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TEC21 2018|16
Konstruktionen aus Stahl und Holz
TEC21 2018|16
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Japaner in Lausanne

Ein weiterer Solitär auf dem Campus der EPFL: Kengo Kuma reduziert mit seinem ArtLab die japanische Architektursprache auf das Formale und setzt es in visuellen Kontrast zum Rolex Learning Center von Sanaa.

20. April 2018 - Mounir Ayoub
Von der Esplanade her kommend, lässt sich das ArtLab, der neue architektonische Wurf an der EPFL, schnell in seiner Gesamtheit erfassen. Ein langes Satteldach überspannt drei Pavillons aus Holz. Der erste der Pavillons enthält zwei Ausstellungssäle, der zweite ein Café und der dritte ein Musikarchiv. Für das Projekt hat sich der japanische Architekt Kengo Kuma mit CCHE Architecture et Design aus Lausanne zusammengetan, die mit den rechtlichen und baulichen Anforderungen vor Ort vertraut waren. Dazu wurden sie von mehreren in der Schweiz ansässigen Ingenieuren begleitet. Gemeinsam arbeiteten sie vier Jahre lang an der Fertigstellung des Projekts, ohne dabei das ursprüngliche Motto des gewonnenen Wettbewerbs aus den Augen zu verlieren: Under One Roof. Mit ihrem architektonischen Konzept und der daraus resultierenden Prägnanz in der visuellen Wirkung des Bauwerks ist das Team diesem Motto treu geblieben.

Aber birgt eine solche Eindeutigkeit nicht auch das Risiko, die Architektur allein auf ihre Form und deren visuelle Wirkung zu reduzieren? Vom Cosandey-Platz aus erscheint der Bau etwas subtiler: Mit dem ebenfalls auf dem Campus ansässigen Rolex Learning Center von Sanaa auf der linken Seite und den vom Nebel eingehüllten Gipfeln des savoyischen Chablais im Hintergrund erinnert die Szenerie an einen Holzschnitt des japanischen Meisters Hiroshige. Selbst Augustin Berque, der in Paris lehrende Philosoph und Geograf, hätte sich kein besseres Freiluftlabor der «Mesologie» wünschen können[1]: In seiner «Wissenschaft der Umgebungen» werden die Wechselwirkungen zwischen Architektur und ihrem räumlichen Umfeld untersucht.

Form und visuelle Wirkung

Entlang einer Nord-Süd-Achse platzierte Kengo Kuma seinen Bau parallel zur Allée de Savoie und schuf damit eine bebaute Front von über 200 m. Diese definiert deutlich die westliche Grenze des Cosandey-Platzes, des künftig grössten öffentlichen Platzes auf dem Campus der EPFL. Der Architekt setzte auf sein Bauwerk ein grosses, wie bei einer riesigen Origami-Figur geknicktes Satteldach, das der unebenen Topografie des Bodens folgt. Visuell auffällig: Der First greift die Silhouette des fernen Gebirges auf.

Am nördlichen Ende des Gebäudes knickt das Dach ab und bildet einen eindrucksvollen trigonalen Überhang. Mit einer Spitze gräbt er sich scheinbar in den Boden hinein, während die andere Spitze ins Leere ragt. Von diesem nördlichen Ende des Bauwerks aus verläuft eine durchgehend überdachte, lange Blindwand zu den Eingangsbereichen der Ausstellungsräume. Am südlichen Ende des Baus knickt das Dach ebenfalls in Richtung Boden ab und rahmt dabei den Blick vom Café zum See und zum Bergpanorama ein.

Zwei Bauwerke, zwei Gegensätze

Mit dem neuen ArtLab von Kengo Kuma und dem gegenüberliegenden Rolex Learning Center von Sanaa (vgl. TEC21 26/2010) stehen sich nun an einem Ort zwei Projekte japanischer Architekten gegenüber, die in ihrer visuellen Wirkung kaum gegensätzlicher sein könnten. Bauform und Topograpfie des ArtLab reagieren aufmerksam auf die Gegebenheiten vor Ort. Das Rolex Learning Center mit seiner autonomen Geometrie stellt im Gegensatz dazu ein Bauwerk dar, das völlig losgelöst vom Standort existiert. Beide zitieren zwar japanische Architektursprache, allerdings ist die Interpretation jeweils sehr unterschiedlich. Während sich das Bauwerk von Sanaa an der auf dem Campusareal allgegenwärtigen städtebaulichen Zersplitterung beteiligt, bemüht sich das von Kengo Kuma darum, diese zu reduzieren. Dazu bedient sich Kuma architektonischer Elemente, die man üblicherweise eher in einem historischen Stadtkern als auf einem Universitätscampus antrifft: axiale Anordnung, parallele Ausrichtung zur Strassenseite, durchgehendes Dach, Innenhof, Vordach der Eingangsportale.

