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TEC21 2007|10
Standortpotenziale
TEC21 2007|10
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein Simulator für die Raumplanung

Je mehr Land überbaut wird, umso brisanter wird die Raumplanung. Der Fall Galmiz hat deutlich gemacht: Eine Raumplanung, die nur das Resultat der politischen Aushandlung von Regionalinteressen kartografiert, genügt weniger denn je. Künftig sind konkrete Vorschläge für die nachhaltige Raumnutzung gefragt. Nützlich wäre dafür eine von Partikularinteressen möglichst unabhängige methodische Basis. Das im Folgenden vorgestellte Simulationsmodell berechnet kühl den Wert jedes Standorts und erkennt so verborgene Potenziale.

12. März 2007 - Martin Geiger
Sagt die Raumplanung nur, was wo zu bauen erlaubt ist, oder bedeutet die Festlegung auch, dass das betreffende Gebiet oder der betreffende Standort für die zugeordnete Nutzung geeignet, vielleicht sogar am besten geeignet ist? Sollte also die Raumplanung die verschiedenen Qualitäten eines Standortes für die verschiedenen heutigen und eventuell künftigen Nutzungen kennen? Hätte die Raumplanung beispielsweise im Fall Galmiz im Grossen Moos nicht schon lange vorher wissen müssen, dass einmal ein potenter Standortsuchender daherkommen und die Diskrepanz zwischen Planung und Realität mit einem einzigen Satz aufdecken wird: Warum wird dieser Standort so auffallend stark mit nicht weniger als vier Universitätsstädten (Bern, Freiburg, Neuenburg und Lausanne) und darüber hinaus mit der halben Schweiz vernetzt, wenn es doch so wichtig ist, dass die Idylle des Gemüsegartens nicht gestört wird? Das passt doch nicht zusammen!

Es gibt durchaus Planer, die argumentieren: Wir haben den politischen Auftrag, die Pläne in verschiedenen Farben anzumalen, ob die diversen Nachfrager dann etwas damit anfangen können, geht uns nichts an. Andere aber (und mit ihnen der Autor) sind der Meinung, dass die Raumplanung verpflichtet ist, zu beweisen, dass ihre Vorschriften zu einer Verbesserung der räumlichen Entwicklung führen werden. Das scheint auf den ersten Blick eine überrissene Forderung zu sein. Fragen wir jedoch umgekehrt: «Dürfen planerische Massnahmen auch zu einer Verschlechterung führen?», dann wird sofort klar, was gemeint ist.

Eine Probewirklichkeit für den Raumplaner

Wie kann man aber wissen, welche heutigen Ursachen morgen welche Wirkungen haben werden? Dazu braucht es ein von Politik und Wirtschaft unabhängiges Instrument, ein mathematisches Simulationsmodell, in welchem der gesamte Ursache/Wirkung-Mechanismus der Siedlungsentwicklung beobachtet werden kann. Erst aufgrund dieser Anschauung kann eine vernünftige parlamentarische Diskussion und Beschlussfassung stattfinden.

Das auf der Standort-, Nutzungs- und Landwerttheorie (SNL) beruhende Simulationsmodell ist ein solches Instrument. Dieses Modell betrachtet den Raum nicht als Ansammlung von politischen Gemeinden, sondern als einen neutralen Raster gleich grosser Standorte und erbringt folgende Leistungen:
1. Messung der effektiv vorhandenen Eigenschaften aller bebaubaren Standorte der Schweiz (20000 Quadratkilometer-Standorte für den Überblick oder 2 Mio. Hektar-Standorte im Detail) sowie Beobachtung der Veränderungen über die Zeit.
2. Periodische Analyse der Anforderungen der verschiedenen Nutzer (Betriebe, Wohnbevölkerung usw.) und flächendeckende Suche nach Standorten, die diese Anforderungen erfüllen.
3. Simulation der Konkurrenz der Nutzer um die besten Standorte sowie Prognose der in nächster Zeit zu erwartenden Veränderungen im Besiedelungsmuster der Schweiz.
4. Berechnung des Wertes der Standorte (in Fr./m2 oder Mietzins/Monat).
5. Berechnung der Auswirkungen und des Wertes planerischer Massnahmen.

Die zentrale Variable in diesen Berechnungen ist die so genannte Standortgüte. Es sind die räumlichen und zeitlichen Unterschiede der Standortgüte, die das Schauspiel der räumlichen Entwicklung inszenieren. Von Standorten mit niedriger oder sinkender Standortgüte ziehen Betriebe und Wohnbevölkerung weg, hin auf Standorte mit hoher oder steigender Standortgüte – und zahlen entsprechend dafür. Auf das reale Geschehen im Raum kann nur Einfluss nehmen, wer die Standortgüte erstens kennt und zweitens ihre Eigenschaften tatsächlich gezielt verändert. Die Wirkung von «Du sollst»- und «Du sollst nicht»-Geboten allein ist, wie die vierzigjährige Beobachtung der räumlichen Entwicklung gezeigt hat, bescheiden.

