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Profil

1963 – 1968 Studium an der TU Brno
1968 – 1970 Studium der Grünraumgestaltung an der BOKU Wien
1970 – 1973 Studium der Architektur und Raumplanung an der TU Wien
Ausstellungskurator und Autor zahlreicher Publikationen

Lehrtätigkeit

1992 – 2009 Lehrbeauftragter an der Universität für angewandte Kunst in Wien
2000 – 2015 Gastprofessor an der Akademie der bildenden Künste in Bratislava

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Artikel

10. April 2009 Salzburger Nachrichten

Eine quadratische Wolke aus Stahl

Unbeachtet, nur wenige Schritte vom Oberen Belvedere entfernt, spielt sich das wohl denkwürdigste Architekturspektakel des 20. Jahrhunderts in Wien noch einmal ab.

Zum vollständigen Artikel im „Salzburger Nachrichten“ Archiv ↗

7. Dezember 2005 Falter

Kampf der Peripherie

Am Graben, am Hohen Markt und am Donaukanal sind vier Siege der Stadt gegen den Stadtrand zu verzeichnen.

Die Altstadt ist jener Ort in Wien, wo der Kampf ausgetragen wird, den die winzige Großstadt Wien gegen ihre überdimensionale Peripherie zu führen hat. Derzeit sind in der vorweihnachtlichen City vier metropolitane Kleinsiege über die beständige Gefahr des Umkippens der Ganzstadt zum Stadtrand zu verzeichnen.

Wahrlich eine schöne Bescherung am Graben, dem wohl einzigen Ort in Wien, der noch nicht von der permanenten Peripherie erreicht wurde. Zwischen den beiden Häuserfronten abgehängt, schweben prachtvolle Leuchter so schwerelos und engelhaft herunter, als wären sie Himmelsboten. Ephemere Architektur. Sie erscheint und verschwindet wieder, in der Zeit dazwischen kann man den Raum über dem Graben völlig neu erfahren. Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern!

Während rundherum der elektrische Kleinkitsch leuchtend wuchert, wurde der Luftraum über dem Graben mit riesigen, quasivenezianischen Lustern bestückt. Die aus Tausenden kleinen Glühbirnen geflochtenen Leuchtkörper und Leuchtschleier in der Form von Flügeln sehen wie hybride Fluggeräte aus - etwas zwischen umgekehrter Gondel und dem ersten Flugzeug der Gebrüder Wright. Unter den prächtigen Lustern breitet sich aber weiterhin der entsetzliche Provinzgeist aus: die Punschkioske des Lions Club in Gestalt von echttirolerischen Almhütten.

Der zweite, weit leuchtende Sieg der Metropole über den Vormarsch der Peripherie ist die Erweiterung des Schuhgeschäftes Stiefelkönig in dem markanten Jugendstilhaus von Spielmann und Deller (1911) am Ende des Grabens. Die Wiener Architektengruppe BWM bereinigte die durch mehrfache Umbauten lädierte Fassade, indem sie der - sofern noch vorhanden - originalen Konstruktion der Schaufenster eine neue gläserne Schicht zufügte. Die ursprüngliche Grundstruktur der Schaufenster-Fassadenkonstruktion, in diesem Fall eine frühe „vorgehängte Fassade“, wird wieder sichtbar. Durch diesen fulminanten Eingriff gelingt es, das Innere des Geschäfts mit dem Außen zu verbinden. Das bislang düstere und unansehnliche Eck im Straßenraum wird zum Anziehungspunkt. Die Wirkung steht im Vordergrund, die eigentliche Architektur fällt kaum auf. Der gestalterische Eingriff ist derart einfühlsam durchgeführt, dass man den Eindruck hat, so elegant wie jetzt wäre es hier schon immer gewesen. Das Jugendstilgebäude, das aufgrund seiner Lage und der ausgefallenen Gestaltung zu den interessantesten seiner Art in Wien zählt, erhält viel von seinem ursprünglichen großstädtischen Flair zurück.

Wo immer Hans Hollein baut, erzittern die Stadtbilder. An der Ecke Wipplingerstraße/Hoher Markt hat er jetzt ein einstiges Banklokal in eine Filiale der Generali Versicherung umgebaut. Dabei hat Hollein in die Retrokiste der Siebzigerjahrearchitektur gegriffen. Damals war es üblich, die Sockelzonen von alten Häusern mit büchsenartigen Hüllen zu überziehen, die keine oder fast keine Rücksicht auf das Vorgefundene zu nehmen pflegten. Der gestalterische Bezug zu seiner frühesten Arbeit, dem berühmten Reti-Geschäft am Kohlmarkt, ist nicht zu verkennen, nur die frühere Virtuosität fehlt.

Auch bei der neuen Generali-Filiale handelt es sich um eine Art Büchse, die den unteren Teil eines Gründerzeithauses vollständig verdeckt. Ziehharmonikaartig gestellte Metallpaneele verwandeln ein Drittel einer unauffälligen Gründerzeitfassade in einen Container.

Die Absicht des Gestalters drängt sich geradezu auf: maximale Aufmerksamkeit zu wecken. Weit sichtbar sind die bordell-rot strahlenden, vertikalen Streifen und Embleme an der Fassade. Die Tag und Nacht leuchtende und auch sonst penetrant wirkende Präsenz hat allerdings einen guten Grund: Der bisher fade und als Geschäftszone unterentwickelte Hohe Markt hat dadurch einen längst erforderlichen Erneuerungsanstoß erhalten.

Vom Schwedenplatz aus sieht man neuerdings und möglicherweise eins zu eins, wie der neue Bau aussehen wird, der das alte Bürogebäude am Beginn der Taborstraße ersetzen soll. Die Fassade ist mit einem Transparent fast gänzlich bedeckt. Statt wie früher die Weihnachtssterne vom Schwedenplatz aus hierherzuprojizieren, zeigt der Bauherr Uniqa den von Jean Nouvel projektierten Büro-Hotel-Komplex. Überraschenderweise sieht die vergrößerte Architektur von Nouvel viel besser aus als in den bisher publizierten Zeitungsbildern.

Dennoch gibt es Bedenken. Allzu sehr lehnt sich Nouvel mit seinem Neubau an das schräge Generali-Gebäude von Hans Hollein an. Einerseits wortwörtlich: Der neue Baukörper wird zu dem bestehenden hingebogen, beide bilden zusammen ein Stadttor, wie es zu den antiquierten Sehnsüchten von Städtebauromantikern zählt. Andererseits hat Nouvel zu sehr die Form des vorgefundenen Bürohauses von 1960 übernommen, mit dem dessen Architekt Georg Lippert, im fatalen Zusammenspiel mit seinen anderen beiden Bauten (IBM, Raiffeisenbank), die Leopoldstadt städtebaulich vermauert hat. Das Bemerkenswerte an der Lösung von Hollein war nicht so sehr die Architektur selbst, sondern wie mit dem Generali-Turm die Leopoldstadt geöffnet und zugleich mit dem Gegenüber am Donaukanal, mit dem Schwedenplatz, verbunden wurde. Diesem vortrefflichen Gedanken Holleins vermag Nouvel nicht zu folgen.

Die Transparenz des Bauherrn ist eine Neuheit in Wien. Wir, empfindsame und couragierte Stadtbewohner, können den Entwurf begutachten, gut oder schlecht finden, wir können diskutieren, protestieren oder zustimmen. Dafür lassen sie uns reichlich Zeit, denn laut Transparent ist der Baubeginn für 2007 vorgesehen. So weit ersichtlich: Es zeichnet sich kein Malheur ab.

13. Juli 2005 Falter

Autofahrer unterwegs

In der Lothringerstraße feiert die autogerechte Stadtplanung ein seltsames Comeback, und Jean Nouvel droht den Donaukanal zu behübschen.

Es fährt sich gut durch die Lothringerstraße, sowohl auf dem Rad als auch mit dem Auto. Und es geht sich gut unter den Platanen auf dem Gehsteig der beruhigten Nebenfahrbahn. Alles probiert. Fabelhaft. Die Lothringerstraße, die davor mehr ein langer schmaler Platz denn eine Straße war, mit dem Grünstreifen in der Mitte eine Art verkehrte Ringstraße, ein Missing Link zwischen dem militärisch strengen Schwarzenbergplatz und dem mondänen Stadtpark, eine städtebauliche Rarität, diese vergessene Prachtstraße ist zu einer modernen, leistungsfähigen Schnellstraße durch weiterhin schmucke Gegend geworden.

Flott bis zu der Ampel, die sich an der Kreuzung Am Heumarkt befindet. Hier setzt die Gegenfahrtrichtung an, hier erfährt man, wie schwer die Neuordnung der Verkehrsströme auf der Strecke zwischen dem Karlsplatz und dem Donaukanal zu bewerkstelligen ist. Bis zur Urania reicht nun der Karlsplatz. Er ist endgültig eine „Gegend“ (Otto Wagner) geworden, durch die ein Autobahnzubringer führt.

Diese Topomorphose zu erreichen, war nicht schwer. Die hier siegreichen Verkehrsplaner griffen auf ein einfaches und lang bewährtes, wiewohl längst in Verruf geratenes Mittel zurück: die Trennung der Funktionen. Das Auseinandernehmen und -halten von fundamentalen Stadtfunktionen wurde in der von Le Corbusier initiierten berüchtigten Charta von Athen 1933 kategorisch verlangt. Im Konzept der „autogerechten Stadt“, der vorherrschenden Stadtplanungsdoktrin der Nachkriegszeit, wurde die Trennung perfektioniert und bis in die Achtzigerjahre praktiziert. Mit den bekannten Folgen: der Zerstörung der vorhandenen oder möglichen Urbanität.

Die autoungerechte Phase währte nicht lange. Bei der Neugestaltung der Lothringerstraße haben wir es mit einem Musterbeispiel für die in Wien seit etwa 1990 dominierende Retro-Stadtplanung zu tun. Verkehrsplanung ist wieder Stadtplanung, vereint unter einem Stadtrathut.

Das Auffälligste an Neugestaltung sind der Geländebuckel beim Hotel Intercontinental und die Gräben, die in Form und malerischer Wirkung ziemlich getreu jenen Gräben gleichen, die einst überall in den Dörfern die Straße von den Vorgärten der Häuser trennten. Längst sind diese mit Gras bewachsenen Mulden unter Parkplätzen oder Straßenerweiterungen verschwunden. Ursprünglich wollte Johann Georg Gsteu, der Architekt der Lothringerstraße, den versunkenen Wienfluss wenigstens stückweise freilegen. Das durfte oder wollte er nicht mehr. Die seltsamen Straßengräben in der Lothringerstraße sind als Erinnerung an den unglücklichen Fluss unter dem Straßenbelag zu verstehen. Nicht an die verschwundenen Straßengräben in den österreichischen Dörfern, obwohl die Lothringerstraße fast zur Hälfte wie ein Dorfanger in einer Marchfeldgemeinde ausschaut.

Die Podiumsdiskussion, die unter dem seltsamen Titel „Die Krise in der Kiste“ und einer glücklichen Almkuh auf dem groß projizierten Plakat vorige Woche im Architekturzentrum Wien abgehalten wurde, war selbst für diese an Esprit arme Institution ungewöhnlich langweilig geraten. Kurze Auffrischung brachte nur ein Streitgespräch darüber, ob das Interunfall-Bürohaus, das Jean Nouvel 1996 in Bregenz errichtete, ein miserables oder ein hervorragendes Bauwerk sei.

Der Vorarlberger Architekt Much Untertrifaller am Podium meinte, das Nouvel-Gebäude sei schlecht. Richard Manahl, ein Wiener Architekt aus Vorarlberg im Publikum, fand es hervorragend. Möglicherweise irrt er sich. Denn in dem von Otto Kapfinger 1999 herausgegeben Architekturführer „Baukunst in Vorarlberg seit 1980“ wird das Nouvel-Gebäude nicht verzeichnet. Auf Kapfingers Urteil ist Verlass. Er hat die Ausstellung „Konstruktive Provokation. Neues Bauen in Vorarlberg“, auf deren Plakat sich die fette Kuh befindet, zusammengestellt (bis 29.8. im Architekturzentrum). Bei der Diskussion ging es darum, ob der weltberühmte Architekturregionalismus (deshalb wohl die schöne Kuh auf dem Plakat) in Vorarlberg mit seiner Vorliebe für orthogonale Formen (deshalb wohl die Kiste im Diskussionstitel) bereits passé sei. Resümee: Die nach Wien ausgewanderten Vorarlberger bejahen die Untergangsthese, die heimattreuen verneinen sie. Die Auffassung der Heimattreuen wird von der Kapfinger-Ausstellung überzeugend illustriert.

Nach zwei Bauten an der Wiener Peripherie wird es dem Weltstar Jean Nouvel nun doch gelingen, mit seiner Architektur bis ins Zentrum der Weltstadt Wien vorzudringen. Fast bis ins Zentrum. Am Donaukanal, auf dem kleinen, durch Planungen bis zur Unerkennbarkeit misshandelten Platz am Brückenkopf der Schwedenbrücke, soll er neben dem Medientower einen weiteren Turm errichten.

Es ist Nouvels zweiter Versuch, diesen einprägsamen Ort zu beschmücken. Schon am Wettbewerb für die Neubebauung des abgerissenen ÖMV-Hauses hat er teilgenommen, den Hans Hollein mit dem Medientower gewann. Nouvel hatte damals eine Version seiner 1996 fertiggestellten, mittlerweile legendären Galeries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße vorgelegt, ein mit einer weich modulierten Glashaut umhülltes Kaufhaus. Diesmal legte er harte Kanten vor und siegte.

Jean Nouvel ist ein vorzeitig verblühter Star, ein Architekt, auf den man sich nicht ganz verlassen kann. Es kann gut werden, sehr gut sogar. Oder auch schlecht. Auf den Bildern, die in den Zeitungen abgebildet wurden, wirkt das Hochhaus städtebaulich plump und formal diffus, eine fade Kiste. Aber gut. Wir können nur hoffen, dass lediglich die Fotocollagen und Renderings so schlecht sind, die in den Zeitungen oder im Internet veröffentlich wurden, nicht die Architektur selbst.

Wie wichtig die neuen Perlen am Donaukanal sind, zeigt sich an der Tatsache, dass Rudolf Schicker, der zuständige Planungsstadtrat, sich selbst zum Juroren ernannt hatte, um mitentscheiden zu können. So locker sind die Wettbewerbssitten mittlerweile geworden.

12. Mai 2005 Falter

Aspern leuchtet

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

Der Apotheker zum Löwen von Aspern, Dr. Wilhelm Schlagintweit, ist ein klassischer Gutmensch. Es reicht ihm nicht, bloß ein Pharmazeut zu sein, er will auch noch als Aufklärer wirken. Er hat sich eine Apotheke bauen lassen, die einzigartig ist. Eine Apotheke als Passage, als Think-Tank und Kleinkloster: ein Durchgang mit zwei Höfen zwischen zwei Straßen, mit zwei Feuermauern, zwei Ahornbäumen, einer Birke, einer Rosskastanie und einem Ginkgo. Auf einer vierzig Meter tiefen und 16 Meter breiten Parzelle in Wien-Aspern errichtete Artec (Bettina Götz und Richard Manahl) ein Bauwerk, das in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist. Es fängt mit der einfühlsamen Integration ins Stadtbild an und endet mit der Konstruktion der Decke, dem Farbkonzept, den Designdetails (zum Beispiel der Schubladen ohne Griffe).

Wenn die Apotheke offen hat, dann ist sie wirklich offen: Man kann durchgehen, auch wenn man nichts braucht - von der stark frequentierten und lauten Groß-Enzersdorfer Straße in die stille Zachgasse. Man sieht hindurch, und man sieht fast überall hinein in das geradezu verschwenderisch großzügig bemessene Verkaufslokal, in das Labor, das Lager oder hinter die kurzen Theken, die wie Lesepulte aussehen. Der Kundenraum ist eine Halle, und die ist durch die in der Betondecke eingelassenen Lichtbänder gegliedert. Wenn offen ist, dann ist auch der Hinterhof offen, wo sich der Verkaufsstand eines Biobauern befindet.

Wenn die Apotheke zu ist, dann sind an der Vorderfront die hellgrünen Vorhänge zugezogen. Nachts leuchtet die Apotheke zum Löwen von Aspern wie ein Teich.

Auf der Rückseite hingegen wird nur das Rollgitter runtergelassen, sodass der Passant immer einen Blick ins Labor mit all seinen seltsamen Gerätschaften werfen kann. Die Arbeitswelt bleibt ein Teil des Straßenlebens. Die Rückseite ist übrigens vielfältiger und spannender als die Vorderfront, die aus einer zwischen Boden und einem riesigen Sichtbetonbalken gespannten Glaswand besteht. Die Schräge simuliert ein Satteldach. Auf der anderen Seite befindet sich ein fast identischer Fertigteilbalken. Die vor Ort gegossene Sichtbetondecke zwischen den beiden Balken kommt ohne Stützen aus - eine verblüffend einfache (also geniale) Konstruktion, die von Artec und ihrem Statiker Oskar Graf treffend als „fliegender Teppich“ bezeichnet wird.

Auf dem Flachdach der Apotheke befindet sich ein von unten nicht sichtbarer pavillonartiger Glasaufbau, in dem sich das Büro, der Aufenthaltsraum fürs Personal und der Ruheraum für den Nachtdienst befinden; darüber eine Dachterrasse und ein Kräutergarten, der nach dem Vorbild der einstigen klösterlichen Paradiesgärten angelegt wurde. Hierher pflegt der Apotheker an Heilpflanzen Interessierte einzuladen, Schulklassen etwa. Die Architektur ist wie der Apotheker zum Löwen von Aspern: außergewöhnlich.

Wiewohl das Lokal noch nicht ganz fertig scheint, sieht man bereits deutlich: Sein Erstlingswerk ist Norbert Sputnic geglückt. Man fragt sich nur: Ist dem Bauherrn die Geduld mit dem Architekten und dessen Sehnsucht nach zeitgemäßer architektonischer Kargheit gerissen, oder ist ihm das Baugeld ausgegangen; oder steckt hinter dem unvollendeten Erscheinen gar eine höhere baukünstlerische Absicht: die Fassade als objet trouvé, als Zeitzeugnis. Obwohl das Lokal keinen Namen zu tragen scheint, hat es angeblich doch einen: Einfahrt - wegen der Ein- und Ausfahrt in die Tiefgarage unterm Karmelitermarkt, die extrem blöd situiert und gestaltet ist, sodass aus dem neuen Lokal kein Ausblick über das Marktgelände möglich ist. Die Tiefgarage hat den einst legendär vitalen Markt derart lädiert, dass jetzt unter uns, den Bewohnern des zweiten Bezirks, das Gerücht kursiert, dass der Markt aufgelassen und bebaut werden soll. Die „Einfahrt“ nun wird von uns als frohe Botschaft genommen: Der Markt wird leben.

