Bauwerk

Vitra-Haus
Herzog & de Meuron - Weil am Rhein (D) - 2009
Vitra-Haus, Foto: Thomas Mayer / ARTUR IMAGES
Vitra-Haus, Foto: Thomas Mayer / ARTUR IMAGES

Spaziergang der Kräfte

Mit respektvollem Abstand zu den bestehenden Bauten steht auf dem Gelände der Firma Vitra das seit kurzem fertiggestellte VitraHaus der Architekten Herzog & de Meuron. Die aufeinander gestapelten Bauvolumen aus Beton mit grossen Fensteröffnungen in jede Himmelsrichtung wirken gemäss ZPF Ingenieure aus Basel als Rohrkonstruktionen: Stabil in ihrer Form leiten sie die Kräfte weiter – teils über Umwege, aber stets im Verborgenen.

7. Mai 2010 - Nico Ros
Für die Präsentation von Designermöbeln stand auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein (D) bisher kein Raum zur Verfügung. Deshalb erhielten die Basler Architekten Herzog & de Meuron im Jahr 2006 den Auftrag, das VitraHaus zu entwerfen und damit den laufend erweiterten Architektur-Campus um ein Gebäude zu ergänzen (vgl. Kasten, S. 25). Es steht im Norden des Areals inmitten der landschaftsprägenden Streuobstwiesen (Abb. 1 und 4).

Urhäuser tragen wie Rohre

Die Tragstruktur des VitraHauses besteht aus sieben übereinander gestapelten Gebäudebalken in Form von Sattelhäusern, die im Erdgeschoss auf fünf Baukörpern lagern (vgl. Abb 2 und 3). Von aussen scheinen die bis zu 50 m langen Balken durchgehend zu sein. Tatsächlich sind sie es nicht: Räume an ihren Schnittpunkten zerschneiden sie im Inneren des Gebäudes. Die unterschiedlichen Querschnitte sind ausserdem teilweise gestaucht und weisen gekrümmte Formen auf. Die Kräfte müssen über wenige Schnittstellen umgeleitet werden, und die statische Berechnung wird hoch komplex. Diese Problemstellung stellte die Planer vor grosse Herausforderungen. Wie baut man raumbildende Balken, die in der Mitte getrennt sind? Die Ingenieure der ZPF Ingenieure AG aus Basel mussten Schnittstelle für Schnittstelle analysieren, spezifische Lösungen für jeden Teilbereich finden und Detailkonstruktionen entwickeln.

Die Kräfte bestimmen den Weg

Bereits in einem frühen Entwicklungsstadium des Projektes waren sich die Ingenieure einig, dass die Tragkonstruktion des komplexen Gebäudes nur funktionieren kann, wenn jeder einzelne hausförmige Querschnitt – bestehend aus einem Giebeldach, zwei Wänden und einem Boden – als Rohr verstanden wird. Rohre zeichnen sich durch eine hohe Stabilität aus und ermöglichen bei diesem Projekt eine elegante Ableitung des komplexen Kräfteflusses. Dieser tragwerksplanerische Ansatz ermöglichte es, die von den Architekten im Entwurf vorgesehenen Auskragungen, Überbrückungen und Durchtrennungen der einzelnen Baukörper in die Realität umzusetzen. In einem weiteren Schritt untersuchten und verglichen die Bauingenieure verschiedene Materialien. Sie studierten Tragwerksvarianten aus Stahl, Beton und Holz. Der Entscheid, das Tragwerk aus Beton zu konstruieren, fiel aufgrund der amorphen Materialeigenschaft von Beton: Da er gegossen wird, kann Beton in beinahe jede beliebige Form gebracht werden. Das ingenieurspezifische Konzept der Rohrkonstruktion liess sich somit gegenüber Varianten in Stahl und Holz, die mehrheitlich noch als lineare Tragkonstruktionen eingesetzt werden, mit reduziertem Aufwand umsetzen: Es wurde sozusagen «den Kräften entsprechend betoniert».

Efizienter Kräftefluss oder Kraftakt sondergleichen?

