Zeitschrift

steeldoc 01/13
Kunstvoll überbrückt
steeldoc 01/13
zur Zeitschrift: Steeldoc
Herausgeber:in: Stahlbau Zentrum Schweiz

Luftiges Stahlgeflecht

Hans-Wilsdorf-Brücke, Genf CH

Eine Folge verschlungener Ellipsen aus Stahl und linearer Elemente bilden das Tragwerk der Hans-Wilsdorf-Brücke. Mit ihrer ausgeprägten und eleganten Form stellt sie weit mehr als ein funktionales Verkehrsbauwerk dar: die Überquerung der Arve wird zu einem besonderen Erlebnis.

Die neue Brücke über die Arve verbindet das Stadtzentrum mit dem Stadtteil Praille/Acacias/Vernets, einem der wichtigsten Entwicklungsgebiete von Genf. Mit ihrer markanten Form stellt sie ein verbindendes und identitätsstiftendes Element zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Quartieren her.

Die Geschichte der Überquerung des Flusses an dieser Stelle reicht bis in das 19. Jahrhundert zurück, als diese erst als Holzbrücke für die Landesausstellung von 1896 realisiert wurde. Diese Brücke wich zwanzig Jahre später, und erst Anfang der 50er-Jahre baute die Armee ein Provisorium. Bedrohliche Hochwasser führten immer wieder zu Sperrungen und Wiedereröffnungen. Erst vor ein paar Jahren bot sich durch die neuere Stadtentwicklung die Gelegenheit, die historische Achse wieder aufzunehmen und eine solide Stahlbrücke zu errichten, die dem grossen Uhrmacher und Gründer der Firma Rolex, Hans Wilsdorf, gewidmet ist.

Elliptische Hülle

Die 85,40 Meter lange Brücke ist eine Neuinterpretation der traditionellen Balkenbrücke und überspannt die Arve in einem kaum wahrnehmbaren, leichten Bogen ohne Zwischenabstützungen. Ihre architektonische und strukturelle Form ist das Resultat einer ausgefeilten Suche nach kunstvoller Zufälligkeit und wirtschaftlicher Ausführbarkeit des Stahlbaus.

Durch die röhrenförmige Tragstruktur mit einer Höhe von 8,50 Metern verläuft die Fahrbahn aus vorgespanntem Beton. Die elliptische Rohrform wird gebildet aus ineinander verschlungenen, elliptisch verlaufenden Hohlkastenprofilen. Die gesamte Tragstruktur setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen: drei längsverlaufenden unteren Kastenprofilen, zwei Eingangsportalen, zwei oberen Längsträgern, zwei Hauptbögen, den ellipsenförmigen Ringen sowie drei linearen Umhüllungsbögen, welche diagonal über die ganze Struktur verlaufen. Die Variation von zwei Typen unterschiedlich geneigter elliptischer Ringe bricht die Symmetrie des Bauwerks und verleiht der Gesamtkomposition mehr Dynamik.

Insgesamt wurden über 250 verschiedene parametrische Querschnitte berechnet und ausgeführt.

Modellhafte Bemessung

Der aussergewöhnliche Entwurf der Brücke erforderte komplexe statische Berechnungen. Den Ausgangspunkt bildete ein erstes Rechenmodell auf der Basis von Balken aus Rohrprofilen gleichbleibenden Querschnitts, welche einem Hohlkastenprofil von 400 mal 400 Millimetern entsprechen. Dieses Modell zeigte auf, dass zusätzlich zu den elliptischen Elementen, zwei längsverlaufende Bögen aus Vollstahl mit einem Durchmesser von 300 Millimetern notwendig sind, um übermässige Verformungen zu begrenzen. Die Berechnung der dynamischen Belastung der Tragstruktur erlaubte den Nachweis der Erdbebensicherheit und der Eigenfrequenz des Bauwerkes.