Die Fassade, in der ausgewiesene Ästhetikexperten wie Heimo Zobernig ein erhaltenswertes Kunstwerk erblicken, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Spuren des Umbaues trägt. Der Verputz der bündig eingebauten Fenster und Türen blieb als weiße Flecken unangetastet. Die Reste der einst auf den hellerbsengrünen Grundanstrich gepinselten Aufschriften sind noch erkennbar: Die Großbuchstaben FO und ein wenig weiter RBKOPIEN erinnern daran, dass hier früher ein Kopiergeschäft war.

Neben der Tür ragt ein würfelförmiges Glasaquarium aus der Fassade, in dem aber keine Fische schwimmen, sondern eine Vase steckt. Das Lokal sei work in progress, erklärt der Architekt, zu dem Glaskästchen werde sich noch ein Treppe und ein Podest hinzugesellen, um einen Hochstand fürs Zuzweitsein zu schaffen. Das Ding soll „Beichtstuhl“ heißen.

Der längliche Innenraum ist leicht gekrümmt, was ihm eine cool zeitgemäße Note verleiht. Zur Toilette führt eine Rampe, die mit einem schweren Eisengeländer ein Gegengewicht zu den Theken bildet, die - wie auch die übrige Einrichtung - eine Möbelcollage sind. Die Decke dominieren dicke Lüftungsrohre, die ein wenig an den legendären Roten Engel erinnern, wie er seinerzeit von Coop Himmelb(l)au geschaffen wurde. Die auffällig hohen Rückenlehnen der harten Sitzbänke sind sowjetrot und dem Schleudersitz der MIG 29 nachgebildet. Die Farbe hat Gûnes ausgewählt, die zwölfjährige Tochter von August, dem Einfahrtswirt. Die altdeutsch plumpen und unbequemen Stühle sind der einzige Makel der Einfahrt.

Was ist ein Stuhl? Oskar Strnad, „der große Lehrer“ von Margarete Schütte-Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, pflegte seine Studenten und seine einzige Studentin durch merkwürdig banale Fragen zum präzisen Denken anzuregen. Nach einigen verlegenen Antworten, unter denen sich „ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen kann“, antwortete er: „Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897- 2000), war die erste und die erste international erfolgreiche Architektin in Österreich. Sie lebte lange und schrieb auch lange an ihren Erinnerungen. Nun wurden diese von Karin Zogmayer aus dem Nachlass im Archiv der Universität für angewandte Kunst geholt, redigiert und im Residenz Verlag herausgegeben.1 Am Anfang, unter einem jugendlichen Porträtfoto der Architektin, befindet sich ein Zitat: „(...) im Übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben und wollte immer nur bauen“. Das, was sie doch geschrieben hat, ist nicht viel, dafür aber höchst interessant.

19. Januar 2005 Falter

Ein Annus horribilis für propeller z

Für propeller z war das vergangene Jahr ein entsetzliches; ein Annus horribilis, wie Queen Elizabeth schlimme Zeiten für den Buckinghampalast zu nennen pflegt. Im vergangenen Sommer wurde in Essen eine riesige Abrissraupe losgeschickt, um „Meteorit“, das Wissenschaftszentrum des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerkes, der Erde gleichzumachen. Ohne die Architekten des 1998 errichteten futuristischen Gebäudes zu benachrichtigen. Von dem international viel beachteten Beispiel für das Space-Design-Revival der Neunzigerjahre ist nichts übrig geblieben. Keine Spur. Nur das Foto mit der demolierenden Raupe. Es fehlte nicht viel, und auch ein anderes legendäres Werk von propeller z wäre bis zum 31. Dezember 2004 spurlos verschwunden: die basis wien im MuseumsQuartier. Noch ist ein Rest vorhanden. Auch ein Rest an Hoffnung.

Das MuseumsQuartier ist kein günstiger Ort für gute zeitgenössische Architektur. Das Depot von Artec wurde vor drei Jahren aus dem MQ eliminiert. Jetzt ist die basis wien von propeller z an der Reihe. Offenbar soll keine bauliche Spur im MuseumsQuartier bleiben vom Versuch des ehemaligen Kunstministers Rudolf Scholten, eine völlig neue, geradezu exemplarisch und experimentell demokratische Kulturpolitik aufzubauen. Würde ich den MQ-Direktor Wolfgang Waldner nicht kennen und seine langsam greifenden Bemühungen, im MuseumsQuartier gute Architektur zu etablieren, nicht hoch schätzen, müsste ich ihm vorwerfen, er betreibe mit Mietverträgen Kulturpolitik.

Am 17. Dezember des vergangenen Jahres fand in den Räumen der basis wien eine Versteigerung statt, die der Demolierung eines bedeutenden Architekturwerkes gleichkam. Die 1998 von propeller z im Auftrag der Exbundeskuratorin Lioba Reddeker entworfene Inneneinrichtung des Kunstinformationszentrums hätte restlos entfernt werden müssen. Gemäß einer Klausel im Mietvertrag mit der MuseumsQuartiergesellschaft müssen nämlich alle gemieteten Räume zum Zeitpunkt des Auslaufens in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden.

Das Büro der basis wien wurde in einem barocken Saal eingerichtet, der unter Denkmalschutz steht. Die Architekten durften die Wände nicht antasten. Auf die besonderen Nutzungsbeschränkungen reagierten propeller z mit besonderer Fantasie. Die Möblierung und alle Anbauten waren entweder mobile oder freistehende, leicht zerlegbare Einheiten. Man muss sich wundern, dass das Denkmalschutzamt nicht die Gelegenheit ergriffen hat, über diese exemplarisch gelungene Implantation einer radikal zeitgenössischen Architektur in ein eindrucksvolles historisches Ambiente seinen schützenden Amtsarm zu halten. So aber blieb der basis wien nichts anderes übrig, als die mobilen Teile der Einrichtung zu versteigern.

Neuerdings keimt für die basis wien als Beispiel für hervorragendes Interieurdesign der Neunziger Hoffnung auf - partielle, vorübergehende Hoffnung. Das Wesentliche aus der Einrichtung, der Aluwandverbau, der als ein Wandschild durch die Tür in den Hof ragt, wurde noch nicht verkauft und musste noch nicht abgebaut werden. Wolfgang Waldner hat sich bereit erklärt, mit den Proponenten der basis wien über die Erhaltung der propeller-z-Architektur zu sprechen. Er setzte die Wiederherstellungsklausel des Mietvertrags aus. Vorübergehend.

12. Januar 2005 Falter

Das Weltstadteinkaufswagerl

Architektur Endlich haben „News“- und „Format“-Leser das Weltstadtkaufhaus, das sie verdienen: den neu eröffneten Meinl am Graben.

Neuerdings bin ich nicht nur bloß Gourmand, sondern auch Gourmet. Feinschmecker. Auch ich. Dieses stolze und dank der modernen Sozialdemokraten selbst in breiten Bevölkerungsschichten populär gewordene Attribut habe ich unlängst schwarz auf weiß erhalten: auf dem Kassenzettel meines gründlich erneuerten Stamm-Meinl. Das Verkaufslokal sei nun noch angenehmer geworden, als es ohnehin bereits gewesen sei, hat der sozialkritische Schriftsteller Gustav Ernst, mein Freund und Nachbar, zu mir gesagt, als ich ihn am 31. Dezember zufällig in unserer gemeinsam bevorzugten Filiale getroffen habe.

Vor dem Umbau waren die massiven, freistehenden Regale so gestellt, dass das langgestreckte Verkaufslokal in der Mitte barrierenartig versperrt wurde. Jetzt sind die Regale wesentlich kürzer, filigraner und doch geräumiger; sie lassen die Mitte frei und lenken die Blicke der Kunden zum Stehcafe am anderen Ende der Halle. Die offenbar von einem fähigen Designer entworfenen Regale sind aus leichten, normierten Gitterelementen zusammenmontiert. Die neue Farbgebung, welche die einstige Meinl-Kennfarbe Gelb durch eine dunkelbraungraue Edelstahltönung ersetzt, bringt die Buntheit der Verpackungen zur Geltung, wirkt beruhigend, ist elegant. Im selben mattglänzenden Farbton sind auch die neuen Einkaufswagerl gehalten. Dass man für sie jetzt Münzen braucht, ist die einzige Neuerung in meiner Filiale, die keine Verbesserung, sondern eine Veschlechterung darstellt.

Die gleichen Einkaufswagerl stehen auch im neuen Gourmet-Tempel in der Wiener Innenstadt, dem angeblich erlesensten im ganzen Österreich, im renovierten Meinl am Graben. Das Graben-Meinlwagerl unterscheidet sich vom Taborstraßen-Meinlwagerl in zwei Merkmalen: es hat keine Münzverschließung, und die Handgriffe sind nicht mit Plastik, sondern mit Leder bezogen. Mit echtem Leder. Bereits im Zugriff aufs Wagerl ist also das Ergreifen des wahren Luxus enthalten - hier, am Graben, nur hier. Diese Ledergriffe dürften so wertvoll sein, dass sie in dem mit abgestellten Wagerln vollgestopften Entree stets von einem athletischen, kämpferisch uniformierten Jungmann eines privaten Security-Dienstes bewacht werden müssen.

Der neue Meinl am Graben - ein „Weltstadtfeinkosthaus?“. Das „Format muss man haben“-Magazin Format, Abteilung „Modernes Leben“, Unterabteilung „Reportage“, ist am Tag der Eröffnung in Wort und Bild dieser Frage nachgegangen. „Die Besucher sind sich einig: Ja, ist es, und sie scheuen sich nicht, Harrod's in London, Fouchon und Hedinard in Paris im gleichen Atemzug zu nennen.“ Wobei die Format-Urteilseinigkeit durch folgende für die Formatierung einer neuen Genuss- und Geschmackskultur des österreichischen Volkes wichtige Leute illustriert wird: den Ex-Bürgermeister Helmut Zilk, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, den Ballettchef Michael Birkmayer und - selbstredend - durch Agnes Husslein, die Geschäftsführerin von Sotheby's in Wien. Sie alle machen einen glücklichen Eindruck: Endlich auch in Wien!

Ich hingegen, ein eingefleischter Gourmand, der hier eigentlich nichts zu suchen hat, kann meinen Augen nicht glauben: ein Weltstadtfeinkosthaus? Dies? Ich gehe mehrmals hin. Der Nahkampfmann von der Security hat viel zu tun. Er muss den Besuchern erklären, wie sie in den Gourmet-Tempel gelangen: nicht geradeaus, sondern gleichsam zweimal ums Eck. Beim dritten Besuch treffe ich endlich auch hier einen alten Freund: den renommierten, sozialkritischen Kulturhistoriker Christian Ehalt. Er meint, der renovierte Meinl illustriere, was sich sonst in der Gesellschaft abspielt: allgemeine Verunsicherung bezüglich der Werte, des Geschmacks, der Bedeutungen. Ein Abbild des globalen Durcheinanders. Meine Bemerkung, hier werde der Luxus so dargeboten, wie sich Wiener Hausmeister Harrod's in London vorstellten, bezeichnet Christian, der ein aufrechter 68er ist, als präpotent. Zu Recht. Im Aquarium der Fischabteilung (mit einem dürftigen Angebot) schwimmen munter prachtvolle Zierfische. Sie sind ebenso computergeneriert wie die riesige weihnachtliche Kaminflamme auf dem Plasmascreen im Stiegenhaus (jetzt gibt es ein anderes Bild). Der echte Hausmeister würde hier ein echtes Aquarium und nicht diese Aufrichtigkeit erwarten, mit der auf die virtuelle Qualität der Fische in der Verkaufskühlbox hingewiesen wird, die wirklich echt aussehen.

Hier, im Meinl am Graben, ist so gut wie alles Surrogat, ist fast alles daneben geplant, entworfen, ausgeführt und das meiste durcheinander geraten. Die Außengestaltung ist architektonisch banal. Das Entree erinnert an einen verstellten Hinterhof. Der eigentliche Eingang befindet sich in einem altnachgemachten Holzportal und sieht wie ein eingemauertes Schaufenster aus. Das Lokal ist unübersichtlich. Die Gänge zwischen den Regalen sind eng und labyrinthisch. Die Stiege ist falsch situiert und hässlich. Die vier Aufzüge hält man für den Durchgang zu der Gemüse-Stehbar im Hintergrund. Der Weinkeller sieht aus wie eine Tenne in der Buckligen Welt, die zur rustikalen Disco umgestaltet wurde. Bei den Regalen herrscht ein buntes Durcheinander, die meisten sind plump, vor allem die aus dem Quasimahagoniholz. Die Abteilungen für die verschiedenen Warengruppen (Obst und Gemüse, Brot und Semmeln et cetera) sind kitschig. Aber nicht richtig mutig kitschig, sondern gehoben kitschig, urban-rustikal, damit sich hier neben den neu dazugekommenen neureichen Hausmeistern und News-Lesern auch das ortsansässige, gehobene, wertkonservative (von Thomas Bernhard so vortrefflich beschriebene) Graben-Kohlmarkt-Lodenpublikum weiterhin wohl fühlt.

Die Vielfalt gleicht einer Ansammlung von künstlichen EU-Rustikalitäten. Die Decken mit den mächtigen Leitungen sind nur notdürftig hinter abgehängten plumpen Holzrosten versteckt. Die handwerkliche Bearbeitung der Möblierung ist ungewöhnlich schlampig. Noch schlampiger allerdings ist das Design selbst. Reiner Pfusch. Die Beleuchtung ist dilettantisch. Die Spotlampen blenden. Im Cafe duftet es nicht nach frisch geröstetem Kaffee, sondern es stinkt nach überreifem Käse, denn die Käseabteilung befindet sich gleich neben der im weißen Rosenkavalier-Stil eingerichteten Quasizuckerbäckerei und dem dunkelbraunen Quasicafe, einer Mischung aus englischem Pub, Wiener Cafe und der Lobby eines 3-Sterne-Hotels. Hier hängt eine billige Farbdruck-Kopie von Vermeers „Mädchen mit der Perle“, die Polstersitze sind zu niedrig, der enge Gang ist mit Einkaufswagerln mit Echtleder-Griffen verstopft.

Das Kaufhaus ist das Museum des kleinen Mannes, meint Walter Benjamin. So wie der neue Meinl am Graben an eines der neugestalteten österreichischen Museen erinnert, am ehesten an das MAK, so gleichen die ermatteten Kunden in dem ungemütlichen Meinl-Cafe den erschöpften Ausstellungsbesuchern in einer unwirtlichen Museumsrestauration. Heutzutage zeitgemäß zu sein, kann fürchterlich anstrengend sein. Wirklich zu bedauern ist das Personal: Der Meinl am Graben ist eine furchtbare Arbeitsstätte. Auch das gilt neuerdings als zeitgemäß.

22. Dezember 2004 Falter

Der letzte Silberprinz

In einer bemerkenswerten Ausstellung im Mak erinnert sich Peter Eisenman an seine Werke und Ideen, mit denen er den Funktionalismus der frühen Moderne auf die Spitze treiben und damit überwinden wollte.

Zu Peter Eisenman fällt einem vor allem Peter Eisenman ein. So wie einem zu Le Corbusier zuerst Le Corbusier einfällt und erst danach die Villa Savoye oder die Regierungsstadt Chandigarh. Peter Eisenman ist ein prachtvoller Kerl. Fotogen selbstbewusst bis zum Sendungsbewusstsein. Das weiß auch Mak-Direktor Peter Noever (der ebenfalls einen Prachtkerl abgibt). Daher hat er auf die Plakate und Einladungen der Eisenman-Ausstellung im Mak den eindrucksvollen Dreiviertelkopf von Eisenman mit Noevers Mak im Hintergrund anbringen lassen und nicht etwa das fast ein Jahrzehnt lang heftig diskutierte und nun doch so gut wie fertige „Mahnmal für ermordete Juden Europas“ in Berlin. Das Denkmal ist offensichtlich in Begriff, zu jenem signifikanten Bauwerk zu werden, das einem bald zum Namen Eisenman einfallen wird; so wie man das Haus am Michaeler Platz mit Adolf Loos, das Haus Schröder mit Gerrit Rietveld oder die Casa dei fascio mit Guiseppe Terragni assoziiert - um eben jene Proponenten der klassischen Moderne zu erwähnen, auf die sich Eisenman neben Le Corbusier am stärksten beruft.

Peter Eisenman sieht aus wie ein Architekt, der eine Vision hat und eine Mission erfüllen muss. Er pflegt eine große Brille mit runder dünner Nickelfassung zu tragen (was ihn von Le Corbusier unterscheidet, der eine große Brille mit runder dicker Hornfassung bevorzugte). Meist hat er ein dick gestreiftes Hemd an und dazu breite Hosenträger sowie eine Fliege (auch dann, wenn er einen dünnen Pullover mit Rundhalsausschnitt trägt). Sein kurz geschnittenes dichtes Haar ist seit Jahren silbergrau. Peter Eisenman lächelt stets fröhlich (auch das unterscheidet ihn von Le Corbusier, der stets grimmig und gehetzt aussah) und strahlt Zuversicht und Gelassenheit aus. Er ist der letzte Silberprinz.

Silver prince. Der Amerikaner Tom Wolfe, Schriftsteller („Fegefeuer der Eitelkeiten“), Dandy und ein Passionseuropäer wie Eisenman, veröffentlichte 1981 ein dünnes, aber ungemein erfolgreiches Buch, das Pamphlet „From Bauhaus to Our House“. Wolfe griff darin jene Moderne, die man nun klassisch zu nennen pflegt, als unamerikanisch und verderblich an. Ihre Proponenten bezeichnete er als „Silberprinzen“, von denen einige nach Amerika geraten seien, um die amerikanische Aschenbrödel-Architektur wachzuküssen. Sie, die - wie Marcel Breuer, Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius - vor allem als Emigranten aus Nazideutschland kamen, seien für den Niedergang der amerikanischen autochthonen Baukultur verantwortlich.

Über die Auswirkungen dieses Buchs, das wenig später unter dem Titel „Mit dem Bauhaus leben“ auf Deutsch erschienen ist, lässt sich nur spekulieren. Weil es den Aufschwung der Postmoderne und das Renegatentum unter den Jüngern der reinen Lehre der Moderne zu beschleunigen half, dürften sie heftig gewesen sein. Seine Jünger heißen Michael Graves, Charles Gwathmey, John Hejduk, Richard Meier und - dessen Cousin - Peter Eisenman. Als Gruppe traten die Genannten 1969 in einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York auf und zeigten Arbeiten, die durch einen radikalen Rückgriff auf die frühe Moderne der Zwanzigerjahre gekennzeichnet waren. Es waren ausschließlich Einfamilienhäuser, allerdings mehr Architekturmanifeste als Häuser fürs unbeschwerte Wohnglück. Zeitweise sah es so aus, als würden Graves - und davor auch Eisenman - zu Kronprinzen der 1977 vom britischen Theoretiker Charles Jencks ausgerufenen Postmoderne avancieren. Das ist dann doch nicht ganz so gekommen.