Die Standortgüte

Die Standortgüte ist im Detail hochkomplex, im Prinzip aber doch einfach zu verstehen. Wir umgehen hier eine Einführung in die SNL-Theorie, indem wir diese Aufgabe kurzerhand dem obersten Raumplaner der Schweiz, Bundesrat Moritz Leuenberger, zuschieben, der seinerseits Kurt Tucholsky zitiert, der mit spielerischer Leichtigkeit auf drei Zeilen alles klar macht:
«Ja, das möchtste:
Eine Villa im Grünen mit grosser Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstrasse.» [1]

Auf hiesige Verhältnisse übertragen, heisst das: Villa im Grünen mit grosser Terrasse; vorne den Zürichsee und hinten die Zürcher Bahnhofstrasse. Damit ist die SNL-Theorie auf die kürzeste Formel gebracht. Die Bilder «Friedrichstrasse» oder «Bahnhofstrasse» illustrieren den wissenschaftlichen Begriff Beziehungspotenzial aus der SNL-Theorie (Beziehungspotenzial = Erreichbare Arbeitsplätze geteilt durch den dazu nötigen Transportaufwand). Die Bilder «Ostsee» oder «Zürichsee» illustrieren den wissenschaftlichen Begriff Umweltbedingter Eigenwert aus der SNL-Theorie (Umweltbedingter Eigenwert = Summe der angenehmen und der störenden Umwelteinflüsse). Beziehungspotenzial und umweltbedingter Eigenwert zusammen bilden schliesslich die Standortgüte. Die SNL-Theorie macht also die vom Dichter so anschaulich beschriebenen Anforderungen des Nutzers an die Eigenschaften des Raumes quantifizierbar.

Das Beziehungspotenzial

Für die Ansiedlung von Betrieben ist hauptsächlich die Standortgütekomponente «Beziehungspotenzial»[2] ausschlaggebend. Bestehende Siedlungen strahlen entlang von Transportachsen (mit der Distanz abnehmend) so genanntes Beziehungspotenzial aus. Das Beziehungspotenzial generiert von einem bestimmten Wert an einen Bauimpuls für neue Siedlungen – anfänglich in der Nähe der ursprünglichen Siedlungen, dann aber auch an Kreuzungen von Transportachsen. Dort können auch von weit entfernten Siedlungen her Bauimpulse im bisherigen Niemandsland generiert werden, also zum Beispiel auch im Grossen Moos oder andern Standorten, an die noch nie jemand gedacht hat (Bild 1).

Eine Illustration der Macht des Beziehungspotenzials liefert unter anderem die Entwicklung von Zürich in den vergangenen Jahrzehnten (Bild 2). Die Stadt wollte ursprünglich von der Autobahn profitieren, indem sie sie in Form eines Y ins Zentrum führte. Später befürchtete man einen Verkehrsinfarkt und erfand, um so etwas zu vermeiden, den Autobahn-Ring. Da aber ein Ring sich nicht in einer Nacht bauen lässt, musste man irgendwo anfangen. Warum nicht im Norden zwischen Zürich und Flughafen? Kaum aber war das erste Stück realisiert, wurde der Traum vom Ring (der seine Wirkung definitionsgemäss erst mit dem Einsetzen des letzten Pflastersteins entfalten kann) zerstört. Die Nordumfahrung kreuzt die Nord-Süd-Achse. Hier entsteht automatisch das neue «Verkehrszentrum» der Schweiz, von dem aus man die Wahl hat, die Westschweiz, die Ostschweiz, den Flughafen (im Norden) oder auch die Stadt Zürich (im Süden) zu erreichen. Das sich hier auftürmende Beziehungspotenzial hat gewaltige Auswirkungen. Statt dass das Stadtzentrum Zürich gestärkt würde, wächst hier das «zweite Zürich», gebildet aus Zürich Nord und der im Entstehen begriffenen Glatttalstadt. Niemand hat das explizit so gewollt. Tatsächlich sind solche Kettenreaktionen nur in einem Simulationsmodell vorhersehbar [3] (Bild 3).