Das zweite Modell nahm für die elliptischen Ringe parametrische Querschnitte an, für die Ringe an den beiden Extremitäten der Struktur hingegen Schalen. Die zulässigen Verformungen und Spannungen in den tatsächlichen Querschnitten wurden durch eine nicht-lineare geometrische Berechnung überprüft. Dadurch erwiesen sich vier weitere, elliptische Ringe, zwei in der Mitte und zwei an den Enden, als notwendig. Zusätzlich wurden die Fusspunkte der Eingangsportale durch Aussteifungen ergänzt, um die Ableitung der auftretenden Kräfte in die Widerlager sicherzustellen. Mit Hilfe dieser Berechnungen und in enger Zusammenarbeit zwischen Planung und Ausführung konnte die Form, die Stahlgüte sowie die Dicke der Bleche, die von 20 bis 100 Millimeter variiert, optimiert werden.

Die Brückenkonstruktion liegt beidseits des Flusses auf einem Widerlager aus Stahlbeton auf. Je zwölf, 35 bis 40 Meter tiefe Pfahlgründungen leiten die auftretenden Kräfte in den tragfähigen Untergrund ab. Auf jedem Widerlager nehmen zwei seitliche Auflager die Vertikallasten auf, ein mittleres Auflager die Horizontal- und Querkräfte, die bei einem aussergewöhnlichem Hochwasser auftreten könnten.

Provisorische Arbeitsplattform

Bereits während der Bauzeit dienten die Widerlager gemeinsam mit fünf provisorischen Pfeilern im Fluss der Abstützung einer Arbeitsplattform, von der aus der Zusammenbau und das Verschweissen der unteren Teile des Stahlkonstruktion erfolgte. Auf die drei längsverlaufenden Kastenträger, quer verbunden durch die unteren Segmente der Ringe, wurde anschliessend die Fahrbahnplatte betoniert.

Die Stahlbetonplatte mit einer Dicke etwa 40 Zentimetern ist in Längs- und Querrichtung vorgespannt, was ihr eine hervorragende Stabilität verleiht. Über Kopfbolzendübel, welche vorzu in Aussparungen im Ortbeton eingelassen sind, ist sie fest mit der Stahl - konstruktion verbunden.

Nach dem Einbau der unteren Brückenteile begann der schwierigste Abschnitt der Baustelle: Ähnlich einem riesigen dreidimensionalen Puzzle wurden die in der Werkstatt vorgefertigten Elemente des oberen Stahltragwerkes zusammengesetzt. Spezielle Hebewerkzeuge waren nötig, um die bis zu 80 Tonnen schweren Teile im exakten Winkel zu platzieren. Zunächst mit provisorischen Verbindungen zusammengeheftet, konnten die Profile nach Überprüfung der genauen Ausrichtung zusammengeschweisst werden und die Konstruktion ihre Funktion als tragende Struktur aufnehmen.

Während der gesamten Montagezeit lag die Brücke auf der Arbeitsplattform auf. Erst zuletzt wurde das 3 000 Tonnen schwere Bauwerk ein wenig angehoben und nach dem Rückbau der Plattform ungefähr 30 Zentimeter tiefer auf den endgültigen Auflagern in Position gebracht.

Ausgezeichneter Stahlbau

Dank ihrer Breite von 15,50 Metern kann die Brücke zwei Fahrbahnen sowie je zwei Rad- und Gehwege aufnehmen. Die grosszügigen Abmessungen räumen dem Langsamverkehr eine privilegierte Stellung ein und binden so das Projekt in den Massstab des Quartiers ein. Nachts verwandelt sich das Brückenbauwerk zum Kunstobjekt: das warme rote Licht im Inneren und das bläulich weisse im Aussenbereich bilden die Zweifarbigkeit der alpinen Landschaft in der Morgen- und Abenddämmerung ab. Die Hans-Wilsdorf-Brücke widerspiegelt die kunstvolle Synthese zwischen architektonischer Skulptur und Ingenieurbauwerk und wurde für den Europäischen Stahlbaupreis 2013 nominiert, welcher im Oktober 2013 verliehen wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: Steeldoc

Ansprechpartner:in für diese Seite: Evelyn C. Frischinfo[at]szs.ch

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