Die Gegensätzlichkeit der beiden Gebäude wird aus der Nähe noch deutlicher. Beim ArtLab bilden die Textur und Farbe des Fassadenholzes, der Schattenwurf des überstehenden Dachs und das Relief der Pfeiler gemeinsam eine edle Haut, die mit der glatten Glashülle des Rolex Learning Centers kontrastiert. Auch im Innern der beiden Gebäude schaffen die Architekten jeweils vollkommen gegensätzliche Stimmungen. Im ArtLab werden die Räume in den Pavillons von ihrer jeweiligen Zweckbestimmung oder von der äusseren Form des Gebäudes definiert. Die beiden Ausstellungssäle erhalten nur an ihren äussersten Enden Tageslicht, und die geschlossenen seitlichen Fassaden verstärken den perspektivischen Schlaucheffekt, der im Innenraum durch den engen Abstand der Pfeiler erzeugt wird.

Im Café schränken die Knicke des Dachs und der Fassade die Geometrie und Gestaltung der Innenräume stark ein. Demgegenüber schafft im Rolex Learning Center das Fehlen einer funktionalen Spezialisierung der Räume eine geradezu ätherische Atmosphäre, die das Innere durchflutet. Es lassen sich hier also zwei radikal widersprüchliche Auffassungen erkennen, zwei mesologische Definitionen des architektonischen Raums, den man in Japan gern «Umwelt» nennt: Den von Kuma klar bestimmten und spezialisierten Räumen steht eine von Sanaa durchgehend und generisch gezeichnete Umgebung gegenüber.

Stahlbleche als Notlösung

Beim ArtLab haben die speziellen und anspruchsvollen Bautechniken, die zur Anwendung kamen, kaum noch etwas mit dem von Kengo Kuma geäusserten Wunsch zu tun, das traditionelle Handwerk wiederzuentdecken («Sehnsucht nach japanischer Tradition», Kasten unten). Die statischen Berechnungen der Ingenieure zwangen die Handwerker, perforierte Stahlbleche in das Holz des Tragwerks einzubauen. Der Traum von der Einfachheit lässt sich nur schwer mit den zahlreichen Anforderungen vereinbaren, die sich aus einer komplexen öffentlich-privaten Partnerschaft am Bau ergeben. Die Verbindung zur überlieferten japanischen Bautradition ist abgebrochen. Es bleibt lediglich das typisierende Bild, das der Bau, so wie er ausgeführt wurde, vermittelt: ein grosses Satteldach, das mehrere Holzpavillons überdeckt.

Bei vielen Projekten von Kuma ist solch eine prägnante Formensprache ein effizientes Mittel, um mehr oder weniger explizit ein vereinfachtes Bild der japanischen Architektur zu zeichnen. Beim Lausanner Projekt erkennt man aber auch ein weiteres traditionelles architektonisches Element, auf das sich der Architekt – und dieses Mal sehr explizit – beruft: Die Verwendung von Schiefer auf dem Dach lässt sich mit einem Verweis auf das Schweizer Chalet erklären.[2] Dies ist ebenso überraschend wie schwierig zu fassen. Indem er seine Arbeit auf die japanische Architektur oder gar auf ein Schweizer Klischee zurückführt, scheint Kengo Kuma um jeden Preis an traditionellen Paradigmen festhalten zu wollen. Von der Architektur bleibt nur die Formensprache übrig.

Auf dem Cosandey-Platz hat sich die imaginäre Szenerie einer Landschaft von Hiroshige in Luft aufgelöst. Zurück bleiben zwei architektonische Solitäre, die einander gleichgültig sind. Hartnäckig hält sich der urbane Zustand mit seinen heterogen verstreuten Bauwerken, der für den Campus der EPFL so charakteristisch ist.



Dieser Text erschien in erstmals in TRACÉS 22/2016. Übersetzung aus dem Französischen: deepl.com, Viola John

Anmerkungen:
[01] Die Mesologie wird definiert als die Wissenschaft der Umgebungen. Augustin Berque, Geograf und Philosoph, unterrichtet Mesologie an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris (EHESS). Über Kuma äussert sich Augustin Berque in «De terre en monde, la poétique de l’écoumène» in «L’habiter dans sa poétique première», Beiträge des Kolloquiums von Cerisy-la-Salle, veröffentlicht bei Donner Lieu, Paris, 2008, S. 231–247.
[02] Siehe hierzu Cedric van der Poel, «L’art de la simplicité», TRACÉS Nr. 13–14/2013.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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