Obwohl Eisenman 1932 in Newark/New Jersey als Sohn einer amerikanisch assimilierten jüdischen Familie geboren wurde, sieht er wie ein europäischer Architekt und europäischer Intellektueller aus - allerdings so, wie sich die Amerikaner einen solchen vorstellen. Eisenman weiß, dass zu einer richtigen Architekturtheorie, die Einfluss haben will, auch das richtige Erscheinungsbild des Architekten gehört. Es ist das Outfit der klassischen gutbürgerlich-revolutionären Männlichkeit der Zwanzigerjahre, der so genannten „weißen“ Moderne, auch Funktionalismus, Neue Sachlichkeit, Internationaler Stil oder Bauhausstil genannt. Das „Klassische“ an ihr wird als Hinweis auf ihre strengen Regeln, auf die ästhetische und soziale Verbindlichkeit ihrer Architektur verstanden.

In Wirklichkeit stammt der Begriff „klassische Moderne“ von Peter Eisenman, der als Architekturtheoretiker an der frühen Moderne von Le Corbusier, Rietveld oder Terragni kritisiert, dass sie sich nur verbal und theoretisch von der Tradition gelöst habe, faktisch aber eben „klassisch“ geblieben sei. Eisenmans Kritik ist eine konstruktive. Als Architekturpraktiker versucht er in seinen Projekten, die klassische Moderne weiterzutragen, weiterzuentwickeln, sie zu „dynamisieren“, um mit einer von ihrer Klassizität und den damit einhergehenden Verpflichtungen und Dogmen befreiten, bei aller Kritik aber heiß geliebten europäischen „weißen“ Moderne in die Tiefen der menschlichen Seele vorzudringen. Mit seiner Architektur will Eisenman in die dunklen Verliese des menschlichen Unterbewusstseins vorstoßen.

Die Moral des Architekten besteht Eisenman zufolge nämlich nicht in der Erfüllung irgendwelcher Funktionen und Erwartungen, sondern vor allem darin, „die Psyche des Menschen für das Unbewusste und Verdrängte“ zu öffnen. Daher will Eisenman „das Präsente zurücktreten lassen, um Raum für das Absente zu schaffen“. Man kann es auch mit „sich erinnern“ umschreiben, mit „jaddá“, dem hebräischen Wort für die aktive Übernahme des Gewesenen in die Gegenwart, das weder mit Tradition noch mit verordnetem Nichtvergessen übersetzt werden kann.

Von all dem erzählt die Mak-Ausstellung, die „Barfuß auf weiß glühenden Mauern“ betitelt ist. In dreißig Kapiteln in Form von weißen Kojen, „Säulen“ genannt, erinnert sich Eisenman an seine Werke und seine Ideen: dreißig White Cubes. Manchmal enthalten sie Modelle, oft kleine oder größere Versatzstücke, die für verwirklichte oder nur geplante Bauten stehen - Installationen, welche die Gedanken des Architekten veranschaulichen. Manche Kojen (und Ideen) lassen sich betreten, manche sind nur durch Schlitze einsehbar. Manche sind greifbar, manchen, eben nicht.

Außerhalb dieser Kojen bewegt man sich in einem dunklen, undefinierbaren Raum ohne Orientierungshinweise. Die niedrige Decke drückt aufs Gemüt. Falls Beklemmungen entstehen, dann ist dies beabsichtigt. Es handelt sich mehr um eine Archivmetapher als um eine Ausstellung.

Der White Cube wird im Mak zur Black Box. Die metaphysische Begegnung mit Peter Eisenman als Architekturausstellung ist einzigartig. Man weiß nicht, was man erfährt, aber man erfährt sehr viel - über Architektur, das Denken und das Dazwischen.

22. Dezember 2004 Matthias Dusini
Falter

„Naiv wie Wittgenstein“

Peter Eisenman im Gespräch über die lokalen Bezüge seiner Mak-Schau, über divenhafte Architekten und softe Radikale.

Vor wenigen Monaten starb der französische Philosoph Jacques Derrida, dessen Dekonstruktivismus einen großen Einfluss auf Peter Eisenmans Architektur hatte. 1986 arbeiteten die beiden für ein Gartenprojekt in Paris zusammen. Beiden gemeinsam ist das Interesse für politisch diskreditierte Figuren. Derrida trug viel zur Neubewertung des deutschen Philosophen Martin Heidegger bei, Eisenman versuchte eine Ehrenrettung des faschistischen Architekten Giuseppe Terragni.

Falter: Fehlt Ihnen Derrida?

Peter Eisenman: Ja. Einer der Räume unten in der Ausstellung des Mak sollte ihm gewidmet sein. Ich schreibe gerade ein Buch für den Passagen-Verlag mit dem Titel „The Architecture of the Desaster“, das ihm gewidmet sein wird. Nach seinem Tod kann man Derridas Bedeutung besser einschätzen als zu Lebzeiten. Er wird noch wichtiger werden.

Warum?

Ohne die starke emotionale Präsenz seiner Person werden wir sein Werk aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Manche Leute verschwinden in der Geschichte, Derrida nicht. Man wird ihn in derselben Liga sehen wie Kant, Hegel oder Heidegger. Er ist wahrscheinlich wichtiger als Benjamin und Adorno.

Wenn man dieses Ranking auf die Architektur überträgt, in welcher Liga würden Sie sich selber sehen?

Wahrscheinlich werde ich, wenn ich tot bin, wichtiger sein als in der Gegenwart. Weil die Geschichte Zeit hat, zu verdauen, was ich gesagt und getan habe. Das heißt nicht, dass ich mich ganz oben in den Rängen sehe.

Wird Sie die nächste Generation als Theoretiker oder als Architekt in Erinnerung behalten?

Ich bin Architekt. Wenn gesagt wird, dass ich eine alternative Architekturpraxis in den Vereinigten Staaten vertrete, sage ich: Nein, es ist die einzig mögliche. Ich habe bisher 800 Millionen Euro verbaut. Das können nicht die Werke eines Philosophen sein. Meine Architektur und meine Theorie hängen zwar zusammen, sind aber nicht zwangsläufig voneinander abhängig. Sie können in die Ausstellung runtergehen und dort etwas fühlen: Sie werden glücklich oder traurig sein, sich irritiert oder verloren vorkommen, ohne irgendetwas über die Architektur wissen zu müssen.

Sie haben in Cambridge studiert, wo auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein gelehrt hat. Gibt es einen Bezug der Ausstellung zum Wittgenstein-Haus in Wien?

Diese Ausstellung ist sehr ortsspezifisch. Sie bezieht sich auf Freud, Wittgenstein, Loos, sogar Karl Kraus. Ich bin 1962 zum ersten Mal nach Wien gekommen und habe mir damals das Wittgenstein-Haus angeschaut. Es ist naiv. Loos ist ein Architekt, der keine philosophischen Texte schreiben, und Wittgenstein ein Philosoph, der keine Architektur machen kann. Diese Ausstellung atmet den Geist beider. Die Ausstellung ist in gewisser Weise naiv wie das Wittgenstein-Haus, nicht so raffiniert wie Loos, der weiße Schachteln mit sehr komplexem Innenleben geschaffen hat. Die Ausstellung würde in Berlin oder New York jedenfalls ganz anders ausschauen.

Warum?

Kein New Yorker wäre imstande, Ihre Frage nach Wittgenstein und seinem Haus zu stellen. Erst neulich musste ich jemanden korrigieren, der behauptete, Wittgenstein sei in Oxford gewesen.

Woher kam das Interesse an der Wiener Moderne?

Wittgenstein war ein einfacher Weg, meine intuitiven Gedanken über Le Corbusier, Giuseppe Terragni oder Mies van der Rohe philosophisch zu verorten. Loos habe ich erst später verstanden. Aber wie viele Leute würden hier in Wien die Bezüge sehen, die Sie angesprochen haben?

Vielleicht zehn?

Das ist schon viel.

In den letzten Jahren haben Sie den Personenkult um die so genannten Stararchitekten kritisiert. Sie selbst sprechen aber auch immer von großen Namen: Loos, Le Corbusier, Zaha Hadid oder Rem Koolhaas. Ist das nicht ein Widerspruch?

Rem war in meinem Institut ein Niemand, den ich von der Straße aufgelesen habe. Ich habe ihm seinen ersten Preis verschafft und das Geld für sein erstes Buch „Delirious New York“, das er in meinem Studio geschrieben hat. Zaha war eine seltsame Studentenfreundin von Rem. Das sind für mich heute keine Stars, sondern Freunde.

Ihre Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass das Bild in der Architektur wichtiger geworden ist als der reale Raum. Wie wollen Sie hinter das Image vordringen?

Seit 9/11 befinden wir uns in einer Zeit des Terrors. Wir haben ein großes, spektakuläres Medienereignis gesehen. Die Ausstellung hier im Haus verneint das spektakuläre Bild. Sie ist antimonumental im Gegensatz zu Zahas Mak-Ausstellung.

Wieso ist das so?

Zaha ist von ihrer Persönlichkeit her eine Diva. Das zeigt sich darin, wie sie in einen Raum hereinrauscht, die ganze Luft absorbiert. Das bin nicht ich. Ich möchte sie nicht übertreffen, sondern in eine andere Richtung gehen. Nach innen.

Sie wollen implodieren?

Implosion ist eines meiner Lieblingswörter.

Auf den ersten Blick wirkt Ihre Ausstellung radikal antimuseal. Dann aber sieht man, dass sie wie jede andere auch Werke präsentiert. Ist die Bezeichnung „soft radical“ zutreffend?

Das ist gut. Die Ausstellung ist sehr viel weniger radikal, als ich ursprünglich gedacht hatte. Sie ist so elegant, auch mit dem Licht, das von oben durch die Säulen einfällt. Peter Noever, der Direktor des Mak, hätte keine Ausstellung akzeptiert, die nur aus Säulen besteht. Jetzt will er sogar Aufkleber mit Werktiteln haben. Peter ist ein softer Radikaler.

10. November 2004 Falter

Times Square in Vienna

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: vier mal mehr, mal weniger gelungene Neubauten im und ums MuseumsQuartier

Das neue Bürohaus in der Breite Gasse dürfte das schmalste Gebäude in Wien sein, vielleicht gar auf der ganzen Welt. Das passt gut hierher, weil es sich nur wenige Schritte von jenem Eckhäuschen befindet, von dem die Sehenswürdigkeitstafel behauptet, dies sei das kleinste Haus in Wien.

Der neue Rekordbau, der den Eingang ins MuseumsQuartier von der Breiten Gasse aus schafft, ist 69 Schritte lang, sieben Schritte breit und - auf der MQ-Seite - etwa 23,5 Schritte hoch. Carl Pruscha, der Architekt, hatte, als ich ihn anrief, keine Maße parat, also musste ich das Gebäude abschreiten. Beim Telefonat, hatte ich das Gefühl, er will sich zu seinem Bau nicht richtig bekennen. Es wäre verständlich, wenn er auf Distanz gehen will.

Das schmale neue Haus selbst ist nicht verhaut, ganz im Gegenteil. In seiner architektonisch trostlosen Umgebung fällt es positiv auf mit seinen schmalen horizontalen Fenstern, die in der Fassade elegant, unregelmäßig und logisch verteilt sind wie früher die Löcher auf den Computerlochkarten. In der Umgebung ist das Haus, trotz der dunklen Farben der Edelroststahlplatten seiner beiden Fassaden, eine leuchtende Erscheinung.

Auf einer der Fassadenplatten ist jener Rost gewordene Abdruck eines Bauarbeiterschuhes zu sehen, der mich auf die Idee brachte, das elegant proportionierte - 6:3:1 - Haus mangels Maßangaben selbst abzuschreiten. Am schönsten erscheint das schlanke Gebäude in jenem städtebaulichen Ausschnitt, der durch die Blicklücke entsteht, die sich ergibt, wenn man unten im MQ vor der schrecklichen Stiege zwischen dem MUMOK und der Kunsthalle steht.

Obwohl es nicht danach aussieht, ist das kleine Bürohaus möglicherweise das bedeutendste Bauwerk in Wien nach der Fertigstellung des MuseumsQuartiers. Denn der Neubau schließt die legendäre Baulücke nach einem Kleinhaus, das demoliert wurde, um das MuseumsQuartier und damit die ganze Innenstadt sowie die Breite Gasse und damit den ganzen, dicht bevölkerten Bezirk Neubau miteinander zu verbinden und der Anlage die Wirkung einer innenstädtischen Barriere zu nehmen.

Um die Baulücke größer zu machen, wurde noch ein schmales Haus nebenan demoliert. Allerdings nicht, um Platz für einen großzügigen Eingang ins MQ zu schaffen, sondern um das neue Bürohaus zu erweitern, das nun den verschämten Charme eines herkömmlichen Spekulationsbaus spätestens dann auszustrahlen beginnt, wenn man das MuseumsQuartier betritt.

Den Eingang hat der Architekt total verhaut. Oder wer auch immer. Es ist kein Tor. Es ist bloß ein Ausschnitt aus dem Bürohaus, ein lustloses Bebauungsloch, das mit einer hässlichen Stiege und einem plumpen Aufzugschacht aus schlampig bearbeitetem Sichtbeton gestopft wurde. Der Eingang Breite Gasse ist außerdem der einzige Zugang zum neuen Glacis Beisl. Mit ihm ist das MuseumsQuartier endgültig eine Gastronomiefestung mit Kunst- und Kulturanhang geworden. Das ist gut so. Denn mit der Außenkunst, man schaue sich das Kunstobjekt „1:1“ neben dem MUMOK an, ist das MuseumsQuartier nicht zu retten. Nur mit Konsum.

Auch das neue Glacis Beisl ist verhaut. Weil die einst einzigartige Situation hier nach dem devastationsartigen Umbau der Hintertrakte durch Manfred Wehdorn derart grundverhaut ist, dass überhaupt keine Architektur mehr helfen kann, weder schlechte (wie jetzt) noch gute (vielleicht später). Der einstige, von wunderschönen geschlossenen Mauern geschützte Garten sieht jetzt wie ein enger, scheußlicher Tiergraben einer Burg aus.

Da sich der gläserne Zubau des Glacis Beisls unterhalb des Dachstegs befindet, schaut man von dort aus hinunter wie in ein Terrarium, in dem nicht fremde Affen, sondern Wiener Feinschmecker tafeln. Um diesen Eindruck ein wenig zu entschärfen, wurde der Glasappendix in eine Kiste aus rotweinrot gefärbten, nach einem floralen Jugendstilmuster durchlöcherten Holzfaserplatten gesteckt, als wäre er mit einem Naturtarnnetz überzogen.

Der Hof mit dem Kindermuseum Zoom und dem soeben eröffneten Theaterhaus für junges Publikum Dschungel Wien ist der erste, der im Sinne eines urbanen vitalen Zentrums wirklich tadellos funktioniert. Das Theater verfügt über zwei einander gegenüberliegende Spielsäle, die miteinander durch einen weiten Raum verbunden sind, der zugleich Theaterfoyer und Theatercafé ist. Indem sie die Geräumigkeit belassen haben, ja, sie durch die Gestaltung zelebrieren, ist es den Architekten Christian Lichtenwagner und Willi Froetscher vortrefflich gelungen, beide Funktionen unter einer schönen Decke - dem barocken Ziegelgewölbe - unterzubringen.

Der Raum wurden offen gelassen und spärlich, aber ausreichend mit leichtem Möbel bestückt: 1950er-Retro aus dünnen Stahlstäben und mit niedlichen orangenen Gänsefüßchen beschuht. Das ist das einzig Kindliche hier. Sonst Erwachsenendesign. Die Glaswände nach außen sind groß und geben den Blick frei auf den einzigen erfolgreich belebten Hof im ganzen MuseumsQuartier.

Unter anderem erfolgreich belebt durch einen neuartigen Kiosk, der dem quadratischen Außenraum tagsüber eine spannende biomorphe Note verleiht und nachts in eine chamäleonartig wechselnde synthetische Farbigkeit versinkt, die dem visuell faden MQ ein wenig von der behaglichen Lichtatmosphäre des Times Square verleiht. Nur dreihundert farbige Neonröhren sind für so viel glamouröse New-York-Illusion nötig.

Entworfen wurde die futuristische Würstelbude aus milchigem Plexiglas von Kristof Jarder. Der ER.FRISCHER, wie er sein Erstlingswerk nennt, hat die Form eines Boxerhandschuhes, der zum Giftpilz und zurück mutiert. Trotzdem ist die gekurvte Budenleuchte nicht nur formal ordentlich ausgefallen, sondern auch funktionell perfekt. Die Läden werden mit Hilfe von Teleskopen aufgehoben und dienen als Vordächer. Damit die Kundschaft, tagsüber hauptsächlich Kinder, bis hinauf zur Theke reichen kann, liegt rundherum eine zylindrische Rampe wie ein umgedrehter Teller.

Der einzige Mangel ist stadtgestalterischer Natur: Der Kiosk wurde unvorteilhaft in einem Eck des Hofes abgestellt, statt ihn in die Mitte auf der Diagonale zwischen beiden Kinderzentren zu stellen. Dort aber soll demnächst eine Eiche gesetzt werden. Ob eine echte, fragile, oder eine strapazierbare aus Kunststoff, ist nicht klar.

6. Oktober 2004 Falter

Hastige Moderne

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Besuchen Sie Bukarest, solange es noch nicht renoviert ist. Rumänische Architektur mal zwei.

Grob geschätzt befindet sich Wien auf halbem Weg zwischen Paris und Bukarest. Die Gründerzeit von Bukarest ereignete sich etwa ein halbes Jahrhundert später als jene von Wien, diese wiederum ein Vierteljahrhundert später als jene von Paris. Das in der Zwischenkriegszeit weit verbreitete Klischee, wonach Bukarest das Paris des Ostens sei, wird weiterhin gerne bemüht, entbehrt aber jeglicher Grundlage. Paris ist weit entfernt. In jeder Hinsicht.

Die rumänische Hauptstadt war eine von vielen osteuropäischen Städten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine rasante Umwandlung von einem Kaff in eine Großstadt erfuhr, die man als pulsierend und modern, mitunter sogar als „westlich“ zu bezeichnen pflegte. Bukarest war und ist faszinierend als Bukarest.