Der umweltbedingte Eigenwert

Das Beziehungspotenzial bestimmt weitgehend auch die Standortwahl der Wohnbevölkerung.
Zusätzlich spielt hier aber auch der umweltbedingte Eigenwert [4] eine entscheidende Rolle. Es ist offensichtlich, dass Standorte mit hohem Beziehungspotenzial (definitionsgemäss verbunden mit Verkehr und Dichte) tendenziell negative (störende) Umwelteinflüsse produzieren, während umgekehrt Ruhe und Aussicht hohe Beziehungspotenziale eher ausschliessen. Die beiden Faktoren der Standortgüte (Beziehungspotenzial und umweltbedingter Eigenwert) sind also Gegenspieler im Wettbewerb um die Gunst der standortsuchenden Wohnbevölkerung.

Dies bestätigt die Karte (Bild 4): Auf den blauen Standorten befinden sich Haushalte, die auf ein hohes Beziehungspotenzial Wert legen (viele Möglichkeiten der Arbeit, des Einkaufs, der Bildung, der Unterhaltung und der sozialen Kontakte) und einen entsprechenden Mietzins dafür zu zahlen bereit sind. Auf den gelben Standorten befinden sich Haushalte, die Wert auf einen besonders
guten umweltbedingten Eigenwert (hier repräsentiert durch Seesicht) legen und einen entsprechenden Mietzins dafür zu zahlen bereit sind. Die beiden Präferenzgruppen bilden mehrheitlich eigenständige Muster im Raum. In drei städtischen Regionen aber überlagern sich die gelben und blauen Gebiete zu roten Gebieten, in denen der von Tucholsky formulierte Wohnwunsch wahr wird, also gleichzeitig ein hohes Beziehungspotenzial und einen exzellenten umweltbedingten Eigenwert zu geniessen. Die hier bezahlten hohen Mietzinse entsprechen berechenbar diesem Genuss.[5]

Wohnen statt Büros

Bis noch in die 1970er-Jahre diktierte praktisch nur eine Standortgüteeigenschaft die Entwicklung in den Städten: das Beziehungspotenzial. Da Büros und Geschäfte für hohe Beziehungspotenziale mehr bezahlen als Wohnungssuchende, wurden mit jedem Wachstumsschritt gnadenlos Wohnungen in Büros verwandelt und die Bevölkerung aufs Land vertrieben. Die Umwelt in der Stadt wurde nicht als eigenständige Kraft wahrgenommen. Die Verkehrslawine, die Spritzen im Park, das Badeverbot im See, das alles wurde mit dem Begriff Stadt gleichgesetzt.

Unterdessen haben zwei Entwicklungen stattgefunden, welche die Werte-Waage der städtischen Standorte zugunsten der Wohnbevölkerung beeinflussen: Erstens hat sich im ganzen Land und insbesondere in den Städten infolge der grossen Anstrengungen der öffentlichen Hand der umweltbedingte Eigenwert verbessert. In den Seen und Flüssen kann gebadet werden, viele emittierende Industrien sind weggezogen oder verschwunden, zahlreiche Schiessplätze und Flugplätze sind aufgehoben, neue Pärke und Alleen angelegt worden usw. Gleichzeitig haben sich aber auch die Anforderungen der Wohnbevölkerung an die Standorte gewandelt. Wie im jüngsten Forschungsbericht des Autors6 ausführlich beschrieben, werden auch in der Stadt positive umweltbedingte Eigenwerte explizit verlangt. Dabei ist die «Seesicht» (als Sammelbegriff für See-, Fluss- und Bergsicht) zur begehrtesten Standorteigenschaft avanciert. Für sie wird besonders viel zusätzlicher Mietzins bezahlt. So kann neuerdings Wohnnutzung auch auf Standorten mit starken Beziehungspotenzialen eine höhere Rendite abwerfen als Büronutzung. Dann nämlich, wenn der Standort einen positiven umweltbedingten Eigenwert aufweist oder ihm ein solcher gegeben wird (Bild 5).

Es kann sich für den Investor also lohnen, eine Seesicht selbst zu erschaffen, indem er beispielsweise in einem Teil des Baulandes aufs Bauen verzichtet und das geopferte Bauland unter Wasser setzt (Bild 6). Dann kann dieser künstliche See (unter Umständen) auf dem übrigen Teil des Areals den umweltbedingten Eigenwert und damit die Standortgüte für die Nutzung Wohnen derart erhöhen, dass, über alles gerechnet, eine höhere Gesamtrendite erzielt wird als bei der üblichen Maximalausnützung.

Zu grossflächigen Nutzungswechseln kann es heutzutage auch ganz ohne Opfer des Investors kommen. Dann nämlich, wenn das erhöhte Interesse der Wohnungssuchenden an positiven umweltbedingten Eigenwerten so sehr zunimmt, dass «verschüttete» (latent, aber ständig vorhandenen) Eigenwerte wiederentdeckt und die seinerzeit zweckentfremdeten Wohnliegenschaften wieder dem ursprünglichen Zweck zugeführt werden – nicht aufgrund eines gesetzlichen Zwangs, sondern im Bestreben der Investoren, den Wert zu maximieren.