Die Lastabtragung erfolgt pyramidenförmig über die Verschneidungen der als Rohre wirkenden Baukörper (Abb. 13). Das erste Obergeschoss ruht auf fünf Baukörpern, das zweite auf drei, das dritte Obergeschoss bereits nur noch auf zwei und das vierte auf einem einzigen. Einzig im Bereich des Liftschachts liegen alle Baukörper übereinander. Dadurch entsteht eine statisch «schöne» Struktur, denn die gegen unten zunehmenden vertikalen und horizontalen Lasten verteilen sich auf eine zunehmende Anzahl von Verschneidungen tragender Betonwände. Im Falle eines Erdbebens erfolgt die horizontale Aussteifung auch über die Verschneidungen der Baukörper und den Liftschacht.

Boden, Wände und Dach der Rohre sind biegesteif miteinander verbunden. Dabei sind die Böden als 26 cm starke Betonplatten (C 30/37, XC1, Dmax 32, CL 0.10, C3) ausgeführt; die Aussenwände, die in der Regel eine Stärke von 25 cm aufweisen, sind unten und oben in den Boden respektive in das Dach eingespannt. Wegen der Wandhöhe von 3.70 bis 4.60 m musste der Beton zum Teil mit Aussenrüttlern verdichtet werden; in der Regel wurde aber normal vibriert (C 30/37 XC1, Dmax 16, CL 0.10, C3). Die Giebeldächer bestehen aus Flachdecken und haben eine maximale Spannweite von 8.80 m sowie eine Stärke von 26 – 30 cm. Aufgrund der thermischen Bauteilaktivierung sind sie nicht vorgespannt. Die Dächer mit einer Neigung von 30° wurden ohne Konterschalung betoniert. Für das Dach des dritten Levels mit einer Neigung von 42° musste jedoch eine solche eingesetzt und dem Beton zusätzlich Verflüssiger beigefügt werden (C 30/37, XC1, Dmax 16, CL 0.10).

Die Rohre, die teilweise bis 15.40 m auskragen und statische Höhen von 5.8 m bis 8.3 m aufweisen, sind ebenfalls biegesteif miteinander verbunden. Die wenigen kraftschlüssigen Schnittpunkte in den Geschossübergängen und andere hoch belastete Stellen bedingen lokal eine Wandverstärkung auf 40 – 45 cm sowie spezielle Detailkonstruktionen zur Kraftüberleitung. So lagern zum Beispiel auf zwei nach innen geschwungenen Erdgeschosswänden drei Baukörper (Abb. 11). Um die hohen Schubkräfte, die durch das Umlenken der Kräfte entstehen, aufnehmen zu können, sind die Wände mit Schubbewehrung versehen (Abb. 12). Andernorts ist ein auskragender Baukörper an einen anderen Teil des Gebäudes gehängt. Eine 70 t schwere Wand hängt z. B. am Dach eines anderen Baukörpers, oder die Kräfte eines Daches werden durch den Boden des darüber liegenden Baukörpers in das Dach des nächsten geleitet.Jedes Tragelement wird statisch mehrfach genutzt: Böden, Wände und Dächer dienen sowohl der vertikalen als auch der horizontalen Lastabtragung. Die Zuordnung von Vertikalität und Horizontalität wird im statischen Sinne verwischt und die Scheibenwirkung in allen Richtungen ausgenutzt. Bauteile werden ausserdem der Beanspruchung entsprechend abgestuft und die gewonnenen Platzverhältnisse funktional genutzt. Der Raum, der im Bereich der geringeren Wandstärken entstand, wird beispielsweise für die Lüftung verwendet.

So entsteht einerseits Platz für die Haustechnik, und andererseits wird die Eigenlast des Gebäudes auf ein Minimum reduziert. Die Kräfteführung funktioniert so nur, weil alle einzelnen Tragelemente des statischen Systems als Ganzes zusammenwirken. Wird beispielsweise die Steifigkeit eines einzelnen Bauteils verändert, kann dies im vernetzten Tragsystem einen Einfluss auf den gesamten Kräftefluss haben. Die Herausforderung für die Bauingenieure lag darum unter anderem darin, die Konsequenzen von Veränderungen am System wirklichkeitsnah vorauszusagen und Gegenmassnahmen wirkungsvoll anzuordnen.