In der Zeit zwischen 1918 und 1939 stieg die Einwohnerzahl von 380.000 auf 870.000. Bemerkenswert ist, dass diese Zahlen mit jenen für Wien zwischen etwa 1848 und 1870 weitgehend übereinstimmen. Offensichtlich folgt urbanes Bevölkerungswachstum gleichen Gesetzen. Diese enormen Einwohnerzuwächse verursachten einen enormen Bedarf an Bauten aller Art und Größe. Wer durch Bukarest fährt, staunt, wie westlich diese Stadt ist: Ganze Straßenzüge entlang sieht man Bauten der klassischen Moderne, von denen die offizielle, das heißt westliche Architekturgeschichte bisher kaum Notiz genommen hat. Im „Hatje-Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts“, einem Standardwerk, kommt Rumänien nicht vor. Auch kein einziger rumänischer Architekt.

Es gibt zumindest ein Haus dort, das es unbedingt verdient hätte, in die Lexika der Weltarchitektur aufgenommen zu werden: die Villa Juster, errichtet 1931 von Marcel Iancu (1885-1984), der an der ETH in Zürich studierte und dort Mitbegründer der Dada-Urzelle Cabaret Voltaire war. Die plastische Hauptfassade des Hauses Juster ist eines der besten Beispiele für den Einfluss des De Stijl außerhalb von Holland. In der Ausstellung „Architektur in Bukarest 1920-1945“ im Wiener Ringturm ist die einzigartige Qualität dieses Hauses schon deshalb nicht zu übersehen, weil es auf einem großformatigen Foto in den Vordergrund gestellt wird. In ihrer emotionslosen Sachlichkeit gibt die Aufnahme von Pierre Levy nicht nur die eindrucksvolle Komposition der Hauptfassade, sondern auch den jämmerlichen Zustand des Hauses wieder.

Der Luxemburger Levy war unlängst der Architektur wegen in Bukarest unterwegs. Rund fünfzig seiner schwarz-weißen Außenaufnahmen wurden von den Mitarbeitern des Münchner Architekturhistorikers Winfried Nerdinger ausgewählt und mit Erklärungstexten und Grundrissen ergänzt. Diese als repräsentativ geltenden Bauwerke werden durch den Fotografen - der als „Fotodesigner“ bezeichnet wird - nicht verklärt. Er mag, das sieht man, die modernen Häuser sehr, aber er hält Abstand. Sie werden in jenem Zustand präsentiert, in den sie der Lauf der Jahre und die gesellschaftlichen Umstände gebracht haben: Die Fassaden sind von der Zeit gezeichnet und oststaatenlädiert, also romantisch verlottert. Meist aber nicht arg beschädigt, denn man baute damals zwar rasant schnell, aber solid. Die Bauten befinden sich also in einem zweifachen Originalzustand, dem ursprünglichen und dem von der Zeit zugefügten. Fabelhaft.

Die Bukarester Moderne wird im Pressetext als „sanft“ apostrophiert. Eher war es eine hastige, pragmatisch harte Moderne. Ihre Proponenten bezogen ihre Vorbilder von dort, wo gerade welche zu haben waren, aus Köln, Rom, Prag, Amsterdam, Wien und auch aus Paris. Adaptiert wurden diese schnell, ohne lange über die vielen Dogmen der strengen Moderne, die man heutzutage die klassische nennt, nachzudenken.

Die Behauptung, die rumänische moderne Architektur sei hauptsächlich von der französischen geprägt, ist falsch. Von der mondänen Eleganz und Leichtigkeit der Viel-Glas-und-wenig-Baumasse-Architektur ist nicht viel zu merken. Ohne auf Wiener Vorbilder zu pochen: Ähnlichkeiten zwischen der Architektur der Zwischenkriegszeit in Bukarest und in Wien - vor allem bei den kommunalen Wohnhausanlagen - drängen sich bald auf. Vor allem die monumental schweren, mitunter aggressiv wirkenden Balkone und Loggien als schmückende Kennformen der Zeit - obwohl es in Bukarest keinen sozialen Wohnbau gab. Rasant pragmatische Moderne wie in Wien: harte, modellierte Baumasse als Ornament.

Man sollte sich von dieser unauffälligen Ausstellung dazu anregen lassen, nach Bukarest zu reisen. Und zwar bald, solange man noch nicht begonnen hat, diese vergessene Moderne zu demolieren oder (was oft schlimmer ist) zu restaurieren. Bevor Superomania vollendet wird.

„Superomania. Selling Architecture“: Trotz des Titels ist der rumänische Beitrag auf der 9. Architekturbiennale in Venedig besonders unauffällig und uneitel. Auch besonders hinterhältig (selbst-)kritisch. In Form von Leuchtkästen mit perfekten Farbfotos denken die Rumänen darüber nach, was der so genannte Westen dem so genannten Osten nach der ein halbes Jahrhundert andauernden Trennung nun an Architekturen andrehen will. Kein „Paris des Ostens“ mehr, sondern das überall gleiche und gleich aggressive Weltfirmen-Baudesign, das das Stadtbild aller neokapitalistischen Länder beherrscht.

Details von rund zwanzig Neubauten, die in den letzten Jahren von Firmen wie IBM, Nokia, Shiseido oder Rolex in Rumänien errichtet wurden. Keine Angaben ergänzen die Superbauwerke. Kein Architektenname, kein Baujahr, keine Adresse. Anonyme Moderne von heute, entsetzlich. Und der immer gleiche Bildtext mit jeweils anderen Markennamen. „If Swarovski would have designed buildings“ zu Beispiel.

[ „Architektur in Bukarest 1920-1945“: bis 12.11. im Ringturm (1., Schottenring 30). 9. Architekturbiennale: bis 7.11. in Venedig. ]

15. September 2004 Falter

Die Farbe Rot

Die Architekturbiennale in Venedig widmet sich der Naturhörigkeit in der zeitgenössischen Architektur und präsentiert die interessanteste Selbstdarstellung Österreichs, die es dort je zu sehen gab.

Die Farbe der Metamorphose ist Rot. Diese Erkenntnis stellt sich ein, sobald man auf eine der zahlreichen quadratischen Markierungen aus rotem Gummistoff tritt, mit denen die verwinkelten Wege um die Giardini und das Arsenale beklebt sind. Die großen Aufkleber sehen aus, als wären sie aus einem roten Teppich ausgeschnitten, enthalten das Wort Metamorph und einen Pfeil, der in die Richtung eines der vielen Zugänge in die weitläufigen und weit verstreuten Gehege der 9. Architekturbiennale hinweisen. Das Hauptthema dieser weltgrößten Leistungs-, Ideen- und Eitelkeitenrundschau für Architekten: Metamorphose. Ihre Kennfarbe erweckt Erwartungen auf ein Ereignis sondergleichen. Diese werden tatsächlich erfüllt. Es ist das frische Rot einer sich abzeichnenden Revolution. Es gibt Metamorphosen, die als Revolutionen beginnen. Dies ist der Zustand der Architektur. So lässt sich die diesjährige Biennale verkürzt auf den Punkt bringen.

Allerdings ist das Biennale-Rot nicht nur ein symbolisches, sondern auch ein atmosphärisches Rot, das, wie man unterwegs sieht, aus weichen Zwischentönen besteht, die in Regenbogentöne übergehen und bis ins Naturgrün (Ökologie!) und Himmelblau (Luftschlösser!) reichen. Der Natur und der Landschaft gilt die Zuneigung des radikal verwandelten Architekten von heute - und nicht mehr, wie gestern noch, dem urbanen Chaos. Der Architekt von heute ehrt die Natur, lernt von der Natur, ahmt sie nach, wo es geht. Er verachtet Tradition, Geschichte und die Lehren von Las Vegas, mit denen Robert Venturi einst die Rückkehr zum Banalen und die Abkehr von der strengen Moderne ausrief. Der neue Architekt, sagt uns die Biennale, liebt Formen, die der Natur entnommen sind oder zumindest entnommen scheinen - von den kleinsten Mikroorganismen bis zu den höchsten Bergen. Das Biennale-Motto könnte also auch „Zurück zur Natur“ heißen - was immer man unter Natur versteht. Nur fass- und greifbar muss es sein.

Eine der Abteilungen, in denen die Positionen zusammenfassend markiert und vorgestellt werden, heißt Topografie. Hier kann man Aufnahmen namhafter Fotokünstler etwa von Felsformationen sehen. Architektur, die Landschaft wird, und Landschaft, welche die Architektur formt, das ist der Zustand. Auch Landschaftsplaner werden neuerdings Stars. Die holländische Gruppe West 8 zum Beispiel.

Die anderen Kapitel heißen Transformation, Episoden, Oberflächen, Atmosphären, Natur des Künstlichen und Qualen der Stadt („Harrowing of the City“). Die österreichischen Architekten in dieser Hauptschau sind Architektur Consult (Domenig Eisenköck Peyker), Adolf Krischanitz, Beger + Parkkinen, Coop Himmelb(l)au, Volker Giencke, Klaus Kada, the next ENTERprise, Boris Podrecca, querkraft, Wolfgang Tschapeller. Mit dem Goldenen Löwen für Transformation in der Architektur wurde Günther Domenig ausgezeichnet. Geehrt wurde er für den architektonisch und ethisch kongenial gelösten Einbau eines Antinazimuseums in den unfertig gebliebenen gigantomanischen NS-Kongresspalast auf dem ehemaligen Gelände der NSDAP-Reichsparteitage in Nürnberg. Unser Mann in der Biennale-Jury heißt Dieter Bogner, der Vorsitzende der Jury für den Kiesler-Preis, die höchste österreichische Auszeichnung für international bedeutende Architekten und Künstler, Kurt W. Forster. Der Kiesler-Preis wurde im Anschluss an die Biennale-Eröffnung im Guggenheimmuseum den Architekten Hani Rashid und Lise Anne Couture verliehen.

Die beiden nennen sich Asymptote. Wie groß die Übereinstimmung mit der Architekturauffassung von Friedrich Kiesler und Asymptote ist, kann man in der Fandazione Guggenheim Foundation feststellen, wo derzeit die Ausstellung „Kiesler and Peggy, the visionary and the collector“ zu sehen ist. Die Hauptausstellung „Metamorph“ im Arsenale ist dem Thema und dem Inhalt enstprechend von Asymptote gestaltet. Die rund 300 Meter lange Säulenhalle der einstigen Seilfabrik ist durch Gestelle unterteilt, die wie Segmente von riesigen zerschnittenen Muscheln oder Schalen aussehen und mit den ähnlich geformten senkrechten Stellwänden abgeschlossene Räume so bilden, dass die ganze Halle überblickbar bleibt und dem strengen tektonischen Rhythmus der mächtigen Säulen ein neuer, weicher Rhythmus der senkrechten und waagrechten Gestelle kontrapunktisch hinzugefügt wird. Die Räume zwischen den Säulen baumeln zeitgeistig barock - die Lichtregie ist entsprechend.

Die mit Modellen aller Art und Größe, überfüllten schaukelförmigen Gestelle wirken wie überreich gedeckte Festtische, die sich unter dem ideellen Gewicht der tafelartig aufgetischten Architekturexempel biegen. Gegenwartsarchitektur in Hülle und Fülle. Alle Modelle können von allen Seiten betrachtet werden, die sorgfältig gestalteten und gedruckten Informationstafeln ermöglichen eine nüchterne Bestandsaufnahme der Gegenwartsarchitektur, obwohl die Ausstellung dem mit kostbaren Weihgaben bestückten Tempel eines unersättlichen Architekturgottes gleicht.

Die Stars, deren kultische Verehrung vor allem die letzte Biennale unerträglich machte, sind hier reichlich vertreten, aber eben als Gleiche unter Gleichen, und nur um mit ihren bedeutenden Beiträgen diese aufregende Inventur der gegenwärtigen revolutionären Veränderungen zu vervollständigen.

Die diesjährigen Biennale-Macher unter der Leitung des Architekturtheoretikers Kurt W. Forster mögen lapidare Symbolik, die Gestalter der Biennale, Asymptote, mögen symbolisch geometrische Formen: Gestalten aus Geraden, denen sich eine ins Unendliche verlaufende Kurve nähert, ohne sie zu erreichen; kurzum: Asymptoten. In der Allee zwischen dem Eingang in die Giardini und dem Eingang in den italienischen Pavillon trifft man sie wieder. Dort befindet sich ein architektonisches Objekt, das ins Unendliche zu zielen scheint und als eine lang gezogene Absprungschanze beschrieben werden kann. Es drückt Aufschwung, Beschleunigung und Loslösung aus. Das Objekt ist rot, und es führt den Blick ohne Umschweife zum Dach des Zentralpavillons.

Dort schlägt plötzlich wie aus dem sprichwörtlich heiteren Himmel ein roter Blitz ein und schleudert rote Bautrümmer umher. Im Zentralpavillon ist der erste Teil der internationalen Schau untergebracht. Drinnen finden die Besucher eine riesige dreiteilige Skulptur vor, die wie die zerlegte Turbine eines interplanetaren Raumschiffs aussieht. In Wirklichkeit ist es die Spitze des Turms von Babel. Der Blitz und die Trümmer auf dem Dach sind Teil der Skulptur „Turris Babel“ von Massimo Scolari. Sie soll jene Energie symbolisieren, die auch den babylonischen Turm zerstört hat und der wir auch die Zerstörung überholter Prinzipien des Bauens und den radikalen Neubeginn zu verdanken haben. Der letzte Zweifel, ob das Rot die Farbe der Metamorphose und die Metamorphose die Form der Revolution ist, wird beseitigt.

Wieder ein österreichisches Jubiläum: siebzig Jahre. Der österreichische Pavillon wurde 1934 von Josef Hoffmann errichtet. Es war eine Art politisches Geschenk der autoritären Regierung Dollfuß an den Duce. Seit Peter Weibels Kommissariat (1993-1999) versuchen die meisten zur Teilnahme bestimmten Künstler und Architekten den austrofaschistischen Charme (und Charme hat die penetrant axiale Architektur von Hoffmann tatsächlich) zu unterminieren - bewusst oder unterbewusst. Das ist diesmal besonders gut und einfühlsam schräg gelungen. Die Gruppe AllesWirdGut (AWG) hat draußen eine schräge Plattform gelegt, aus der eine einfache Bude wächst wie aus einer flachen Böschung. (Man merke: Generalmetamorphose - Landschaft, die Architektur wird.) Das Gebilde ist einheitlich mit einem schwarzen Belag aus Abfallgummi überzogen, der mit dem Weiß des Hoffmann-Pavillons kontrastriert. Plattform und Bude dienen als Bühne für die Auftritte und Aktionen von Architektengruppen, die eingeladen wurden, um am Ruhm in Venedig zu partizipieren. Insoweit geht das Konzept von Austrokommissärin Marta Schreieck voll auf. Schreiecks Vorstellung, die eingeladenen vier Gruppen - neben AWG noch nextENTERprise, querkraft und pool - würden zu einem gemeinsamen Konzept zusammenfinden und auf diese Weise die spezifisch österreichische Neigung junger Architekten zur Gruppenbildung darstellen, hingegen wurde enttäuscht. Die anderen drei Gruppen ziehen vor, ihre kleine private Leistungsschau vorzuführen.

Als zweiter Österreichschwerpunkt kommt die vortreffliche Architektur der Supermarktkette MPreis hinzu: jede Filiale ein anderer Architekt. Das Interesse des Publikums dafür ist unerwartet groß. Im internationalen Vergleich erscheinen die Österreicher als Menschen, die den Spaß ernst nehmen. Im nationalen Vergleich ist die heurige Präsentation im österreichischen Pavillon die beste, seitdem es die Architekturbiennale gibt. Learning from the Prater: Drei Trittvehikel stehen zum Durchfahren des Pavillons bereit und werden gern verwendet. Sie haben elegante rote Gestelle.

[ Metamorph. In Giardini und Arsenale Venedig. Bis 7.11., tägl. 10-18 Uhr. ]

8. September 2004 Falter

Formen ohne Reserven

Eine Ausstellung im Künstlerhaus geht auf intelligente Weise der uralten theoretischen Frage nach, wie die Form in die Architektur kommt.

Die Herkunft des ersten dekonstruktivistischen Hauses ist geklärt. Als Buster Keaton und die Schauspielerin Sybil Sealey 1920 heirateten, bekamen sie von einem Onkel als Hochzeitsgeschenk ein Fertigteilhaus zum Selberbauen. Keatons berühmte Tolpatschigkeit, die Hinterhältigkeit eines rachsüchtigen Nebenbuhlers, der die Kisten mit den eingepackten Hausteilen falsch nummeriert hat, sowie Katastrophen wie ein Hurrikan haben das banale amerikanische Vorstadthaus zu einem dekonstruktivistischen Meisterwerk geformt.

Zwanzig Minuten dauert der Film „One Week“, in dem Keaton den Dekonstruktivismus, diese für die Verfahrenheit des 20. Jahrhunderts so illustre Architekturauffassung, erfindet. Dabei erfährt man alles Wesentliche über die verquickte Kunst des Bauens. Der köstliche Stummfilm, der auf die beiden Seiten einer Leinwand über der Prachtstiege des Künstlerhauses projiziert wird, ist nicht nur der Anfang und das Ende der Ausstellung „Reserve der Form“, er ist zugleich die perfekte Zusammenfassung der Problematik, die man als die Suche nach der Antwort auf eine uralte theoretische Frage umschreiben kann: Wie kommt die Form in die Architektur

Schwierige Suche. Man braucht Stunden, um alles zu begreifen. Bereits die Einladung zur Eröffnung stöhnt unter der Gewichtigkeit der vielen berühmten Namen, rund achtzig insgesamt. Buster Keaton wird nicht genannt. Sonst allesamt Extremformer, die mit ihren Werken, Ideen, Einfällen und Entwürfen die ausgefallenen Gedanken der beiden Kuratoren über das Werden und das Verschwinden von Formen illustrieren - meist in Form von schwarzblau gedruckten, collagierten Abbildungen, die auch die gewichtigsten Namen in Rauch verwandeln.

Sehr bekannte, weniger bekannte und - nur vereinzelt - wirklich unbekannte Bauwerke werden von der Architekturtheoretikerin Angelika Fitz und dem Architekten Klaus Stattmann, selbst ein Extremformer, so miteinander verknüpft, nebeneinander gestellt und (wohl überlegt) durcheinander gebracht, dass auch die bekanntesten darunter als unbekannt erscheinen. Fitz und Stattmann schauen sich die Formen, die sie interessieren, mit jenem verträumten, allseits gerechten anthropologischen Blick an, mit dem Bernhard Rudovsky in den Fünfzigerjahren unter dem Begriff „Architektur ohne Architekten“ die Analysen und Wertschätzungen von anonymen Gestaltungen revolutionierte. Ein Blick, der Wunder sieht, wohin er fällt.