Praktische Anwendung

So könnten wir fortfahren und eine Sammlung «Neue Planungs- und Bauregeln» anlegen. Während seiner Arbeiten im Zusammenhang mit der Revision des Mietrechts hat der Autor von Juristen tatsächlich öfter die Meinung gehört, er brauche doch sein Modell nur ein einziges Mal laufen zu lassen. Dann könnte eine abschliessende Liste der wertvermehrenden und wertvermindernden Standorteigenschaften und Planungsmassnahmen erstellt und in allen Amtsstuben aufgehängt werden. Wer so argumentiert, denkt statisch und unrealistisch. Der Simulator ist das genaue Gegenstück zu den planerischen oder juristischen in Stein gemeisselten Geboten. Dieses Instrument hat keine Ideologie und predigt keine Verhaltensregeln. Dafür läuft es permanent und setzt jedes Phänomen sogleich in Relation zu andern Phänomenen. Der Simulator macht (genau wie jener des Piloten, des Chirurgen, des Erdbebenforschers) auf Zusammenhänge aufmerksam, die von blossem Auge nicht erkennbar sind.

Dabei tritt auch die ausgeprägte Relativität des Wertes baulicher Massnahmen zutage. Das einleuchtendste Beispiel dafür liefert die bekannte «Balkonfrage»: Ein Vermieter hängt zwecks Verbesserung der Rendite einen Balkon an sein Mietshaus, wo bisher keiner war. Was kann er dem Vermieter verrechnen? Die häufigste Antwort ist die juristische: so viel, wie zur Verzinsung der Baukosten nötig ist. In Wirklichkeit aber bestimmt nicht der Balkon an sich (also auch nicht seine Erstellungskosten) den Wert der Aktion, sondern der Standort des Mietshauses: Steht das Haus unter der Autobahn, zahlt der Mieter gar nichts, steht es aber an einem Südhang und überblickt See und Berge, so ist der Mieter bereit, für den durch den Balkon ermöglichten Mehrgenuss entsprechend mehr zu bezahlen.
Auch der Wert von planerischen Massnahmen ist relativ und nicht so ohne weiteres von blossem Auge zu erkennen. Der Wert eines künstlichen Sees oder eines Stücks Autobahn beispielsweise manifestiert sich erst durch das, was damit ausgelöst wird. Stellt man neben den künstlichen See eine Fabrik, so geschieht gar nichts. Ist aber das neue Stück Autobahn der Missing Link, der das gesamte Transportnetz zum Funktionieren bringt, so steht bereits am nächsten Tag der clevere Investor da.

Der Vorteil der Anwendung eines Simulationsmodells in der politischen Planungspraxis ist klar: Im politisch neutralen Modell kann frühzeitig erkannt werden, wo sich für die räumliche Entwicklung Chancen auftun oder Probleme zusammenbrauen. Darauf können die Planer reagieren, indem sie selbst in die vom Computermodell simulierte Realität einsteigen und in ihr im Voraus Ideen und Vorschläge so lange testen, bis ihre Auswirkungen erkannt und ihr Nutzen quantifiziert, sichtbar und plausibel ist – und zwar für alle Beteiligten: für die Planer selbst, für die standort­suchenden Nutzer, für die Anlagemöglichkeiten suchenden Investoren und für die Entscheidungshilfen suchenden Politiker.
Anmerkungen
[1] Kurt Tucholsky: Auf dem Land wohnen, zitiert von Moritz Leuenberger in der Rede zum 25-Jahr-Jubiläum des Raumplanungsgesetzes. 2004.
[2] Martin Geiger: Die Standortgüte in städtischen Regionen. Das Beziehungspotenzial als ausschlaggebende Variable bei der Standortwahl des Industrie-, Dienstleistungs- und Wohnsektors in der Region Zürich. Diss. ETH Zürich. 1973.
[3] Siehe dazu auch: Martin Geiger: Form follows function im Städtebau. Werk, Bauen und Wohnen. November 1999.
[4] Siehe dazu u.a.: Martin Geiger: Wohnung, Wohnstandort und Mietzins. Band 33 Schriftenreihe Wohnungswesen. 1985.
[5] Ausführlich beschrieben in Martin Geiger: Der Mietwohnungsmarkt. Analyse von Ursache und Wirkung im grössten Markt der Schweiz. Band 77 Schriftenreihe Wohnungswesen. 2006.
www.bbl.admin.ch/bundespublikationen. Nr. 725.077.
[6] Ebd.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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