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TEC21 2007|10
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Entwerfen an lärmigen Lagen

Lärm belastet immer mehr Menschen im Wohnalltag. Zu deren Schutz setzen die eidgenössische Lärmschutzverordnung (LSV) und ihre Anwendung in den Kantonen Normen für den Wohnungsbau. Neuere Wohnbauwettbewerbe in der Stadt Zürich zeigen, dass diese Vorschriften nicht zu einer introvertierten «Lärmschutzarchitektur» führen müssen.

12. März 2007 - Ursula Müller, Daniel Kurz
Lärm ist keine Nebensache. Allein in der Stadt Zürich wohnen und arbeiten 140 000 Personen, also mehr als ein Drittel der Stadtbevölkerung, an verkehrsreichen Strassen, wo die Lärmimmissionen die amtlichen Grenzwerte überschreiten. Für 20 000 Personen übertrifft der Lärm sogar die Alarmwerte (Tageswert 70 dB in Wohnzonen, vgl. Bild 1). Für die Betroffenen – sehr oft sozial benachteiligte Gruppen – kann dauernde Lärmbelastung gesundheitliche Folgen haben. Architektinnen und Architekten haben beim Bauen an lärmexponierten Lagen besondere Vorschriften zu beachten, die sich aus der eidgenössischen Lärmschutzverordnung vom 15. Dezember 1986 ableiten. Für den Vollzug der Verordnung sind die Kantone zuständig, die je eine eigene Praxis entwickelt haben. Grosse Städte wie Zürich besitzen eigene Lärmschutzfachstellen, die die Baugesuche prüfen. Sie koordinieren ihre Praxis mit den kantonalen Stellen. Um die unübersichtliche Vollzugspraxis in der Schweiz etwas zu vereinheitlichen, hat der «Cercle Bruit», die Vereinigung der kantonalen Lärmschutzfachleute, die Absicht, einen Leitfaden für Architektinnen und Hausbesitzer herauszugeben.

Bauen an lärmigen Strassen

Lärmgrenzwerte sind keine absoluten Grössen, sondern abhängig von der Dauer und vom Zeitpunkt (Tages- und Nachtwerte) und von nutzungsabhängigen Empfindlichkeitsstufen. In der Stadt Zürich zum Beispiel gehören Zonen mit einem Wohnanteil von mindestens 90 % zur Empfindlichkeitsstufe II mit dem Tagesgrenzwert von 60 dB(A), was etwa dem Lärm von 100 Autos pro Stunde entspricht.
Die LSV will primär das Entstehen von Lärm an der Quelle verhindern und befasst sich nur am Rand mit dem Problem des Bauens an lärmbelasteten Standorten. Als einzige für alle Kantone verbindliche Vorgabe verlangt sie in Art. 31 die «Anordnung der lärmempfindlichen Räume auf der dem Lärm abgewandten Seite des Gebäudes». Diese absolute Forderung birgt jedoch die Gefahr in sich, dass sich Neubauten an belasteten Strassen vollständig vom öffentlichen Raum abwenden und diesen ganz dem lärmverursachenden Verkehr überlassen. Der daraus folgende Verlust an sozialem Leben und sozialer Kontrolle könnte für Sicherheit und Lebensqualität an solchen Strassen gravierende Folgen haben.

Um diese Gefahr zu vermindern, räumt der Kanton Zürich seit langem die Möglichkeit ein, dass Wohnräume auch auf der lärmigen Seite liegen dürfen, wenn sie auf der ruhigen Seite ein zusätzliches «Lüftungsfenster» aufweisen. Das kann mit Wohnräumen erreicht werden, die von Fassade zu Fassade durchgehen. Die Lärmschutzfachstelle der Stadt Zürich prüft jedes Jahr rund 1000 Baugesuche und ist bemüht, gute und innovative bauliche Lösungen zu ermöglichen. Daraus ergibt sich eine ständige Verfeinerung und Differenzierung der Bewilligungspraxis, die zwischen Stadt und Kanton koordiniert wird. Die Folge können willkommene Lockerungen sein: So galt für durchgehende Wohnräume noch vor kurzer Zeit die Faustregel, dass ihre Breite mindestens ein Drittel der Länge ausmachen müsse. Inzwischen wurde das Verhältnis auf 1:5 gelockert, was den Einsatz dieser Grundrissvariante wesentlich erleichtert.

