ihre Hausfeste zu veranstalten. Dieser Raumtypus ist ein echter Aneignungsraum, der nur darauf wartet, von neuen Inszenierungen des Alltags in Besitz genommen zu werden. Der Genossenschaft „Neues Leben“ darf man dazu gratulieren, mit diesem Projekt ihrem Namen gerecht zu werden. Swimmingpool und eine begrünte Dachterrasse, die den Bewohnern der genau 100 Wohnungen zusätzlich zur Verfügung stehen, beweisen, dass architektonische Qualität einen solchen zusätzlichen Luxus nicht ausschließt.

Das Wiener System der Wohnbauförderung hat sich hier wieder einmal als Großlabor für Innovation erwiesen. Dieser Bau ist kein plötzlicher Geniestreich. Er baut auf früheren Erkenntnissen auf, dem eigenen Wohnbau von Artec in der Laxenburger Straße, der Hofgartel-Siedlung von Geiswinkler & Geiswinkler und vielen anderen gelungenen Versuchen, die Qualität des Einfamilienhauses im „Geschoßwohnbau“ zu erzielen. Jetzt müsste man diese Erkenntnisse endlich in den Städtebau und seine Webmuster einfließen lassen. Dass die Stadt als lebendiges Kunstwerk auch heute noch möglich ist, findet sich in der Tokiostraße jedenfalls eindrucksvoll bestätigt.

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