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Bruno Taut: Architekturlehre
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Rekonstruktion der Moderne

Die Balassa Villa von János Beutum

Die Debatten über die Legitimität der Rekonstruktion historischer Gebäude werden in Deutschland nach wie vor heftig und hoch emotionalisiert geführt. In Ungarn gibt es solche scharfe Auseinandersetzungen nicht. Zerstörung geschah oft durch Vernachlässigung auf Grund fehlender Wertschätzung des architektonischen Erbes. Daher muss die Frage der Rekonstruktion dort in einen anderen Kontext gestellt werden, denn sie ist wichtiger Bestandteil einer kritischen Geschichtsaufarbeitung.

20. Oktober 2009 - Christina Lenart
90 Jahre Bauhaus geben Anlass, die kollektive Geschichtsschreibung und das architektonische Erbe dieser einflussreichen Schule neu zu hinterfragen. So auch den wechselseitigen Einfluss zwischen der Architekturlehre des Bauhauses und den osteuropäischen Bewegungen der Moderne.

In diesem Kontext kommt die Rekonstruktion der Balassa Villa in der Fodor utca, einer Straße in einer Villengegend Budapests, einer Wiederentdeckung gleich. Die Architekten Ákos Pfemeter, Margaréta Mészáros und Ágoston Szőke von Pfemeter and Partners stellten nach intensiver Recherche das Einfamilienhaus nach den Originalplänen in seinem ursprünglichen Zustand von 1935 wieder her.

Von dem ungarischen Architekten János Beutum entworfen und von Ferenc Somló ausgeführt, zählt das Gebäude zu den Pionieren einer neuen Ära ungarischer Baukunst. Ende der 20er Jahre kehrten viele Architekten, die ihr Studium am Bauhaus oder an anderen westeuropäischen Architekturschulen absolviert hatten, nach Ungarn zurück und brachten die Ideen und die Lehre der Moderne ins Land. Wichtige Vertreter des Bauhauses in Ungarn waren Lajos Kozma, Farkas Molnár, László Lauber, István Nyiri und Jozsef Fisher. Zu internationaler Bekanntheit gelangten Mitglieder des Bauhauses wie László Moholy-Nagy, György Képes oder Marcel Breuer. Das einsetzende Horthy-Regime und die spätere Diktatur eines „sozialen Realismus“ in der Architektur durch die kommunistische Regierung zwang viele Architekturschaffende in die Emigration. Beutums berufliche Karriere fand mit der Verstaatlichung seines Architekturbüros nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende.

Die Reihe bedeutender Gebäude der Moderne, die bis in die späten 40er Jahre trotz einer starken nationalistischen und traditionalistischen Bewegung entstanden, muss langsam erst wiederentdeckt werden. Dazu gehört auch die 1932 von 22 Architekten nach dem Vorbild der Werkbundsiedlungen errichtete Wohnhausanlage in der Napraforgó utca in Budapest.

Die Balassa Villa ist ein mehrstöckiger Bau in Hanglage mit einem weiten Blick über die Stadt. Im Untergeschoss sind Garage und Hausmeisterwohnung untergebracht. Im Erdgeschoss erschließt ein vom Vorzimmer ausgehender Treppenaufgang das erste Geschoss. Küche, Esszimmer und das als „Halle“ bezeichnete Wohnzimmer befinden sich im Erdgeschoss. Im ersten Stock sind das Kinderzimmer, Bad und zwei Schlafzimmer untergebracht, die beide Zugang zu der dazwischenliegenden Garderobe haben. Jedes Stockwerk verfügt über einen Außenraum – wahlweise Garten, Terrasse, Balkon oder Dachterrasse.

Die Orientierung der Fenster und Wohnräume richtet sich in Süd-Ost-Richtung zur Stadt. Ausgeprägte Funktionalität wird zum formgebenden Element der Innenräume: Die in Form eines Viertelkreises angelegten Fensterelemente des Wohnzimmers lassen sich beiderseits vollständig in Wandschlitze verschieben, die zugänglich sind, damit die Fenster vom Innenraum aus gereinigt werden können. An der Nordseite bildet dieser Zugang gleichzeitig eine Sitznische. In der ursprünglichen Planung betont der durchgehende und sichtbar belassene, der Wandkrümmung folgende Heizkörper den perspektivischen Effekt ähnlich einem Fischauge. Das Fenster wirkt durch die Krümmung und einen durch ein Wandrelief angedeuteten Rahmen wie ein Panoramagemälde.
Auch die Ecken des Esszimmers und des darüber liegenden Kinderzimmers können mittels einer besonderen Klapp- und Schiebe-Technik der Fenster gänzlich geöffnet werden. Durch die stützenfreie Ausbildung der Ecke umgibt ein Fensterband den Essbereich, das bei geöffnetem Zustand eine intensive Beziehung zum Außenraum herstellt. Die beiden großen Fensteröffnungen des Hauses sind somit nicht wie gewöhnlich als zweidimensionale Ausschnitte der Wandfläche ausgebildet, sondern bilden ihrerseits dreidimensionale, nach außen gestülpte Räume. Diese raffinierten architektonischen Lösungen erzeugen zusammen mit der Zusammenschaltbarkeit von Wohn- und Essbereich über eine Schiebetür die Wahrnehmung eines offenen und unbegrenzten Raumes.

Bereits 1946-52 wurde im Zuge eines ersten Umbaus diese Schiebetür entfernt. Der Wechsel der politischen Regime brachte auch einen Wechsel der Bewohner und substanzielle Änderungen am Haus mit sich. Die ersten Bewohner dürften jüdische Industrielle gewesen sein, nach deren Flucht oder Vertreibung das Haus in der kommunistischen Ära kollektiviert und an Ministerialbeamte vergeben wurde – der erste Umbau findet statt. Nach 1989 stand das Haus erneut zum Verkauf. Neben weiteren aufwendigen Änderungen ersetzte man in den 1990er Jahren das Flachdach durch ein Giebeldach. Erst mit einem weiteren Besitzerwechsel vor drei Jahren erfolgte letztes Jahr der Rückbau. Die Architekten Pfemeter, Mészáros und Szőke setzten es sich zum Ziel, das Haus möglichst den ursprünglichen Plänen getreu rückzubauen, gleichzeitig jedoch auch auf den Wunsch der Bauherren einzugehen. So erweiterten sie den Ausgang auf die Dachterrasse um einen Aufenthaltsraum.

Auch andere Gebäude János Beutums wurden umgebaut, abgerissen oder warten noch auf eine Wiederentdeckung. 1991 wurde ebenfalls eines seiner Werke baulichen Veränderungen unterzogen. In das von ihm zusammen mit Pál Rákos 1934 umgebaute und eingerichtete Kaffeehaus Savoy am Budapester Oktogon zog das erste ungarische Fast-Food Restaurant der amerikanischen Kette Burger King ein.


[Christina Lenart ist Architektin. Als Stipendiatin des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur arbeitete sie in der ARCH+ Redaktion mit. Hier schreibt sie über die Wiederentdeckung des Werkes ihres Großvaters János Beutum.]

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

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