Rasch besehen, erscheint die Ausstellung harmlos, ratlos, haltlos durcheinander. Sie sieht wie eine Kunstausstellung von Kunstvermittlern aus. Dann fallen die poetischen Titel der einzelnen Kapitel auf. „Operative Schatten“. „Dachreserven“. „Positionswechsel“. „Zwischen Räumen“. Dann fängt man an zu lesen, zu schauen und die Rätsel der Formen aufzulösen. Viele Rätsel. Unmengen von Verknüpfungen. Extreme Formen. Formen mit viel feinem Humor. Wie die Ausstellung selbst. Dann erinnert man sich an Rudovsky. Déjà vu. Genial. So ordentlich hat schon lange niemand die Formfrage gestellt und spaßig geantwortet. Aus nichts wird nichts und aus etwas wird etwas, aber stets etwas anderes. In der Differenz ist die Reserve.

Die Ausstellung ist nicht nur spannend, humorvoll und intelligent. Sie ist auch gelassen, sie hat einen angenehmen räumlichen Rhythmus, und sie ist, was sie besonders symphatisch macht, autobiografisch. Deshalb wirkt sie so authentisch. Stattmann hat bei Prix studiert, daher seine Vorliebe für Formen und Fragen am Rande des Möglichen. Formen aus dem Ende und dem Anfang der Architekturgeschichte. Formen ohne Reserven.

[ Bis 14.10. im Künstlerhaus (1., Karlsplatz 5) ]

1. September 2004 Falter

Der Selbstüberbieter

A star is born: Mit 71 Jahren wird Günther Domenig langsam als Architekt von Weltgeltung anerkannt, als einer, der seiner Zeit stets voraus war und ist. Das T-Centre in Wien beweist es einmal mehr.

Ein Haus verendet wie ein Vieh. Es atmet kaum noch. Einst war es ein berühmtes Bankhaus. Die Tür ist zu. Im Foyer brennt Neonlicht. Die altmodische elektrische Uhr funktioniert noch: 18.27 Uhr. Ab und zu bleibt jemand stehen, zückt seine Bankomatkarte und will Geld abheben. Der Bankomat ist abmontiert, das Loch provisorisch abgedeckt. Unter dem Loch sammeln sich leere Bierdosen und Fußgängerzonenabfälle.

Die im Eingang integrierte Kleinbar ist in Betrieb. Mit ihrem gartenlaubenartigen Schanigarten sieht sie aus wie ein Kiosk irgendwo am Stadtrand, nicht mehr wie jenes mondäne Straßenbistro von einst. Aber es heißt noch immer „ZCAFÉ“ - nach der einst legendären Z, der Zentralsparkasse der Stadt Wien. Sie ließ sich in der gerade neu eingerichteten Fußgängerzone von Favoriten eine Filiale von einem noch wenig bekannten jungen Architekten namens Günther Domenig erbauen. Eine Bankfiliale für sich und ein Haus für den Kulturverband Favoriten, der von hier aus die Peripherie kulturell versorgen und urbanisieren sollte.

So aber waren die Zeiten damals: Die Banken verstanden sich nicht nur als Geld-, sondern auch als Kulturinstitute, als Förderer modernster Künste und Architekturen. Dieses in den 68er-Jahren entstandene Verständnis manifestiert sich in dem von Günther Domenig entworfenen Bankkulturhaus aufs Eindrucksvollste. Es steht an der Peripherie, in einem Arbeiterviertel, allein schon aus dem Grund, dass so ein ausgefallenes, ein weltbedeutendes Bauwerk in der sakrosankten Innenstadt nie bewilligt worden wäre. Aber auch der Standort Favoriten löste einen Behördenkampf sondergleichen aus. Für sein nun, Jahrzehnte später, fertig gestelltes T-Mobile-Gebäude wird man Domenig, wie er sagt, „all die erforderlichen Bewilligungen nachwerfen“.

Nachdem das Z-Haus eröffnet worden war, blieb der Welt der Weltarchitektur die Spucke weg. Man erblickte eine Bestie. „Diese wilde, zuckende, schlangenhafte, fischleibige, fliegenhäutige Mischung aus Geisterbahn, Labyrinth und Urwelt-Garten hat einen heißen Atem“, dichtet der renommierte deutsche Architekturkritiker Peter M. Bode 1980. „Die Visiere' über den Fenstern im unteren Bereich sind aufgesträubt wie die Schuppen eines Gürteltieres, das man gegen den Strich gebürstet hat.“

Jetzt ist es aus mit dem Vieh. Die Fensteraugen hat man schon lange nicht geputzt. Die Blechfassadenhaut ist verdreckt und von Tauben beschissen. In der Eingangsnische, von Architekten selbst „Schnauze“ genannt, sammeln sich Abfälle. Das sich noch vor kurzem an dem kunstvollen Gerüsthalter über dem Eingang drehende Logo der Bank Austria wurde abmontiert und einige Schritte weiter, an der neuen Filiale angebracht. Sie befindet sich in einem frisch aufgeputzten Gründerzeithaus. Am 6. August 2004, fast auf den Monat genau 25 Jahre nach der feierlichen Eröffnung des weltweit gefeierten Bank- und Kulturhauses in der Favoritenstraße 118 wurde das symbolträchtig heruntergekommene Bauwerk verlassen. In den Amtsstuben des Bundesdenkmalamtes grübeln die vom legislativen Sofiensäle-Desaster schockierten Schutzbeamten darüber, ob und wie sie die einstige Z-Filiale unter Denkmalschutz stellen können. Das wird nicht leicht sein. Die vom Fürsten Potemkin gegründete Wiener Schule der Denkmalpflege, die unter Architektur nur die Fassade versteht, taugt für das Domenig-Gebäude mit ihren extraordinären Innenformen überhaupt nicht.

Das Gasthaus Zum ewigen Leben an der Kreuzung von Rennweg und Grasbergergasse. Es wird viel demoliert in dieser noch immer von Tankstellen und Autosalons geprägten Gegend an der einstigen Ausfallstraße Richtung Zentralfriedhof und Flughafen Schwechat. Demoliert wurde auch das legendäre Gasthaus, sein „schattiger Garten“, von dem ein Schild am Geländer kündet, darf noch bestehen. Von hier aus ist der Blick auf den riesigen einprägsamen Neubau der T-Mobile-Zentrale, T-Centre genannt, besonders lohnend.

Das Gebäude, das durch seinen auffälligen mehrmals gefalteten Rohbau die Stadtteile an der Südosttangente schon bald nach der Grundsteinlegung im Frühjahr 2002 beherrscht hat, erscheint von der Ferne als ein zwar vielfältiger und -kantiger, aber im Ganzen homogener Körper. Man kann das T-Centre mit einem riesigen Walfisch vergleichen, der hier, am Ufer der urzeitlichen Donau, gestrandet ist. Oder mit einem gefalteten horizontalen Wolkenkratzer, der, wie Georg Pölzl, der Bauherr und T-Mobile-Direktor, stolz vermerkt, mit 134.000 Quadratmetern Bruttogeschoßfläche doppelt so groß ist wie der Millennium-Tower am neuzeitlichen Donauufer.

Jedes neue Gebäude von Domenig ist mit seinen Vorgängern stärker verbunden, als es zunächst den Anschein hat. Die Z-Filiale ist im T-Centre enthalten, das Steinhaus, Domenigs weltberühmtes Privatdomizil und Baumanifest in Steindorf am Ossiacher See, kann als Vorbau für das T-Centre gelten. Dabei handelt es sich aber nicht um bloße Fortsetzungen, sondern um Übertreffungen. Jedes Haus ist ein Experiment (das aus vielen Teilexperimenten besteht) und keines wird wiederholt. Die Serie der Experimentalbauten aus Domenigs Labor gilt nicht der Verfeinerung und auch nicht der Bestätigung formalästhetischer Gewagtheiten, sondern deren radikaler Überbietung. Nach dem Unterschied zischen Hans Hollein und Günther Domenig gefragt, meint der renommierte, an der TU Wien lehrende Architekturtheoretiker Christian Kühn: „Hollein wiederholt sich, Domenig überholt sich.“

Unter den weltberühmten österreichischen Stararchitekten ist Domenig am wenigsten ein Star. Die Rezeption seiner Architektur erschöpft sich oft in metaphorischer Nacherfindung und nicht in der Nachempfindung der ungeheuren Sensibilität und Waghalsigkeit, mit der diese Bauten konzipiert und durchgezogen werden. Es ist bezeichnend, dass das Grazer Kunsthaus (Kennmetapher: A Friendly Alien) als eine unerhörte Novität zelebriert wird, während man ein benachbartes Bauwerk übersieht, das viel wichtiger ist als der gefeierte Trickbau von Peter Cook and Colin Fournier: der Mehrzwecksaal der Kongregation der Schulschwestern in Graz-Eggenberg.

Dieser von Günther Domenig gemeinsam mit seinem langjährigen Partner Eilfried Huth 1972 konzipierte und 1977 vollendete Bau erfüllt einiges mehr von dem, was die Architekten mit dem Kunsthaus zu leisten versprochen haben, aber nicht halten konnten. Der in einem Klosterhof verborgene Schalenbau ist eine wirkliche Pionierleistung auf dem Gebiet der erst jetzt ungemein populär gewordenen biomorphen Architektur. In seiner Rede im MAK anlässlich des siebzigsten Geburtstages von Günther Domenig sagte der amerikanische Architekt Thom Mayne über „the Zed Bank“: „Wenn ich zurückblicke, begreife ich nun, dass sie der Vorläufer dessen war, was heute in der zeitgenössischen Architektur passiert. Erst jetzt können Computer diese Formensprache umsetzen, die zur Währung der nächsten Generation wird.“ Günther Domenig ist der Superstar der nahen Zukunft.

11. August 2004 Falter

Heiß wie in Jo'burg

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: Eine Ausstellung dokumentiert die Hitze in den Hütten südafrikanischer Townships, und auch ein neues Hochhaus am Wiener Donaukanal leidet unter bauklimatologischen Problemen.

Vor wenigen Monaten, im Frühjahr 2004, erlebten die Bewohner der Blechhüttensiedlung Orange Farm an der Peripherie von Johannesburg etwas, was sie sich zuvor wohl kaum vorzustellen wagten. „Oh look the whites! They are working for the blacks! Usually the uMlungus', the white people, say Hey black, take a hammer, do this, do that'“, riefen sie entzückt aus. „I am very excited about what is happening“, kommentiert Thandi Mjiyakho Kyoka, die Leiterin der Behindertenorganisation Modimo o Moholo, das einzigartige Ereignis. „Really, I don't know how to explain.“

Die uMlungus, die den Schwarzen von Orange Farm dieses Erlebnis sondergleichen bescherten, waren 26 Studentinnen und Studenten der Technischen Universität in Wien, Abteilung Wohnbau + Entwerfen. Sie waren angereist, um unter der Leitung von Peter Fattinger, Sabine Gretner und Franziska Orso zwei Gebäude zu errichten. Das eine ist ein Mehrzweckhaus für das Masibambane College, das zum Beispiel als Wohnstätte für die Gastlehrer dienen kann. Das Masibambane College ist eine Volksschule, aus Anlass der ersten freien Wahlen in Südafrika nach dem Ende der Apartheid 1994 von Christoph Chorherr und Helmut Zilk gemeinsam initiiert und von der Stadt Wien finanziert. Es dient außerdem als Gemeindezentrum. Das andere Gebäude, das von den Studenten ebenfalls aus einfach zu beschaffendem Baumaterial in Selbstbauweise innerhalb von fünf Wochen errichtet wurde, ist eine Tagesheimstätte mit geschützter Werkstatt für die Behindertenorganisation Modimo o Moholo.

Die TU-Studenten haben den Bewohnern von Orange Farm das Erlebnis ihres Lebens und zwei nützliche Häuser beschert und dem Architekturzentrum Wien die seit langem wichtigste, interessanteste und wahrscheinlich auch wirksamste Ausstellung über eine der spannendsten Städte der Welt. „JO'BURG NOW! Baustelle Südafrika“ enthält, als erweiterte Version jener Ausstellung, die bereits auf der fünften Architektur-Biennale in Saõ Paulo gezeigt wurde, kongeniale Ergänzungen der Dokumentation des außerordentlich erfreulichen TU-Studentenprojektes. Zusammengestellt wurde sie von einem Team junger, engagierter Architekten, die in Johannesburg leben und arbeiten, und dem auch Anne Graupner angehört, eine aus Österreich stammende Absolventin der Universität für angewandte Kunst.

Johannesburg entstand 1886, als hier Goldvorkommen entdeckt wurden. Obwohl die Goldminen keine wichtige Rolle mehr spielen, ist Jo'burg mittlerweile das wichtigste Wirtschaftszentrum Südafrikas geworden. Dennoch ist es eine Goldgräberstadt geblieben. Eine Metropole, die während ihrer Geschichte vier Mal von Grund auf umgebaut wurde und sich weiterhin in einem rasanten stetigen Umwandlungsprozess befindet. Das Hauptproblem für die Stadtplaner sei es, demokratische Strukturen zu schaffen, die der Stadt weiterhin vollkommen fehlen, meint Anne Graupner. Damit ist nicht nur die soziale Infrastruktur gemeint, sondern auch die Beschaffenheit des öffentlichen Raumes, der den Schwarzen bis 1994 verweigert wurde.

In Joannna, Joostes, eMjivu, Goudstad, eGoli, Jopies, Jozi, Kwandonga oder eben Jo'burg - 27 verschiedene Ortsnamen werden auf der Ausstellungstafel im Hof des AzW aufgezählt - gibt es 3,2 Millionen Menschen. 74 Prozent davon sind Schwarze, und die meisten leben in Townships wie etwa dem berüchtigten Schwarzenghetto Soweto oder Orange Farm, in aus Abfallmaterial selbst gebauten Blechhütten, die nur 15 Quadratmeter groß sind und bunt und eindrucksvoll wie die Materialcollagen des Nouveau Réalisme. Nur ein Drittel dieser Behausungen hat einen Wasseranschluss, aber sechzig Prozent einen Fernseher.

Die Hütten, Shacks genannt, seien furchtbar heiß, sagt Franziska Orso. Extrem heiß. Wie heiß, das können die Ausstellungsbesucher selbst erfahren. Auf dem AzW-Hof wurde eine Blechhütte nachgebaut.

Kürzlich wurde das Uniqa-Hochhaus, das wie eine schlecht gedrehte und zusammengeklebte Papiertüte aussieht, eröffnet. Weil der Neubau an einer überaus prominenten Stelle entstehen sollte, am Kopf der Aspernbrücke und in der Sichtachse des Stubenringes, wurde uns, der Allgemeinheit in Wien, die Einrichtung eines öffentlichen Raumes versprochen, der draußen beginnen und im Inneren fortgesetzt werden sollte. Eine Art Passage. Daraus ist fast nichts geworden.

Tatsächlich ist es zu einer Erweiterung des Straßenraumes gekommen, aber keiner wirklichen, echt öffentlichen. Kein Vergleich mit jenen kleinen, freien Plätzen und platzartigen Hallen oder Passagen, die in New York zuerst vorgeschrieben wurden und nun eine Selbstverständlichkeit bei Hochhaus-Neubauten geworden sind.

Unterhalb des Wiener Gebäudes sind Freiflächen entstanden, die vor allem als Vorplatz des weithin protzenden Versicherungspalastes dienen. Die Gestaltung ist von der selektierenden Art. Hält man sich hier ein wenig länger auf, so kommt man sich wie ein Eindringling in fremdes Revier vor.

Draußen auf dem Vorplatz ist es (am 5. August 2004) fürchterlich heiß. So heiß, wie es in derart beschaffenen Hochhäusern in der Regel zu sein pflegt. Ein wohl bekanntes bauklimatologisches Problem. Drinnen im Foyer, unter und hinter der riesigen schrägen, doppelschaligen Dachwand, ist es kühl (die Klimaanlage läuft) und auch sonst angenehm. Den Architekten Heinz Neumann und Erik Steiner, die mit der selbst kreierten unmöglichen Form eines sich spiralförmig öffnenden elliptischen Zylinders hart und letztlich erfolglos zu kämpfen hatten, ist das Foyer überaus gut gelungen. Es ist geräumiger und großzügiger als in Wien üblich. Die mächtigen Stahlbetonpfeiler kontrastieren mit dem Glas der Innenfassaden. Die Farben, hauptsächlich helle Grautöne, sind gut gewählt und fein abgestimmt. Das trifft auch auf das äußere Erscheinungsbild zu, wodurch die offensichtliche Fragwürdigkeit der Gebäudeform - die man immerhin als gewagt bezeichnen kann - abgemildert wird. Diese Form, so ein Gerücht, sei von dem Uniqa-Logo, das an eine Lassoschlinge erinnert, abgeleitet. Das dürfte stimmten. Die Schlinge setzt sich auch in dem elliptischen Innenraum des Foyers und der Lobbytheke fort.

Dort gibt eine kleine Cafeteria. Ihre Betreiber sprachen (am heißen Nachmittag des 5. August 2004) untereinander italienisch. Der Kaffee ist hervorragend. Die Sessel sind spiralförmig geformt. Die Atmosphäre ist mondän. Es gibt einen schönen Blick auf den Aspernplatz und die vortrefflich renovierte Urania mit ihrer elliptischen Form und ihren mächtigen spiralförmigen Rampen. Von hier besehen, erscheint die Urania als hauptsächliche Inspirationsquelle für die gewagte Form. Von hier besehen, stellt man erfreut fest: Der Neubau trägt doch wesentlich dazu bei, dass die trostlose Hinterhofsituation am Donaukanal verschwindet. Dass das neue Bürohaus am Donaukanal fast eine Sehenswürdigkeit ist.

21. Juli 2004 Falter

Sinnlichkeit im Keller

Manfred Wolff-Plottegg, Verfechter einer psychoanalytischen Baukunst, hat das Café Korb um ein erotisches Klo bereichert.

Das Café Korb auf den Tuchlauben wurde unlängst von einem verheerenden Wasserrohrbruch heimgesucht. Das Inzident im Kellergeschoß sowie der Umstand, dass das Café Korb Peter Weibels Stammlokal ist, haben sich als Glücksfall für den Bestand an aktuell vorzeigbarer zeitgenössischer Architektur in Wien erwiesen: Endlich gibt es hier ein Baukunstwerk von Manfred Wolff-Plottegg, das öffentlich zugänglich ist. Der Professor an der TU Wien und Freund von Peter Weibel ist der führende, um nicht zu sagen einzige Proponent einer aktionistisch inspirierten und psychoanalytisch angehauchten Architektur in Österreich.

