Bauwerk

Wohn- und Bürohaus Neutorgasse
RATAPLAN, SOLID architecture - Wien (A) - 2010
Wohn- und Bürohaus Neutorgasse, Foto: Anna Stöcher
Wohn- und Bürohaus Neutorgasse, Foto: Anna Stöcher

Radikal neu?

Interpretation versus Implantat: zwei neue Bauten, zwei unterschiedliche Ergänzungen zum Weltkulturerbe „Wien – Innere Stadt“.

18. Februar 2011 - Christian Kühn
Das Areal rund um die Börse am Schottenring gehört nicht zuletzt deshalb zu meinen Lieblingsvierteln, weil ihm alles Gemütliche fehlt. Wenn sich Wien irgendwo zur Weltstadt aufgeschwungen hat, dann hier: Die Straßen sind großzügig, die Häuser monumental, ihre Fassaden klar gegliedert und nicht zu üppig dekoriert - kraftvolles 19. Jahrhundert im Unterschied zum schillernden Gemisch aus Barock und Biedermeier, Ringstraße und Jugendstil, als das sich die Stadt ansonsten touristisch vermarktet.
Obwohl es nicht ins Klischee passt, gehört das Gebiet zur Kernzone des UNESCO Weltkulturerbes „Wien - Innere Stadt“ und steht daher unter besonderer Beobachtung. Dass hier in den letzten Jahren überhaupt Neubauten entstehen konnten, ist nur dann erstaunlich, wenn man sich unter einem Welterbe ein geschlossenes Ensemble von einheitlich hoher Qualität vorstellt. Das trifft für die Wiener Innenstadt - im Unterschied etwa zu den UNESCO-geschützten Altstädten von Salzburg und Graz - keineswegs zu. Kriegsschäden und deren Reparatur haben in der Wiener Innenstadt zahlreiche Implantate zweifelhafter Qualität hinterlassen, die nun durch Neubauten ersetzt werden.

Wie unterschiedlich man sich zum Weltkulturerbe positionieren kann, zeigen zwei jüngst fertiggestellte Projekte, die neue Zentrale der Volksbank in der Kolingasse, entworfen vom deutschen Architekten Carsten Roth, und das Wohn- und Geschäftshaus in der Werdertorgasse, das die Wiener Architektengruppe Rataplan für eine Tochter der Erste Bank geplant hat. Beide liegen im Kerngebiet des Weltkulturerbes, annähernd gleich weit von der Börse entfernt. In beiden Fällen galt es, geschützte Teile des Altbestands zu erhalten, wobei ein ähnlicher Weg eingeschlagen wurde, nämlich die Erhaltung des Bestands von der Fassade bis zur Mittelmauer. Im Vergleich zu der beliebten Praxis, nur Fassaden zu erhalten und dahinter mit niedrigeren Geschoßhöhen mehr Rendite zu erzielen, ist diese Lösung jedenfalls ein Fortschritt.

Hier enden aber die Gemeinsamkeiten. Im Umgang mit dem Kontext verfolgen sie zwei deutlich unterschiedliche Strategien. Während Carsten Roth sich vom Genius Loci inspirieren lässt und eine Neuinterpretation des gründerzeitlichen Blocks versucht, brechen Rataplan dessen Kontur auf und entwickeln ihr Projekt formal ohne tiefere Verbeugungen vor dem Bestand. Das hat offensichtliche Vorteile. Rataplan stand nur eine große Eckparzelle eines äußerst dicht verbauten Blocks zur Verfügung, bei dem sich bei normaler Verbauung ein dunkler Innenhof ergeben hätte. Durch eine Verschwenkung der Fassade hinter die Baulinie wurde dieser Hof gewissermaßen nach vorne an die Straße geholt, was einerseits Belichtung und Ausblick in den Wohnungen verbessert, andererseits dem öffentlichen Raum auf der Straße zu einem durchaus respektablen Vorplatz verhilft.