Bei den meisten Wohnungsbau-Wettbewerben der letzten Jahre, die das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich organisierte, war der Umgang mit Strassenlärm eine massgebliche Rahmenbedingung im Entwurfsprozess. Meist galt es, Ersatzneubauten auf grösseren Parzellen an lärmbelas­teten Lagen für gemeinnützige Bauträger zu planen. Neben der Frage nach dem adäquaten städtebaulichen Massstab im Fall von Verdichtung und Mehrausnützung und der Auseinandersetzung mit der preiswerten Familienwohnung für die nächste Generation galt es, neue Entwurfsregeln an lärmexponierten Strassen zu finden. Diese beeinflussten städtebauliche Haltungen, mögliche Gebäudetypologien und ihre architektonische Umsetzung bis hin zur Bestimmung des Raumprogramms. Die Überlagerung der Entwurfsanforderungen wurde von den Projektierenden immer wieder gemeistert ohne offensichtliche «Lärmschutzarchitektur» oder soziale Abkehr von der Strasse. Jedoch zeigt sich vor allem bei der Wohnungstypologie auch aufgrund der kantonalen Anwendungspraxis der eidgenössischen Lärmschutzverordnung eine Vereinheitlichung: das «Durchwohnen» mit einer seitlichen, zellulären Struktur zur ruhigen Seite. Die im Folgenden herausgepickten Beispiele der letzten Jahre machen bewusst, dass bei grossen Grundstücken vorab der städtebauliche und typologische Spielraum ausgeschöpft wird, bei kleinen Parzellen mit wenig Gebäudeabwicklung fast nur noch mit Anpassungen im Raumprogramm bzw. im Bewohnersegment reagiert werden kann.

Anpassung des Raumprogramms

Beim Ersatzneubau an der Langstrasse 200 für die Liegenschaftenverwaltung der Stadt Zürich waren drei Rahmenbedingungen der Parzelle relevant für den Umgang mit der Lärmproblematik: die Langstrasse als lebendigste Ausgehmeile Zürichs, die Lage an der Nordecke einer Blockrandbebauung und die überschrittenen Lärmgrenzwerte an Langstrasse und Neugasse. Sie veranlassten die Bauherrin, das Raumprogramm bewusst minimal zu beschreiben: Die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner sollten auf das städtische Leben ausgerichtete Menschen sein, die sich durch die spezielle Lage und Architektur angesprochen fühlen und beim Wort Wohnung nicht an funktionale Einheiten wie Schlaf- und Wohnzimmer denken. Die hohe Lärmbelastung lässt nur Wohnräume zu, die über die knappe Hofabwicklung belüftbar sind. Unter den über hundert eingegangenen Entwürfen des offenen Projektwettbewerbs fanden sich nur wenige geschickt zonierte Einraumwohnungen, die das Problem lösten. Der Architektin Zita Cotti gelang es am eindrücklichsten mit einer wohltuend zurückhaltenden Volumetrie und einer überraschend einfachen, räumlich jedoch vielfältigen Grundrissfigur (Bild 2).

Städtebauliche Reaktion

Das Projekt für einen Ersatzneubau der Siedlung Triemli für die Baugenossenschaft Sonnengarten aus dem Büro von Ballmoos Krucker Architekten reagiert auf die komplexe Lärmsituation mit einer städtebaulichen Antwort (Bilder 3–4). Die offene Grossform mit zwei mehrfach geknickten und verzogenen Gebäudezeilen, die von den Strassen leicht zurückgerückt sind, umfasst einen zentralen lärmgeschützten Hofraum als klaren Bezugspunkt der Genossenschaftssiedlung. Der etwas weniger lauten Triemlistrasse ist die strengere Empfindlichkeitsstufe II zugeordnet, was zu einer grösseren Grenzwertüberschreitung führt und somit nur ein lärmabgewandtes Lüften zulässt. Die etwas lärmintensivere Birmensdorferstrasse wird durch eine weniger strenge Empfindlichkeitsstufe IIIa (lärmvorbelastetes Gebiet) begleitet, hier lassen die mässig grossen Grenzwert­überschreitungen mehr Spielraum für den Grundriss. Die Verfasser reagieren mit zwei unterschiedlich tiefen Baukörpern und etwas grösseren Raumhöhen: an der Triemlistrasse mit einer schlankeren Gebäudetiefe und durchgehenden Wohn-Essbereichen, die zum Hof gelüftet werden, und entlang der Birmensdorferstrasse mit einem tieferen, zweiseitig ausgerichteten Gebäudetyp. Hier können die Schlafzimmer mit seitlicher Loggia zur Strasse orientiert sein, da die Lärmumlenkung um 90° des Lüftungsflügels zur Loggia die nötige Lärmreduktion bewirkt.