Auch Plottegg ist eine Art Wiener Architekturlegende. Man erzählt sich von einem tollen Klo, das der Grazer Architekt bereits vor Jahren einem namhaften Wiener Psychoanalytiker und Verfechter der Analtheorie Freuds derart raffiniert mit Spiegeln ausgestattet haben soll, dass die Klobenutzer an ihren Ausscheidungsprozessen teilnehmen können, was sich für das seelische Gleichgewicht zwischen Es und Ego heilbar auswirken soll. In der Architekturszene kursieren Beschreibungen, die an Erfindungsreichtum und sinnlichen Farbigkeiten mit den klassischen Schilderungen von Junggesellenmaschinen wetteifern können, jene von Franz Kafka inbegriffen.

Offensichtlich hat keiner der begeisterten Überbringer der Klokunde das wunderbare Ding der periskopen Autoinspektion mit eigenen Augen gesehen. Man erzählt davon mit glänzenden Augen und fügt Erinnerungen an das legendäre Café Costes in Paris an, wo es am Klo eine spiegelnde Pissoirwand gab. Sie war derart berühmt, dass auch Damen das kommunikative Männerabteil in Scharen aufzusuchen pflegten. Dieses von Philippe Starck 1984 gestaltete Café, das den Weltruhm des Designers begründete, gibt es längst nicht mehr. Nun rückt Plottegg eindrucksvoll nach.

Die Toiletten im Café Korb befinden sich im Untergeschoß. Dort befindet sich auch die „artlounge“, ein fensterloses Kellerverlies, das von Günter Brus, Peter Kogler, Manfred Wolff-Plottegg und Peter Weibel gemeinsam gestaltet wurde und seither von einem Hauch des wahren Wiener Undergrounds durchweht wird. Hier pflegen führende Philosophen und Kunstrhetoriker der Stadt ihre theoretischen Diskurse abzuhalten. Der Zugang zum Untergeschoß ist ein einfaches türloses Loch in der Wand mit der eleganten Holztäfelung aus den 1950er-Jahren. Das Café Korb ist eines der letzten, die im mehr oder weniger originalen Zustand erhalten geblieben sind.

Direkt über dem Locheingang hängt das Foto einer Aktion von Valie Export. Es stellt die Künstlerin dar, wie sie sich liegend an den Rand eines abgerundeten und mit einer roten Linie markierten Gehsteigs anschmiegt. Es geht um Körpersprache. Diese rote Gehsteiglinie korrespondiert mit den Linien der beiden Handläufe, die mit roten Kunststoff belegt sind, der wiederum mit dem roten Linoleum der Stufen harmoniert. Es handelt sich um erotisches Rot.

Erst nach dem Besuch der tollen neuen Toilette fällt auf, wie erotisch die Gestaltung des Café-Interieurs aus den frühen 1950er-Jahren war. Neben dem Export-Foto hängt jenes Plakat, mit dem die kunstsinnige Cafetiere Susanne Widl im Frühjahr 2002 zur Eröffnung der im einstigen Kegelbahnkeller eingerichteten Artlounge eingeladen hat. Das Motto der Artlounge stammt wohl von Weibel selbst: „Die Rückkehr der Kommunikation“.

Die Rückkehr der Klommunikation. Das neue Klo im Korb von Manfred Wolff-Plottegg ist ein Meisterstück der kommunikationsfördernden Innenarchitektur - dies fällt bereits vor den beiden Milchglas-Flügeltüren mit ihren großen schwarzen Piktogrammen auf. Die Benutzer erscheinen als Schatten. Allenfalls sieht man deren Füße. Denn die beiden Abteile befinden sich in ein und demselben Raum, die betriebliche Trennung der Geschlechter erfolgt durch ein endloses Paravent, das in der Luft zu hängen scheint. Die Lichtkörper befinden sich hinter dieser reich gekurvten Wand, die wie eine endlose Schleife in den orthogonalen Raum hineingewickelt wurde, als handelte es sich um einen weißen Schleier.

Die Paraventwand ist aus pulverbeschichtetem weißem, matt glänzendem Alublech, welches das indirekte Licht weich zu reflektieren und dank der Krümmungen so zu verteilen vermag, dass man sich in der Mitte der Lichtquelle wähnt, meint, eine Lichtgestalt zu sein. Der Fußboden, ein terrazzoartiger Belag in sattrotem Ton, reflektiert das Licht, glänzt derart, dass man die Klovisite als ein glamouröses Raum-Licht-Ton-Erlebnis auffassen kann. Das frivole Spiel des Architekten mit der Balance zwischen der Intimität des Klobesuches und dem Klobesuch als eine Form der Kommunikation ist gewagt. Und geglückt. Das Klo im Korb ist schön.

Offensichtlich ist es ein Spiel mit der sinnlichen Form- und Farbensymbolik des ursprünglichen Stiegenzugangs. Vermutlich ist diese neu erreichte Einheit zwischen der Toilette und der Treppe eine Anspielung an die Treppenmetapher in der Traumdeutung Freuds.

Keine falsche Deutung erlauben die Türpiktogramme. Sie schließen an die Konkrete Poesie der Wiener Schule an. Aus einem I und zwei Beistrichen wurde ein Penis, aus zwei Klammern eine Vagina. Die beiden Zeichen sind so angebracht, dass man es nicht anders lesen kann, als dass der Penis in die Vagina will.

Wenn man beginnt, aufrichtig darüber nachzudenken, was die Einheit der hübschen Piktogramme wirklich bedeuten könnte, stellt man fest: Eigentlich müssten die Männer hinter das Frauenparavent wollen, die Frauen hingegen in die Männerabteilung. Dort aber befindet sich die Urinalmuschel, das unverkennbare Zeichen der maskulinen Vorgangsweise. Der Architekt ist also nicht konsequent gewesen. Die Spiegel hängt in beiden Coupés ausschließlich über den Waschbecken.

30. Juni 2004 Falter

Gebaute Erinnerung

„Denkwürdiges Wien“, ein neuer Stadtführer von Erich Klein, erinnert an den Architekten Erich Boltenstern - obwohl dessen bekanntestes Bauwerk gar nicht vorkommt: der Ringturm.

Erich Klein hat eine Unterweisung zum bewussten „Gehen & Sehen“ in Wien verfasst und im Falter Verlag veröffentlicht: „Denkwürdiges Wien. 3 Routen zu Mahnmalen, Gedenkstätten und Orten der Erinnerung der Ersten und Zweiten Republik“. Die Lektüre fordert zum kritischen Nachgehen auf. Und zum Erinnern an Erich Boltenstern.

Obwohl der Ringturm ein „Ort der Erinnerung“ ist, ein immanent politischer sogar, kommt er bei Klein nicht vor. In das schmale Buch würde das stattliche Hochhaus überaus gut hineinpassen. Der Ringturm und eine Ehrentafel in dessen Foyer erinnern an Norbert Liebermann. Nach dem legendären Generaldirektor der Wiener Städtischen war früher auch der „Norbert-Liebermann-Hof“ am anderen Ufer des Donaukanals benannt, der ebenfalls ein Werk des Architekten Erich Boltenstern ist. Als dieser bedeutende Verwaltungsbau aus den Sechzigerjahren vor wenigen Jahren mit postmoderner Gründlichkeit bis zur Unkenntlichkeit umgebaut wurde, verschwand die ehrende Hausbenennung und eine Aufforderung zum Erinnern.

Erich Boltenstern (1896-1991) wurde von den Nationalsozialisten als „jüdisch versippt“ eingestuft und mit Berufsverbot belegt. In der Nachkriegszeit stieg er zu einem der meistbeschäftigten Aufbauarchitekten auf, unter anderem leitete er den Wiederaufbau der Staatsoper. Norbert Liebermann (1881-1957) war möglicherweise der einzige jüdische Politiker und Experte, der nach der Befreiung von 1945 aus dem Ausland nach Österreich zurückgeholt und in seine Position als Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung wieder eingesetzt wurde. Der Sozialdemokrat Liebermann war bereits nach dem austrofaschistischen Putsch im Februar 1934 abgesetzt worden; nach dem „Anschluss“ im Frühjahr 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau deportiert. Nach seiner Freilassung 1939 gelang ihm über Kuba die Flucht in die Vereinigten Staaten. Seine Rückkehr 1947 ging auf die persönliche Einladung des Wiener Bürgermeisters Theodor Körner zurück.

Liebermann setzte den Bau eines neuen Bürohochhauses an der Stelle eines durch Bomben zerstörten Ringstraßenpalais durch. Der Ringturm, dessen Name in einem Volksplebiszit gefunden worden war, wurde sofort zum Sinnbild des rasanten Wiederaufbaus und des geglückten Wiederanschlusses an die westliche Welt. Liebermann wollte in Wien eine Erinnerung an die Wolkenkratzer von Manhattan haben, die er während seiner Emigration in New York lieb gewonnen habe, erzählte man sich damals. Wenn das kein Ort der Erinnerung ist!

Der Ringturm, Boltensterns Hauptwerk, steht unter Denkmalschutz. Nicht so sehr, weil seine Architektur von überragender Bedeutung wäre. Das Hochhaus erinnert eindringlich und weithin sichtbar an den Aufbauoptimismus nach dem Krieg. Ein anderer Boltenstern-Bau und ebenfalls ein wichtiger Ort der Stadtgeschichte ist das Restaurant auf dem Kahlenberg. Ein Bau, der weithin sichtbar - jedoch unaufdringlich - den Aufbauoptimismus der austrofaschistischen Diktatur verkörpert und daher ein Baudenkmal par excellence abgibt. Würde man meinen. Mitnichten: Das von der Stadt Wien an einen Privaten verkaufte Restaurant soll laut einem kürzlich erlassenen Gemeinderatsbeschluss abgerissen und durch einen Neubau nach einem Entwurf des Büros Neumann/Steiner ersetzt werden.

Nach Erich Bernard, einem der wenigen Kenner der Architektur der Zwischenkriegszeit, ist das Restaurant das architektonisch interessanteste Bauwerk von Boltenstern und auch der beste Bau des austrofaschistischen Wien überhaupt - nicht zuletzt deshalb, weil er bereits 1932 für einen noch in sozialdemokratischen Zeiten ausgelobten Wettbewerb entworfen wurde. Erich Klein hat das Bauwerk in seinen Gedenkstätten-Führer aufgenommen. Völlig richtig weist er auf die Tatsache hin, dass das Restaurant ein Bestandteil der Höhenstraße ist. Ihr Bau begann 1934 und wurde erst in den Fünfzigerjahren beendet.

Der Boltenstern-Bau, der sozusagen als der Höhepunkt der Höhenstraße gedacht und konzipiert war, ist für das austrofaschistische Regime eine so charakteristische Leistung wie etwa der Karl-Marx-Hof für das Rote Wien. Der Bau der eleganten, von Stadtbauamt-Architekten Erich Leischner entworfenen Panoramastraße diente als Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose. Es durften keine schweren Baumaschinen eingesetzt werden.

Die Höhenstraße samt Restaurant am Kahlenberg ist ein Erinnerungsort der Sonderklasse: Sie weist von der sozialdemokratischen Zeit (Ziel: Tourismus für Volksmassen - ein Restaurant mit 4500 Sitzplätzen in der Sommerzeit) über den Austrofaschismus (Ziel: Tourismus für die Oberschicht) und die NS-Zeit mit ihren entsprechenden architektonischen Beigaben (der Kahlenberg wurde nach dem „Anschluss“ zum „Wachtturm der Ostmark“ erklärt) bis in die Nachkriegszeit.

Der damals erfolgte Hotelzubau, ein Werk des stark NS-belasteten Architekten Hermann Kutschera, gilt auch für die Verteidiger des Boltenstern-Restaurants als nicht schützenswert. Also: Boltenstern ja, Kutschera nein? So einfach ist es allerdings nicht. Auch Kutschera, der mit seinem Projekt einer Skisprungschanze bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin - als Tonkunst, Baukunst, Dichtung, Malerei und Bildhauerei noch als vollwertige olympische Disziplinen galten - eine Goldmedaille gewann, ist eine architekturgeschichtlich interessante Figur. (Wäre ein österreichischer Abfahrts-Olympiasieger in dem Hotel einmal abgestiegen, stünde es vermutlich längst unter Denkmalschutz!)

In der gegenwärtigen Bewertung aber haben all diese kulturhistorischen Umstände und Details am Rande offensichtlich keine Bedeutung. Wieder zeigt sich, wie schwach die Position des Denkmalamtes in derartigen Fällen ist; wie sehr Experten fehlen, die sich mit der Architektur der Zwischen- und Nachkriegszeit befassen. Wer zulässt, dass das Restaurant von Boltenstern demoliert wird, der muss auch die Schutzwürdigkeit des Karl-Marx-Hofes infrage stellen. Um es auf die Spitze zu treiben: In der NS-Zeit wurde Boltenstern - nicht zuletzt auch wegen der Modernität seiner Bauten - mit Berufsverbot belegt; in der Jetztzeit werden seine Bauten demoliert.

Die dem Ringturm am nächsten liegenden Lokalitäten, die in Erich Kleins Führer erwähnt werden, sind die beiden Flaktürme im Augarten. Gar keine Frage: Sofern die Naziungetüme noch nicht unter Denkmalschutz stehen, müsste dies schleunigst geschehen. Denn auch um sie herum kreisen längst einfallsreiche Umbauspezialisten. Der Architekt der Flaktürme hieß Friedrich Tamms - nicht Tamm, wie er bei Klein genannt wird.

Der fehlende Buchstabe „s“ ist nicht der einzige kleine Fehler in dem mit interessanten Hinweisen, Fotos und gut lesbaren Texten vollen Gedächtnisauffrischungsführer. Neben viel Lobenswertem gibt es auch ein paar Dinge, über die man sich ärgern muss. Zum Beispiel, dass sich keinerlei Hinweise auf die Quellen und die verwendete Literatur finden - und natürlich, dass der Ringturm fehlt.

verknüpfte Publikationen
- Denkwürdiges Wien

26. Mai 2004 Falter

Filme im Forsthaus

In der ruralen Einöde bei Laxenburg wurde das Zentralfilmarchiv um einen gelungenen Neubau erweitert. Auch dem Bedürfnis der Filmbewahrer nach einer zeitgemäßen Symbolik ihres Tuns wurde Rechung getragen.

Etwa zwei Kilometer hinter Laxenburg steht an der Umfahrungsstraße nach Münchendorf ein Haus, das früher ein Gasthof gewesen sein dürfte. Im Dach des erdgeschossigen Gebäudes steckt das Wrack eines abgestürzten einmotorigen Flugzeugs. Man soll sich von dem Cinecittà-Aussehen nicht täuschen lassen: Es ist nicht das Zentralfilmarchiv Laxenburg. Es ist das Restaurant Flieger&Flieger.

Ein paar hundert Meter weiter mündet ein Feldweg in die Bundesstraße; dort ragt aus der Erde eine große Stahlplatte heraus, die an den Rändern so durchlöchert ist, dass man das hier befremdlich wirkende Objekt für ein Monument des verschollenen Films halten könnte. Verschollen im Sinne von Peter Bogdanovich („The Last Picture Show“): „Es gibt keine alten Filme, sondern nur solche, die man sehen kann oder eben nicht mehr sehen kann“. Der Feldweg führt zu einem Weiler, der so nah am Rand eines dichten Haines liegt, dass man das Gehöft für einen Forstbetrieb halten könnte, wären nur im Schild des stattlichen barocken Hauses Hirschgeweihe angebracht. Es ist das Zentralfilmarchiv.

Schwer zu sagen, was schwieriger ist: Filme zu sammeln oder zu bewahren. Filme sind ein überaus empfindliches Kulturgut. Kein Vergleich mit Büchern. Wenn man sie in ihrer ursprünglichen Qualität erhalten will, muss man die Bildträger in stabil kühlen (sechs Grad Celsius) und feuchten (35-40 % relative Feuchtigkeit) Räumen lagern. Beginnen Filme einmal zu brennen (Nitratfilme bereits bei einer Temperatur von 120 Grad), dann lassen sie sich nicht mehr löschen. Daher dürfen Filmarchive nur außerhalb bebauter Gebiete errichtet werden.

Gleich neben dem Altbau, der tatsächlich ein kaiserliches Forstamt beim Schloss Laxenburg war und unter Denkmalschutz steht, befindet sich ein neues Gebäude, das man für eine moderne Scheune halten könnte. Für die tollkühne Interpretation eines Schuppens. Die stattliche Größe, die schlichte, zweckmäßige Form des Baukörpers und die rostbraune Farbe seines Fassadengeflechtes lassen darin nicht einen Kühlhaus-Betonbunker vermuten, aber doch einen Speicher: einen bautypologisch und -technologisch banalen Langzeitspeicher und zugleich einen Thesaurus, wie die alten Griechen das Schatzhaus nannten. Ein Wertvollspeicher.

Für das gesamte Bauvorhaben samt der aufwendigen Bauweise (Pfahlgründung wegen des sumpfigen Grundes, eine spezielle wärmedämmende Stahlbeton-Massivbauweise) und Klimatechnik (doppelt ausgeführt) sowie der Mobilregale für 300.000 Filmrollenkassetten standen nur 1,1 Millionen Euro zur Verfügung. Nach einigen Gesprächen der Archivdirektion mit verschiedenen Architekten erhielt das Büro Embacher Wien den Zuschlag. Michael Embacher ist dafür bekannt, dass er derartige Harakiri-Aufträge nicht nur höchst effizient, sondern auch architektonisch höchst anspruchsvoll auszuführen vermag.

Der Langzeitspeicher ist ein Kubus mit zwei Lagerebenen zu je fünfhundert Quadratmetern. Die Maße des Baukörpers entsprechen denen des barocken Forsthauses. Das monolithische Erscheinen des Gebäudes wird am Eck gegenüber dem Altbau durch eine - um eine Hand voll des Konstruktiven zu viel - dramatische architektonische Geste unterbrochen, die aus einem Schlitz für den Eingang, dem versenkten und rot gefärbten Aufzugsturm sowie aus der weit auskragenden freien Fluchtstiege samt brückenartigem Flugdach besteht.

Um eine von der Forsthausumgebung inspirierte Metapher zu verwenden: Den architektonischen Vogel hat der Architekt mit seiner witzigen Fassadenlösung abgeschossen. Um den ganzen Baukörper herum sind unzählige Streifen aus Kupferblech wie ein Geflecht angenagelt. Diese Paravents beschatten die Betonwände, sind unterlüftet und verleihen dem Gebäude ein überaus angenehmes, weiches und naturhaftes Erscheinen. Völlig frei von pseudoökologischen oder gar folkloristischen Attitüden, kann es als ein Muster des zeitgemäßen Bauens in der Landschaft gelten.

