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Metamorphose 06/08
Die Boomjahre
Metamorphose 06/08
zur Zeitschrift: Metamorphose
Fokus Die Boomjahre

„Die Architektur der 60er Jahre lässt nicht zu, sie mit akademischer Distanz analysierend zu beschreiben, es sei denn mit den Begriffen der Pathologie. [...] Die Geschichte der Architektur dieses Jahrzehnts ist, so zeigt sich immer deutlicher, das schlimmste Kapitel der neueren Baugeschichte.“ (Heinrich Klotz, 1987[1])


Die Kräne standen nicht mehr still: In den Sechziger- und Siebzigerjahren hat sich der Bestand an Gebäuden und Infrastruktur in Westeuropa verdoppelt. Verdoppelt in nur rund zwei Jahrzehnten! Grund genug, einen genaueren Blick auf die Architektur jener Zeit zu werfen und sich zu fragen, was heute mit den häufig ungeliebten Bauten geschehen soll.

Sie hat nur wenig Freunde: Die Architektur der Sechzigerjahre wurde nicht nur von Heinrich Klotz verteufelt – Charles Jencks erklärte sie gar für tot, als er Ende der Siebzigerjahre behauptete: „Die moderne Architektur starb in St Louis, Missouri, am 15. Juli 1972 um 15.32 Uhr, als die berüchtigte Siedlung Pruitt-Igoe den endgültigen Gnadenstoß durch Dynamit erhielt.“ [2] Auch heute noch ist die Architektur der Sechziger- und Siebzigerjahre nicht unbedingt mehrheitsfähig. Außer Architekten, einigen Denkmalpflegern und vielleicht noch ein paar Modefotografen kann sich kaum jemand für die Bauten jener Zeit erwärmen.

Einer der Gründe, weshalb diese Gebäude nicht als wertvoll empfunden werden, ist, dass es so viele von ihnen gibt. Jahr für Jahr entstanden in der alten Bundesrepublik rund 500.000 Wohnungen, während heute nur noch 250.000 per annum errichtet werden – in Ost und West zusammen. Keine andere Epoche hat uns so viel Bausubstanz hinterlassen wie die Boomjahre.

Lediglich in der Gründerzeit war der Gebäudebestand vergleichbar stark gewachsen, doch ist er inzwischen durch Krieg und die skrupellose Abrisstätigkeit in der Nachkriegszeit so stark reduziert, dass er den Relikten der Sechziger- und Siebzigerjahre keine Konkurrenz mehr machen kann. Auch dieser rücksichtslose Umgang mit der gebauten Vergangenheit wird der Architektur der Boomjahre heute angelastet.

Inzwischen droht ihr selbst das gleiche Schicksal: Abbruch oder sorglose Transformation von Gebäuden aus der Zeit zwischen 1960 und 1980 sind an der Tagesordnung. Diese Zerstörung könnte man angesichts des reichen Bestands gelassen hinnehmen, ja sogar mit der Haltung begrüßen, dass die Epoche durch das Verschwinden der unbedeutenderen Bauten in einem allmählichen Selektionsprozess aufgewertet werde. Doch leider geraten immer wieder auch herausragende Werke unter die Räder, etwa das Berliner Ahornblatt von Ulrich Müther oder das Dortmunder Volkswohlbund-Hochhaus von Harald Deilmann. Viele Gebäude verschwinden von der Bildfläche, noch ehe sie in den Blick des Denkmalschutzes geraten – oder der Denkmalschutz wird wirtschaftlichen Interessen geopfert, ohne dass sich nennenswerter Widerstand regt.

Tatsächlich erschweren einige typische Eigenschaften der Boomjahre-Bauten ihren Besitzern das Leben. Bei Gebäudehüllen, die einst als „ehrliche Konstruktion“ gedacht waren, reiht sich aus heutiger Sicht Wärmebrücke an Wärmebrücke; sie gelten damit als echte Energiefresser, die sich häufig nur mit hohem Aufwand sanieren lassen. Sichtbetonflächen sind oft mangelhaft ausgeführt und bedürfen der Instandsetzung. In den Innenräumen finden sich zahlreiche Kunststoffe der ersten Generation, die inzwischen versprödet sind und ihren Dienst quittieren. Und dann ist da noch der gefährliche Asbest, der sich in jeder Ritze verbergen kann. Triftige Gründe, die gegen eine schonende Instandsetzung und für einen Totalumbau sprechen, der aber häufig teurer ist als Abriss und Neubau. Wenn man es dann noch mit einem der typischen Solitäre zu tun hat, die umgeben von viel Freiraum auf einem Grundstück stehen, das sich mit einer dichteren Bebauung besser ausnutzen ließe, ist das Schicksal des Bauwerks meist besiegelt.

Dass es auch anders geht, zeigen einige Umbauten und Modernisierungen der vergangenen Jahre. Soll das Gebäude erhalten werden, stellen sich jedoch viele Fragen: Lässt sich der Energieverbrauch ohne großen Verlust an Originalsubstanz in den Griff bekommen? Oder lässt sich nur das Erscheinungsbild bewahren? Welche gestalterische Haltung ist angemessen? Lohnt es sich, notwendige neue Bauteile erkennbar vom Bestand abzusetzen? Wird er damit nicht über Gebühr inszeniert? Bietet es sich bei den Bauten der Boomjahre nicht an, die Architektursprache der Entstehungszeit fortzuschreiben, weiterzuentwickeln, da sie noch nicht in gleichem Maße veraltet ist wie bei Gebäuden früherer Epochen? Auf solche Fragen werden wir Antworten finden müssen, denn die Bauten der Sechziger- und Siebzigerjahre stehen jetzt vor oder in ihrem ersten großen Erneuerungszyklus.

Christian Schönwetter

Anmerkungen:
[1] Heinrich Klotz: Architektur und Städtebau – Die Ökonomie triumphiert. In: Hilmar Hoffmann/ Heinrich Klotz (Hg.): Die Sechziger. Econ Verlag, Düsseldorf, Wien, New York 1987, S.134ff
[2] Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1978. S. 9

Bestandsaufnahme
06-15 | Projekte, Bücher, Termine

18-19 | Die Boomjahre
20-23 | Revolte und Revision: Die Architektur der 1960er und frühen 70er Jahre
24-27 | 1960 bis 1973: Eine Epoche im Überblick
28-35 | 01 Aufgefrischt: Freibad Seebach in Zürich
36-39 | 02 Beton als wallender Vorhang: Geschäftszentrum Lochergut in Zürich
40-43 | 03 Komm und spiel mit uns: „Three Towers in Manchester
44-47 | 04 Ein Quantum Trost: Bürogebäude Quantum in Hamburg
48-57 | 05 Eine Schule als Gesamtkunstwerk: Grundschule Rolandstraße in Düsseldorf

Technik
58-61 | Tödliche Fasern: Asbest – vom kostbaren Mineral zur tickenden Zeitbombe

Produkte
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70-71 | Neuer Masterstudiengang in Siegen

Rubriken
74 | Vorschau, Impressum, Bildnachweis

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