Ursprünglich waren für das Grundstück drei unabhängige Häuser geplant, zwei Bürohäuser und ein Wohnhaus. Rataplan konzipierten stattdessen ein horizontal gegliedertes Gebäude, das in den unteren Geschoßen Geschäfts- und Büroräume aufnimmt, wodurch die besser belichteten obersten vier Geschoße ausschließlich dem Wohnen zur Verfügung stehen. Drei Treppenhäuser versorgen diese vielfältigen Nutzungen und erlauben sowohl im Büro- als auch im Wohnbereich unterschiedliche Kombinationen und Grundrisszuschnitte.

„Geheimnisvolles Zentrum“

Carsten Roth stand für die neue Zentrale der Volksbank ein ganzer Baublock zur Verfügung, der etwa zur Hälfte von einem Gründerzeitbau eingenommen war. Die übrigen Gebäude stammten aus der Nachkriegszeit und waren mit dem Altbau zu einem labyrinthischen Geflecht verwachsen, in dem die Volksbank schon bisher residierte. Den innerstädtischen Standort aufzugeben und einen repräsentativen Signalbau zu errichten hätte dem Selbstverständnis der Bank nicht entsprochen. Sie entschloss sich daher zu einer radikalen Sanierung und Erneuerung, bei der die Nachkriegsbauten abgerissen und vom historischen Bestand nur der Bereich zwischen Fassade und Mittelmauer erhalten blieb. Diese erhaltene Raumschichte gibt die Tiefe vor, in dem auch der Rest des Blockrands bebaut wird, wodurch ein großzügiger überdachter Innenhof entsteht, in den die Erschließung sowie Besprechungs- und Sanitärräume als Türme ausgelagert werden. Nur zur Schmalseite an der Kolingasse wird die Trakttiefe verdoppelt, um mehr Nutzfläche zu erhalten.

Typologisch ist diese Lösung effizient und auch räumlich attraktiv, da sie einen großen, von oben belichteten gemeinsamen Innenraum erlauben würde, der alle Bereiche eines Unternehmens zumindest visuell miteinander verbindet. Erstaunlicherweise hat Carsten Roth weitgehend auf diese Möglichkeit verzichtet und die Transparenz im Innenraum der fragwürdigen Idee eines „geheimnisvollen“ Zentrums, eines „Innenraums, der mit unbändiger Kraft nach oben strebt, keine Begrenzungen zulassen will und keine Auskunft gibt über seine Endlichkeit“, wie der Architekt in seinen Erläuterungen zum Projekt formuliert. Konkret bedeutet das, dass so gut wie alle potenziellen Durchblicke in diesen Innenraum durch blickdichte weiße Folien versperrt sind, hinter denen man zwar teilweise Besprechungs- und Pausenräume vermuten kann, aber niemanden sieht. Die Auftraggeber dürfte der Architekt mit dem Gedanken überzeugt haben, dass sie sich hier eine Skyline ins Haus holen können: „Während Banken in der ganzen Welt davon träumen, an der Skyline zu partizipieren, werden hier sechs Türme zu einer ganz eigenen Skyline im Inneren des gesamten Bankgebäudes umschlossen.“ Das aus solchen hohlen Phrasen eine entsprechende Architektur werden muss, ist nicht weiter verwunderlich. Immerhin taugen die Folientürme als guter Malgrund für eine Riesenmalerei von Otto Zitko, die vom Künstler gerade aufgetragen wird und dem vermeintlich magischen Vertikalraum einen ironischen Kontrapunkt entgegensetzt.

Gescheitert auf hohem Niveau ist auch Carsten Roths Versuch, eine Gründerzeitfassade neu zu interpretieren. Das spielerische Eingehen auf horizontale und vertikale Linien und das Erzeugen von Tiefe durch zufälliges Vor- und Zurücksetzen von Ziergliedern kann an den logischen Aufbau einer guten Gründerzeitfassade niemals heranreichen. Da ist Rataplans Blechfassade allemal ehrlicher, oder gar das von der Kolingasse aus gut sichtbare Juridicum, Ernst Hiesmayrs Erinnerung an die Wiener, dass ihre Stadt auch radikal Neues durchaus verträgt.

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