Ein Gebäude in Bewegung

Vorhersehbar und damit berechenbar waren die Schwingungen im Gebäude während der Nutzung. In einer frühen Planungsphase, während der die Ingenieure die Erdbebenbemessung durchführten, wurden die Schwingungen der Baukörper untersucht. Dabei zeigte sich, dass die vertikalen Schwingungszeiten einiger auskragender Bauteile im kritischen Bereich liegen – mit Werten zwischen 1.6 Hz und 4.5 Hz könnten die Eigenfrequenzen durch Personen angeregt werden. Es musste sichergestellt werden, dass im Gebrauchszustand keine für Personen unangenehmen Beschleunigungen auftreten. Die Ingenieure analysierten deshalb die Anregung des Gebäudes, die durch mehrere, gleichzeitig in der Eigenfrequenz des Bauteils hüpfende Personen verursacht wird. Sie simulierten die Situation mit einer Time- History-Analyse eines FEM-Programms. Bei diesem Zeitschrittverfahren wird die Änderung der externen Belastung in kleinen Zeitschritten vorgegeben und daraus die Bewegung des Baukörpers – also die Deformation, Geschwindigkeit und Beschleunigung – für jeden Zeitpunkt berechnet. Die Ingenieure wiesen nach, dass die auftretenden Beschleunigungen zwar spürbar sind, aber unter den für Menschen unangenehm wirkenden Werten liegen.

Gehilfen, Achselstützen und Handstöcke

Die Gebäudebalken der verschiedenen Levels durchschneiden sich schräg und in verschiedenen Winkeln. Es entstehen unregelmässige Dachformen, ungewöhnliche Schnittsituationen und unerwartete Raumverhältnisse. Die Schalung in unterschiedlichen Höhenlagen war deshalb aufwendig, ebenso die notwendige Spriessung auf ständig wechselnden Aufstandsflächen. Um einen möglichst einfachen Bauablauf zu gewährleisten, erstellten die Ingenieure einen detaillierten Betonier- und Spriessplan. Generell wurden zunächst die Böden und Wände eines Levels betoniert, danach die Dächer des darunter liegenden Levels.

Somit musste die Wandschalung nicht kompliziert an die Dächer angepasst werden, vielmehr konnten die Dächer einfach gegen die bereits erstellten Wände betoniert werden. Da das Gebäude nur als Ganzes funktioniert und nur wenige Bauteile für sich getrennt betrachtet werden konnten, wurden während des Baus Abstützungen benötigt. Diese äusserst aufwendige temporäre Spriessung (Abb. 8) stützte das Gebäude so lange, bis der Kräftefluss erfolgen konnte.Die Kunst, die Ingenieurleistung nicht mehr wahrzunehmen Der Betrachter des fertig gestellten VitraHauses sieht weder von aussen noch von innen die komplexe Kraftableitung oder die variierenden Wandstärken. Genauso wenig ahnt er, welche aufwendigen und abstützungsintensiven Bauphasen das Gebäude hinter sich hat. Die frühe Zusammenarbeit zwischen den Planenden trägt ihre Früchte: Das festgelegte Rohrkonzept passt zum architektonischen Konzept und ermöglichte erst das Tragwerk und damit die Realisierung des architektonischen Entwurfs aus einem Haufen von Urhäusern.

In der ersten Entwicklungsphase eines Gebäudes liegt das grösste Potenzial, Tragkonstruktion und Architektur zu einer Einheit zu bringen. Darum wurden die Ingenieure schon in einer sehr frühen Entwurfsphase in die Planung miteinbezogen. Gerade darin, das Tragwerk nicht als Selbstzweck, sondern als integralen Bestandteil des architektonischen Entwurfs zu sehen, liegt die Kunst der Ingenieurleistung. Gelingt dies von Anfang an, lässt sich die Tragstruktur nicht von der Form des Bauwerks als Ganzes trennen. Sie wird zu einem Teil davon und ist dadurch sichtbar und unsichtbar zugleich.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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