Die Breite der Bänder von 35 Millimetern entspricht dem verständlichen Bedürfnis der in der ruralen Einöde des Forstamtes werkenden urbanen Filmbewahrer nach einer zeitgemäßen Symbolik ihres Tuns. 35 Millimeter ist die klassische Filmbreite. Uneinig sind sich die Archivare und ihr Architekt nur in einer Frage: Ob auf die Stahlplatte bei der Straße die Aufschrift „ZENTRALFILMARCHIV LAXENBURG“ angebracht werden soll oder nicht. Die Antwort ist doch klar: Nein.

21. April 2004 Falter

Kardinal und König

Roland Rainer (1910-2004)

Vergangene Woche starb der österreichische Jahrhundertarchitekt. Ihm verdankt Wien es, eine der lebenswertesten Städte Europas geworden zu sein.

Roland Rainer war Kardinal und König der österreichischen Architektur. Er dachte, sprach und baute, als würde er predigen. Er mahnte die Tugendhaftigkeit der Architektur ein. Sie müsse wahrhaftig, aufrichtig, einfach, bescheiden und uneitel sein.

Einer der schönsten Innenräume, die ich in Wien kenne, ist sein Büro im Hinterhof eines mehrgeschoßigen Wohnhauses in Wien-Hietzing. Es ist ein kahler, fensterloser, knapp möblierter Raum: ein Ort zwischen der Sakristei einer einfachen Landkirche und der Eremitage eines taoistischen Denkers. In der Mitte steht ein langer Tisch, der stets leer war, wenn ich bei ihm zum Besuch weilte. Auffallend abgeräumt, Tabula rasa. Der Raum wird durch einen Okulus, ein rundes Fenster in der Decke, beleuchtet - ähnlich wie die Altäre in den von Rainer erbauten Kirchen. Ein Ort höchster Konzentration. Den Blick in den begrünten Hof, die von ihm vehement geforderte Verbindung der Innenräume mit dem Außen, gönnte er seinen Mitarbeitern im Zeichensaal.

Aus Gesprächen mit ihm schließe ich, dass Roland Rainer Atheist war. Sein Zugang zur Architektur hingegen war ausgesprochen religiös. Er sprach wie ein Missionar und dachte wie ein Demiurg. „Es ist Aufgabe des Architekten, den Menschen ein vollständiges, menschliches, humanes Weltbild zu vermitteln. Wir müssen daran denken, dass wir nicht nur Häuser bauen. Wir müssen wissen, dass wir eine Welt bauen.“ Mit diesen Worten schließt Roland Rainer sein letztes Buch, die exzellent gestaltete Monografie „Roland Rainer: Das Werk des Architekten 1927-2003“ (Springer Verlag), die er selbst, nicht ganz uneitel, herausgegeben und gestaltet hat.

Bücher zu schreiben und zu gestalten war seine Leidenschaft. Insgesamt 26 Bücher hat er veröffentlicht. Der 1961 von ihm selbst gestaltete und herausgegebene Bildband „Anonymes Bauen im Nordburgenland“ ist für mich das schönste Architekturbuch, das in Österreich je veröffentlicht wurde. Sein letztes Buch, die Monografie, die nur wenige Wochen vor seinem Ableben am 10. April 2004 erschienen ist, wurde offensichtlich als Vermächtnis konzipiert. Sie trägt den apodiktischen Untertitel „Vom Sessel zum Stadtraum: geplant errichtet verändert vernichtet“ und eine dramatisch wirkende Nachtaufnahme der Stadthalle von Bremen auf dem Umschlag.

Die Lage in Bremen ist tatsächlich dramatisch. Der 1964 fertig gestellten Stadthalle droht die rücksichtslose Erweiterung für Zwecke des zeitgenössischen Events, wodurch die eindrucksvolle Außenerscheinung der auf sechs schräge Pfeiler gehängten Halle mit mehr als hundert Metern Spannweite völlig ruiniert wäre. Als kürzlich die brutalen Umbaupläne bekannt wurden, klagte Rainer, der nie konsultiert worden war, seine Urheberrechte ein. Der Gerichtstermin wurde erst Monate nach dem Beginn der Umbauarbeiten festgelegt. Ob der Prozess nun nach dem Tod des Architekten fortgesetzt wird, ist unklar. Hoffnungsvoll stimmt allerdings, dass die Proteste namhafter Kulturmenschen in Deutschland immer stärker werden.

Auch die Wiener Stadthalle wurde umgebaut. Dabei ist man zwar nicht zerstörerisch, aber leider auch nicht zimperlich vorgegangen. Vernichtet wurde die erste Bauwerk-Predigt von Rainer: das 1952 für die und neben der Wiener Arbeiterkammer errichtete Franz Domes Lehrlingsheim. Trotz Protesten wurde es 1983 abgerissen und durch ein Bürohaus und ein Theater in scheußlichem Funktionärsbarock ersetzt.

Im Wien der Fünfzigerjahre war die moderne Architektur ein attraktives Wahlthema. „Damit Wien wieder Weltstadt wird, wählt SPÖ“, hieß es auf einem Plakat für die Kommunalwahlen 1954. Die auf dem Plakat abgebildete moderne Weltstadt existierte noch nicht. Der Ringturm befand sich noch im Rohbau und die Stadthalle gar noch am Planpapier als Entwurf für einen internationalen Wettbewerb im Sommer 1954. Der erste Preis wurde zwischen Alvar Aalto und Roland Rainer aufgeteilt, Rainer - wir sind in Wien - bekam den Bauauftrag. Dennoch ist diese Mehrzweckhalle ein Spitzenbauwerk der Architekturgeschichte.

Zwei deutsche Städte, Bremen und Ludwigshafen, beschlossen daraufhin, ähnliche Stadthallen errichten zu lassen. Von Roland Rainer. Nach den von ihm gewonnenen Wettbewerben. Die Stadthallen wurden zu den jeweiligen Wahrzeichen aller drei Städte und zu Zeichen der Zeit, des wunderbaren Aufstiegs des kriegszerstörten Deutschland und Österreichs zu vorbildlich modernen, demokratischen und wirtschaftlich prosperierenden Staaten.

Was die neue Baukultur betrifft, hat Roland Rainer viel dazu beigetragen. In Österreich war er jahrzehntelang die bestimmende Majestät des Bauens. Er war einer, der die Zeit prägte, in der er tätig war, und zu deren Zeichen er letztlich selbst werden sollte. Er war eine Autorität - und das wusste er, das setzte er ein, das nutzte er aus. Was nicht seinen Vorstellungen entsprach, lehnte er ab. Wann und wo er konnte, versuchte er nach seinen Maßstäben und Dogmen zu wirken.

Konnte er nicht, zog er sich erzürnt zurück. So 1963 nach fünfjähriger Amtszeit als Stadtplaner von Wien. 1957 hatte Rainer vor dem Wiener Senat einen Vortrag gehalten, in dem er seine Auffassung von der Arbeit des Stadtplaners darlegte. Er sprach, als würde er aus dem Koran zitieren, und verglich seine Arbeit mit der eines Teppichwebers: „Andere haben vor ihm gewebt, und andere werden nach ihm weiter weben. Der Wiener Stadtplaner webt an einem sehr kostbaren Teppich, der in der Geschichte aus der Landschaft und den Werken der Menschen entstanden ist.“

Den Stadtratsabgeordneten gefiel der Vortrag sehr, und sie ernannten Rainer zum Wiener Stadtplaner. Gott sei Dank. Die Basis dafür, dass Wien eine der lebenswertesten Städte in Nachkriegseuropa geworden ist, ist der Autorität des Roland Rainer, dem Jahrhundertarchitekten der zweiten Hälfte des österreichischen 20. Jahrhunderts, zu verdanken.

18. Februar 2004 Falter

Die Freude am Golfspielen

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur

Diesmal: eine schlampige Slowakei-Schau, ein wohlfeiles Firmenlogo und der schnellste Architekturführer der Welt.

Vladimir Dedecek ist ein Genie. Er lebt in Bratislava, wo er nicht gemocht wird - weil er für die Kommunisten baute. Im Westen ist er unbekannt. In Bratislava sind in der kommunistischen Zeit mindestens vier Bauwerke entstanden, denen man internationales Niveau bescheinigen kann. Bei zwei von ihnen konnte ihre erhebliche architektonische Qualität bereits von Österreich aus, also international, erkannt werden, als der Eiserne Vorhang noch zugezogen war: die Brücke über die Donau und der Fernsehturm in den Hügeln der Kleinen Karpaten. So nah liegt Bratislava.

Die Brücke mit ihren zwei schrägen Pfeilern, die in der luftigen Höhe eine große linsenförmige Kapsel mit einem Aussichtsrestaurant tragen, ist ein Wahrzeichen der Stadt. Von Wien über die Hängebrücke kommend sieht man den obeliskartigen TV-Turm und rechts unten gleich am Donaukai einen zwischen den Seitenflügeln eines schlossähnlichen Gebäudes gespannten Baukörper, der wie eine umgekehrte riesige Treppe aussieht und mit rot lackiertem Blech bedeckt ist. Es handelt sich dabei um den Ausstellungstrakt der Nationalgalerie, Dedeceks drittes Spitzenbauwerk europäischer Architektur aus kommunistischer Zeit. Das sieht auch Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au so. Die meisten slowakischen Experten sehen es anders, und das merkt man wiederum der Ausstellung „Architektur Slowakei. Impulse und Reflexionen“ im Ringturm an: Abgesehen von einer miserablen, in einem Eck versteckten Schautafel ohne Text kommt das geniale Bauwerk nicht vor. Manche Experten plädieren für Abriss.

Das vierte sehenswerte Bauwerk ist das Gebäude des slowakischen Rundfunks in der Form einer riesigen, auf die Spitze gestellten Pyramide. Von der Brücke aus sieht man es nicht. Vom Brückencafé aus würde man es erblicken, aber dieses ist wegen seines schlechten baulichen Zustands geschlossen. Das ist leider charakteristisch: So gut die Bauten in der Slowakei auch sein mögen, die Ausführungen und die Gestaltungen im Detail sind meist miserabel.

Um die Rundfunk-Pyramide zu besichtigen, muss man durch die Stadt Richtung Freiheitsplatz gehen. Unterwegs fällt auf, wie oft versucht wurde, aus dieser osteuropäischen Provinzkleinstadt eine moderne europäische Großstadt zu machen. Modern im Sinne der jeweils geltenden Regierungsformen und Architekturauffassungen - von der k.u.k. Gründerzeit über den tschechoslowakischen Funktionalismus bis zur realsozialistischen, an den aktuellen westeuropäischen Vorbildern orientierten Architektur. Es fällt auf, dass in der Zwischenkriegszeit in der noch immer klein gebliebenen Großstadt Bratislava mehr Bauten der klassischen Moderne errichtet wurden als in ganz Österreich. Zum Beispiel wurde die curtain wall, die vorgehängte Fassade, dort bereits 1932 angewandt, kurz nachdem sie in den USA entwickelt worden war und 28 Jahre, bevor sie in Wien verwendet wurde.

Man soll also aufhören, die slowakische Architektur zu unterschätzen. Die Ausstellung macht es einem allerdings schwer. Die ganze Slowakei und die lange Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart sind zu groß für den kleinen Ausstellungsraum. Das slowakische Bildmaterial ist schlecht, die österreichische Gestaltung noch schlechter.

Vor einiger Zeit erschien im profil ein bemerkenswertes Interview mit dem Bauunternehmer Erwin Soravia über Hans Holleins merkwürdiges Ding auf der Albertinabastei, genannt Soravia Wing. Die Frage: „Werden Sie wieder als Architektursponsor in Erscheinung treten?“ bejahte Soravia und begründete seine Drohung wie folgt: „Wir leben in Wien sehr gut, wir verdienen gutes Geld hier. Ich kann es mir aber auch nicht leisten, Förderungen still und leise zu vergeben. Architektur passt zu uns besser als ein Sponsoring der Barmherzigen Brüder. Ende März bringen wir eine neue Firma auf den Markt, eine Immobilien-Beteiligungsgesellschaft. Das Firmenlogo wird der Wing' sein. Andere Unternehmer zahlen ein Vermögen, um derart in der Öffentlichkeit präsent sein zu können.“ Ein gutes Geschäft, das Wing-Ding, keine Frage. Die Frage ist: Ist der Albertina-Direktor Schröder befugt, den Namen Albertina an eine Immobilienfirma derart billig zu verschleudern?

Profil fragt außerdem: „Was wird in fünf Jahren in Wien-Reiseführern über das Flugdach zu lesen sein?“ So lange brauchen wir nicht zu warten. Ein derartiger Führer ist bereits kurz vor dem Jahreswechsel erschienen: „Wien 1975-2005 - Neue Architektur“. Dort heißt es unter dem Stichwort „Albertina, Totalsanierung 1998“: „Für die Ausgestaltung des Eingangsbereiches - eine späte Entscheidung - gewann Hans Hollein einen separaten, geladenen Wettbewerb mit einer stark kontrastierenden Architektur. Denkmalschutzbehörde und neue Architektur vertreten hier zwei verschiedene Meinungen.“

Das Urteil hat August Sarnitz, der Herausgeber des eiligsten Architekturführers der Welt, im September 2003 gefällt, und es muss bis 2005 reichen. Wie schon Sarnitz' alter Guide von 1997 dürfte sich diese Publikation ausschließlich an exzellente Kenner der Wiener Architektur wenden. Denn nur solche sind in der Lage, all die falschen, ungenauen, ungenügenden, schlecht bebilderten und offensichtlich weder fachlich noch sprachlich lektorierten Angaben zu den 300 Bauten von denjenigen zu unterscheiden, die - auch das kommt vor - richtig und brauchbar sind. Dass auf dem Buchrücken von „Architeketur“ die Rede ist, passt nur allzu gut ins Bild.

Der von der Stadt Wien (Stadtplanung) engagierte Architekt August Sarnitz zeichnet für Auswahl, Werktexte, grafische Gestaltung verantwortlich. Verständlich, dass er seine wenigen eigenen Bauten reichlich berücksichtigt hat. Viele wichtige hingegen fehlen. Obwohl der Führer eine Vorausaktualität bis 2005 behauptet, dominieren wohlbekannte Oldtimer. Der Golfclub Ebreichsdorf von Hans Hollein (1987-1989) zum Beispiel. Der entsprechende Eintrag beginnt mit: „Ein Golfclub ist ein Golfclub ist ein Golfclub. Frei nach Gertrude Stein zelebriert Hans Hollein das Clubleben in seiner besten Art und erreicht dabei heitere Atmosphäre, die zum Verweilen einlädt.“ Und er endet mit: „Der schöne Blick auf die Greens macht Freude auf die nächste Golfrunde.“

August Sarnitz: Wien 1975-2005 - Neue Architektur. Wien 2003 (Springer). 256 S., E 30,60

Architektur Slowakei: Impulse und Reflexion, Ausstellungszentrum im Ringturm (nur noch bis 29.2.).

4. Februar 2004 Falter

Zimmer mit Aussicht

Die Wienerberg City ist keineswegs perfekt - der dort errichtete Wohnturm von Albert Wimmer schon.

Albert Wimmer hat einen vortrefflichen Wohnturm errichtet. Er heißt Monte Verde und befindet sich nicht, wie der fremdartige Name nahe legen würde, am Monte Laa, sondern am Wiener Berg. Bloß durch eine enge Straße getrennt, steht der Monte Verde gleich neben jenen Twin Towers, die, 2001 von Masimilliano Fuksas vollendet, mit ihren weithin sichtbaren transparenten, grünlich schimmernden Fassaden den Maßstab für all das setzten, was in Wien unter dem Etikett Hochhaus, Turm oder Tower gebaut wird.

Um diese maßgebende Nähe war Albert Wimmer als Architekt also kaum zu beneiden. Um die Lage für das Projekt eines achtzig Meter hohen Wohnturmes mit 183 Wohnungen hingegen schon: hier, auf der hohen Südkante Wiens, wo die Landschaft in die ebenen Weiten des Wiener Beckens beziehungsweise - nach Norden - in die Häuserwellen der Stadt abfällt. Die Aussicht vom Monte Verde sei „grandios“ (Prospekt der Errichtungsgesellschaft Wien Süd), „unvergleichlich“ (der soeben erschienene Architekturführer von August Sarnitz) beziehungsweise „atemberaubend“ (News).

Absolut zutreffend. Man läßt den Blick schweifen und erblickt: die Rax und den Kahlenberg, den Stephansdom und, hinter ihm, den Screen des News-Turms am Donaukanal, das Leithagebirge und die Hügel bei Hainburg. Nur den Monte Laa (einst Laaer Berg) sieht man nicht, wo man den Monte Verde eigentlich vermutet hätte - nicht so sehr wegen der Namensähnlichkeit, sondern weil Albert Wimmer den Masterplan für die dort gelegene Developer City entworfen hat.

Für den Masterplan der Wienerberg City, wie das vor der Stadt Wien und der Wienerberger Ziegelindustrie auf ihren einstigen Betriebsgründen gemeinsam abgewickelte Projekt eines neuen Stadtteils mit rund 1200 Wohnungen genannt wird, zeichnet Masimilliano Fuksas verantwortlich. Dem Plan nach wird das seicht nach Süden abfallende Baugelände in drei Streifen bebaut. An der Kante mit den Twin Towers wurden die vier Hochhäuser von Coop Himmelb(l)au, delugan- meissl und Albert Wimmer situiert, die von den langen, parallel zum Hang gestellten Zeilenhäusern von Cuno Brullmann, atelier 4 architects und delugan-meissl durch einen breiten „Boulevard“ getrennt sind. Den Rand des Baugeländes bilden die Terrassenhäuser von Helmut Wimmer und die originelle Wohnhausanlage „Hängende Gärten“ von Günter Lautner.

Die unmittelbare Nachbarschaft der unübertrefflichen Twin Towers macht sich bemerkbar. Die typologische Vielfalt der Wohnhausanlagen und die Auswahl der Architekten (die über einen Bauträgerwettbewerb, bei dem sich Baugesellschaften mit den von ihnen ausgewählten Architekten beteiligten) sind genauso anerkennenswert wie die beachtliche Qualität des Wohnens und die angestrebte Qualität der Architektur selbst, die allerdings oft in den Anstrengungen stecken bleibt. Die Wienerberg-City hat viele Merkmale einer musterhaften Wohnstadt.