Im Wettbewerb für die Siedlung Grünwald der drei Bauträger Baugenossenschaft Sonnengarten, Gemeinnützige Bau- und Mietergenossenschaft Zürich und Stiftung Alterswohnungen der Stadt Zürich im Quartier Rütihof wurden städtebaulich sehr unterschiedliche Vorschläge eingereicht. Für das Gelände im stumpfen Winkel zweier lauter Strassen schlugen Bünzli & Courvoisier / Fröhlich & Hsu Architekten / Esch Architekten strahlenförmig angeordnete Gebäudezeilen vor. Sie verbinden die Ausrichtung zum Sonnenlicht mit der Einfügung in die Hanglage. Gemäss der abnehmenden Lärmbelastung ins Parzelleninnere werden verschiedene Wohntypologien kombiniert. An den lärmbelasteten Enden finden sich in ihrer vielfältigen Lichtstimmung und räumlichen Spannung interessante, bis 24 m tiefe Maisonettewohnungen mit Lichthöfen (Bild 5).

Urs Primas / Franziska Schneider/Jens Studer hingegen schlagen eine Grossform vor, die einen weiten, ruhigen Landschaftsraum umschliesst. Sie setzt eine eindeutige Innen-Aussen-Ordnung und steht im Kontrast zu verschiedenen Bebauungsmustern mit offenen Freiraumkonzepten im Quartier. Entlang der lauten Strassen ermöglichen schlanke Gebäudetiefen das Belüften der Wohnung gegen den Binnenraum. Selbst die Ausbildung der Balkone ist der jeweiligen Lärmintensität angepasst (Bilder 6 und 7).

Architektonische Reaktion

Beim Ersatzneubau der Siedlung Brunnenhof für die Stiftung für kinderreiche Familien zwangen die schmale Parzelle entlang der Hofwiesenstrasse und die massiv überschrittenen Lärmgrenzwerte die Entwerfenden dazu, sich architektonisch und typologisch mit dem Bezug der Wohnung zur Strasse und mit der Wirkung der Gebäude auf die Strassenbenützer zu befassen. Der Entwurf von Atelier 5 reagiert mit einer vollflächigen Schallschutzglaswand mit Laubengang-Erschliessung als eigenständigem Gebäudeteil entlang der Strasse (Bild 8). Dahinter liegt, durch knappe Lichthöfe abgekoppelt, der klassisch entwickelte, zweiseitig ausgerichtete Wohnungsbau. Dieses voll verglaste Hochregal wirkt für den Strassenraum eher monoton und anonym. Das abgerückte Wohnen verstärkt auf der Hofwiesenstrasse den Eindruck eines Verkehrskanals.

Der Entwurf von Enzmann Fischer Architekten belebt die Strassenseite mit zweigeschossigen, grosszügigen Wohnküchen (Bild 09). Dieser Schwerpunkt der Wohnung bringt viel Tageslicht in die tiefen Baukörper und über die grossen Fenster gleichzeitig Leben auf die Strasse. Die übrigen Wohn- und Schlafräume sind zum Park orientiert. Bei dem im Bau stehenden Projekt von Gigon / Guyer gelingt es, durch eine geschickte Grundrissaufteilung beide Gebäudeseiten bedeutend zu gewichten (Bilder 10 und 11). Die Schlafzimmer sind zum Park orientiert, entlang der Strasse erlebt man eine Enfilade vom Treppenraum über die Eingangsloggia zur Essküche und bis zum Wohnzimmer, das die ganze Gebäudetiefe einnimmt. Der Strassenraum wird nicht durch Nebenräume degradiert.

Die Beispiele zeigen: Lärmbelastung und Lärmschutzvorschriften führen nicht automatisch zu einer Verengung der städtebaulichen Lösungsmöglichkeiten und nicht zwingend zu Lärmschutzarchitektur auf Kosten der Strasse als Lebensraum. Eine vertiefte Auseinandersetzung der Projektierenden mit der Problematik und innovatives Denken sind aber Voraussetzung für erfolgreiche Ansätze. Eine Schwierigkeit für die Jury-Arbeit ergibt sich jedoch immer wieder aus einer gewissen Rechtsunsicherheit bezüglich der Bewilligungsfähigkeit mancher Projektvorschläge.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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