Obwohl der Städtebau hier unvergleichlich besser ist als etwa die atemberaubend dumme Hochhausbebauung an der Wagramer Straße, kann der Masterplan von Fuksas nicht als Beispiel für grandiose stadtgestalterische Intelligenz gelten. Die Situierung der Baukörper ist topografisch derart plump, dass ein wesentlicher Teil der Wohnungen von den in der Tat grandiosen Aussichtsmöglichkeiten hier ausgeschlossen werden. Dass die Zeilenhäuser nicht so zum Hang orientiert sind, dass sich die Zahl der Wohnungen ohne Fernblick auf ein Minimum reduziert, ist unbegreiflich. An der Donauuferbebauung in Wien-Kaisermühlen hat Harry Seidler exemplarisch vorgeführt, wie einfach das ist und wie gut es funktionieren kann. Der Treppenwitz der Baugeschichte am Wienerberg ist, dass Albert Wimmer in seinem Wettbewerbsentwurf eine ähnlich brauchbare Lösung vorgeschlagen hat, die aber abgelehnt wurde, weil man am Wienerberg keine Hochhäuser errichten wollte. Das war noch in der Zeit vor Fuksas, der dann - Gott sei Dank! - seine Twin Towers aufstellen durfte, die sich dann als unübertrefflich erweisen sollten. Sie sind 127 beziehungsweise 138 Meter hoch.

Mit seinen achtzig Meter ist der vortreffliche Wohnturm von Albert Wimmer keine Konkurrenz für den noblen Nachbar. Genehmigt wurde ohnehin nur siebzig Meter plus die Ausnahme zehn Prozent. Sonst hat Albert Wimmer die Herausforderung der prominenten Nachbarschaft angenommen und ein paar richtige Entscheidungen getroffen, die mit der Architektur Fuksas' einen formalen Zusammenhang aufweisen oder dieser entgegengesetzt sind. Wimmer wählte eine ihr ähnliche längliche Viereckform, setzte an den schmalen, nach Süden beziehungsweise Norden orientierten Seiten doppelt verglaste Loggien, die eine einheitliche, dem Fuksas-Bau ähnelnde Fassade ergeben. Die Längsseiten sind weitgehend geschlossen, mit grünen Keramikplatten verkleideten (das bis dahin unbekannte Grün hat sich der Architekt unter der Schutzmarke „Monte Verde“ patentieren lassen) und mit kleinen Fenstern versehen (der Wohnturm entspricht Parametern für Niederenergiehäuser).

Um der aus der Menge der Fensterlöcher notwendigerweise entstehenden Langeweile entgegenzuwirken, wurde die einheitliche Fassade durch verglaste oder offen Schlitze (bei Fluchtstiegen) aufgelockert. Der Baukörper wurde mit großen, weit auskragenden Wohnerkern bestückt, die seitlich die gleichen verglasten Loggien wie die Süd- und Nordfassade aufweisen. Dadurch wurde die Anzahl der Wohnungen mit Fernblick wesentlich erhöht.

Das Vortreffliche am Wohnturm Monte Verde: Die Ausblicksmöglichkeiten wurden optimal genutzt, und die Zahl der Wohnungen mit optimaler Aussicht maximalisiert - dieses Optimalaussichtsmaximum wurde dann in perfekte Architektur umgesetzt.

17. Dezember 2003 Falter

Albertina: das Ding mit dem Wing

Plötzlich war es da, das Wing-Ding, das „Soravia Wing“ heißt und aussieht, als wäre es unter aller Anstrengung in das so luftige Ambiente über der Albertinabastei mit hineingestopft worden. Dabei bedeutet Wing „Flügel“. Aber „Soravia-Flügel“ klingt nicht so gut wie „Soravia Wing“.

Mit dem durch einen Namen ergänzten Wort „Wing“ werden in Museen oder auf Universitäten in Amerika und Großbritannien jene Gebäude bezeichnet, deren Errichtung von einem freigibigen Sponsor finanziert wurde. Es entsteht also der Eindruck, die Bauunternehmer Erwin und Hanno Soravia hätten den Umbau (mit)bezahlt, wenn nicht gar die ganze Albertina errichtet. Die überaus kostspieligen Bauarbeiten aber wurden zur Gänze vom Staat getragen. „Steuerzahler Wing“ wäre also treffender gewesen. Die Brüder Soravia haben lediglich das Wing-Ding bezahlt; angeblich hat es zwei Millionen Euro gekostet. Jetzt verdeckt es die triste Tatsache, dass all die wunderbaren neuen technischen und wissenschaftlichen Räume in der Albertina leer stehen, weil für ihren Betrieb das Geld fehlt.

Das Wing-Ding sieht aus, als hätte es ein minderbegabter Statiker ohne einen Architekten oder ein minderbegabter Architekt ohne einen Statiker gebastelt. Versprochen war ein überaus dünnes Ding aus Titan, das feinfühlig im empfindlichen Stadtbild zwischen Staatsoper und der Albertina schweben sollte. Die etwas naiv agierende Jury unter der Leitung von Carl Pruscha hatte den hübschen Computerbildern aus dem Atelier Hollein nicht widerstehen können. Versagt aber haben die ex-sowjetischen Raumfahrtingenieure, denen es, so wird erzählt, nicht gelungen sei, die hübschen Hollein-Images in die konstruktive Wirklichkeit eines eleganten Flugdaches umzusetzen. Wie auch immer. Das Ding ist da, unübersehbar. Und steht für den tragischen Fall eines hochbegabten Wiener Architekten.

Bei der Eröffnung des Wing-Dings zitierte Klaus Albrecht Schröder Hans Hollein, der irgendwann in den Achtzigerjahren gemeint hatte, er dürfe zwar viel zum Ansehen Wiens beitragen, aber nichts zum Aussehen. Der Ausspruch müsste heute genau andersrum lauten. Nach der Demolierung des Michaelerplatzes durch das archäologische Ruinenloch hat Hollein nun den Albertinaplatz endgültig ruiniert. Davor war an dieser Stelle der Bildhauer Alfred Hrdlicka tätig geworden. Hrdlickas Denkmal und das Schröder-Gehrer-Soravia-Hollein-Mahnmal passen, obwohl formal gegensätzlich, gut zusammen: Der Albertinaplatz ist zu einer Deponie für Staatskitsch geworden.

Man kann den Fall natürlich auch positiv sehen: Erstens symbolisiert der Soravia Wing überaus anschaulich, welcher Art die Beiträge der durch die Regierung Schüssel durchgesetzten Sponsoring-Kultur sein werden; und zweitens symbolisiert das Ding die gänzliche Entmachtung des Bundesdenkmalamtes, das nun von der sparsamen Regierung vernünftigerweise gleich aufgelöst werden müsste. Drittens erinnert das Ding eindringlich daran, dass Hans Hollein als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats - der ebenfalls aufgelöst gehörte - gänzlich versagt hat. Hätte er seine Funktion ernst genommen, hätte er sein ganzes Renommee einsetzen müssen, um die Aufstellung der Rolltreppenüberdachung von Hollein zu verhindern.

10. Dezember 2003 Falter

Ein Mann sieht rot

Die Neugestaltung des Schwarzenbergplatzes ist noch gar nicht fertig und schon ein Skandal. Jedenfalls, wenn man sie mit den Augen der „Presse“ betrachtet.

Wenn zwei oder drei (zum Beispiel Zeitungen oder Pressefotografen) dasselbe darstellen, dann ist es nie dasselbe, ja nicht einmal das Gleiche. Kürzlich wurden in zwei Wiener Zeitungen illustrierte Berichte über die Neugestaltung des Schwarzenbergplatzes veröffentlicht. Anlass war bloß der Abschluss der Arbeiten an den Verkehrsanlagen und den Fahrbahnen, nicht die Fertigstellung der Platzgestaltung, die erst im Sommer 2004 erfolgen soll.

Der Fotograf der Wiener Zeitung, Smutny, hat den Platz vom Hochstrahlbrunnen aus Richtung Ringstraße abgebildet, wobei seine Aufmerksamkeit offensichtlich der gesamträumlichen Wirkung und der Oberfläche galt. In seinem Bericht „Grauer Schwarzenbergplatz“ (7.11.03) stellt Florian Smutny (vermutlich identisch mit dem Fotografen Smutny) genauso lapidar, wie sein Foto ist, fest, dass die Neugestaltung die Längsausrichtung des Platzes betonen soll und dass auf die Pflanzung von Bäumen verzichtet wurde, weil es dem historischen Charakter des Platzes entspricht. Ein tadelloser Bericht. Informativ und der Wirklichkeit, also der Wahrheit, nah. Der Platz wirkt wirklich grau. Das ist angenehm.

Der Schwarzenbergplatz ist noch nicht fertig - und wird bereits von der Presse, dem Kampfblatt des österreichischen Spießbürgertums, fertiggemacht. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Hans Haider die Presse-Fotografin Michaela Seidler instruiert hat, wie sie den Schwarzenbergplatz Presse-gerecht und in Farbe aufnehmen soll - so ganz von unten gegen den Himmel, in jener Kurve und auf jener Kreuzung, in/auf der sich die Lichtmaste, die Straßenbahn-Oberleitungsseile und sonstige Verkehrszeichen zu dem gewünschten Eindruck verdichten, der in dem Bildtext folgendermaßen zusammengefasst ist: „Wiens Schwarzenbergplatz gleicht einem Bahnhof“. Alle Ampeln - neun auf einmal - sind auf Rot geschaltet, im Hintergrund - im Zentrum der Bildkomposition, das Foto ist ein Meisterstück der Manipulation - steht das ungeliebte Russenmahnmal. Hans Haider sieht rot.

„Plumpe Lichtmasten, die meisten auch zur Verspannung von Straßenbahn-Oberleitungen eingesetzt, erzürnen seit Wochen auf dem neu gestalteten Wiener Schwarzenbergplatz die Passanten.“ Haider, der bewährte Kultur-Allrounder des bürgerlichen Blattes, hat am 18. November wieder einmal als Architekturkenner zugeschlagen. Unter der Schlagzeile „Design-Desaster am Schwarzenbergplatz: Architekt nennt Wien Bananenrepublik'“ verfasste er keinen Bericht, sondern eine Mischung aus Lokalreportage vom Tatort, Adabei-Kolummne und Architekturkritik mit einem kurzen Exkurs in die Geschichte des Städtebaus sowie einem Interview mit dem spanischen Architekten Alfredo Arrabas.

Thomas Chorherr, Doyen des originären Presse-Journalismus, schildert in seiner Kolumne „Merk's Wien“ unter dem Titel „Die Verschandelung der Stadt“ am 24. November seine Wahrnehmungen vom Schwarzenbergplatz. „Nein, hier soll nicht von dem Schmutz die Rede sein, in den wir allzu oft hineintreten. Auch nicht jener ist gemeint, den die gefiederten Ratten hinterlassen. Es gibt auch Schmutz, der nur optisch wahrnehmbar ist. Es gibt eine Verschandelung, die wir nur mit den Augen erfassen können - weder Hunden noch Tauben ist da Schuld zuzumessen.“ Chorherr lobt Hans Haider für all den Blödsinn, den er über den Schwarzenbergplatz geschrieben hat (er dürfte der einzige erzürnte Passant sein, den Haider kennt) und bezeichnet Holleins Flugdach vor der Albertina als „optisches Verbrechen“. Was er appetitlich begonnen hat, schließt er poetisch ab: „Es schmerzt alles dies ein Kind der Stadt'“, ruft er Anton Wildgans herbei. „Weil man glaubt, dass ein Stadtkind keine Heimat hat'. Falsch!“

In der Tat. Im Standard, der sich des Falles am 26. November unter einem Foto von Heribert Corn annimmt, dementiert Architekt Arribas „alle ihm in einer österreichischen Zeitung zugeordneten Zitate (...) Insbesondere den Satz, Wien sei eine Bananenrepublik'“. Corn lässt den Sieger in der Völkerschlacht bei Leipzig, Karl von Schwarzenberg, durch die Mastenreihen ruhig defilieren, das Russendenkmal wird in den Nebel des Hintergrundes verschoben, keine einzige auf Rot geschaltete Ampel stört die fast idyllische Gelassenheit des verdrahteten Himmels über den neu abgesteckten Platz in Corns Momentaufnahme.

Man soll nicht vergessen: Die Ringstraße ist kein Ring, sondern ein Polygon, dessen meisten Brüche dort entstanden sind, wo es galt, die wichtigen Radialstraßen mit dem Ring zu verbinden. Die Planer damals rechneten weder mit dem Straßenbahn- noch mit dem Autoverkehr. Das heißt: Diese Plätze sind zugleich die wichtigsten Kreuzungen. Sie als Plätze gelten zu lassen und dabei die Verkehrsbedingungen zu erfüllen, ist überaus schwierig. Das Draht-Firmament über derartigen Plätzen ist unvermeidbar, um nicht zu sagen: unverzichtbar - denn Straßenbahnoberleitungen gehören zum Stadtbild jeder normalen Großstadt.

Der Schwarzenbergplatz ist noch nicht fertig. Das, was bereits feststeht - die Aufteilung der Oberfläche in die einzelnen Verkehrsbereiche, Fahrbahnen, Straßenbahngleisanlagen und -stationen samt Oberleitungen sowie Gehsteige und Radwege und vor allem die Lichtmaste und die Scheinwerfer samt der Nachtbeleuchtung -, das alles lässt die Erwartung zu, dass der Umbau des Schwarzenbergplatzes zu einem seltenen Fall einer überaus gelungenen Platzgestaltung werden kann. Sowohl die Verkehrslösung - einschließlich der Verlängerung der Parkfläche vor dem Hochstrahlbrunnen - als auch die Reihung und Linienführung der Lichtmaste sind tadellose, der schwierigen Form des Platzes adäquate Lösungen.

Die dadurch entstehende Raumbildung befreit und betont die Mittelachse und die beiden Fassadenseiten. Der Platz wurde entrümpelt, vereinfacht, übersichtlich und damit für seine Benutzer begreiflich gemacht. Die Architektur des Platzes - die Form wurde vom Reiterdenkmal abgeleitet - kommt wieder zur Geltung.

22. Oktober 2003 Falter

Besser gehts nicht

Ihre Bauwerke fallen aus dem Rahmen, irritieren dadurch, dass sie einfach erscheinen und doch etwas Besonderes haben. Ihre Arbeit lässt keinen Kritiker kalt: Die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck vollendeten jetzt den Kaipalast und gewannen den Wettbewerb für die Neugestaltung von Wien-Mitte.

Seit dem 10.10., 10 Uhr sind Henke und Schreieck auch im Stadtbild der Innenstadt von Wien nicht mehr wegzudenken. Am 10.10. um 10 Uhr wurde der Neubau des Kaipalastes offiziell und feierlich für vollendet erklärt und von Architekturexperten als vollkommen befunden. Bei den Feierlichkeiten lobten Dieter Henke und Marta Schreieck ihre Mitarbeiter, vor allem die Konstrukteure Manfred Gmeiner und Martin Haferl, mit denen sie oft zusammenarbeiten. Sie lobten den Bauherrn, Generaldirektor Rudolf Kraft, der ihnen erlaubt habe, genauso zu bauen, wie sie es sich vorgestellt hatten, und ihnen so ermöglicht habe, nicht von ihrem Architekturgrundsatz, „der Maximierung des Raumes, nicht der Maximierung der Nutzflächen“, abweichen zu müssen - obwohl es sich hier, am Franz-Josephs-Kai, um einen besonders teuren Baugrund handelt.

Der Generaldirektor seinerseits lobte Henke und Schreieck für deren Fähigkeit, die „perfekte Symbiose aus Funktionalität und Ästhetik zu schaffen“. Und er lobte sich selbst, weil seine Firma, die Züricher Versicherung, ihnen ermöglicht habe, ohne wesentliche Einschränkungen so zu arbeiten, dass ein Bauwerk entstehen konnte, auf das sie, die Firma, die Innenstadt, ganz Wien und so weiter stolz sein können. In der Tat. Der nächste prestigeträchtige Bauherrenpreis, das kann bereits als sicher angenommen werden, ist ihnen für den K47, so der Werbekurzname des neuen Kaibüropalastes, sicher. Es wäre der fünfte, den Henke und Schreieck bekommen würden. Sie haben, das muss man sagen, wenn man sie für ihre außerordentlich guten Bauwerke lobt, auch enormes Glück mit ihren Bauherrschaften gehabt. Und mit ihren Architekturkritikern. Kaum ein Bau von ihnen, der nicht hymnisch rezensiert wäre.

Wieder einmal ging an diesem 10.10. ein Seufzen der Begeisterung durch die Architekturszene und ein Seufzen der Erleichterung durch die Amtsstuben der Wiener Stadtplaner und Denkmalschützer: That's it! Der K47-Schriftzug, der in großen roten Buchstaben an den Glaswänden der bis weit in die Landschaft des Donaukanal-Tals sichtbaren Skybox auf dem Dach zu lesen ist, sei der Beweis, dass in der Wiener Innenstadt auch unter dem Kuratel des schrecklich schönen Verdikts vom Weltkulturerbe zeitgenössische Architektur möglich sei, gar die aller zeitgenössischste, für die Henke und Schreieck bereits lange stehen. Ein Architekturkritiker, nämlich ich selbst, sagte an diesem denkwürdigen 10.10. dem ORF gegenüber: „Besser gehts nicht.“ Außerdem sagte ich, dass der neue Kaipalast besser sei als der alte von 1912 von Ignaz Nathan Reiser, der abgebrochen werden musste, weil er bauphysikalisch in ruinösem Zustand war.

Jetzt ist also der neue Kaipalast da und da muss man mit Adolf Loos begeistert festhalten: Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung. Der K47, das Kürzel steht für die Adresse Franz-Josephs-Kai 47, bedeutet eine enorme Verbesserung und Aufwertung der architektonischen Situation an der städtebaulichen Kante der Innenstadt. Er ist nach dem genialen, aber in seiner einzigartigen architektonischen Qualität weit gehend verkannten, zwischen 1968 und 1984 von Ernst Hiesmayr errichteten Juridicum, erst das zweite Bauwerk, das in der Innenstadt samt ihrem unmittelbaren Umkreis nach 1945 entstanden ist, dem man internationales Niveau bescheinigen kann. Und mit der streng geometrischen und völlig transparenten Skybox auf dem Dach des sonst geschlossen wirkenden Hauptkörpers stellen Henke und Schreieck - gerade rechtzeitig - einen beinahe manifesthaft eindeutig formulierten Diskussionsbeitrag zum Thema zeitgenössisches Bauen in der vergaubten Wiener Dachlandschaft auf.

Auch das Juridicum weist eine originelle Dachlösung und eine Menge formaler und ethischer Ähnlichkeiten mit dem K47 auf. Unter anderen fällt die Entschiedenheit auf, mit einem Gebäude den städtischen Raum, den Straßenraum im Speziellen, im Sinne der vorgefundenen Situation genau zu definieren und fortzusetzen. Dabei handelt es sich nicht um ein respektvolles Reagieren auf eine vorgefundene Situation, also um einen so genannten architektonischen Dialog mit der Umgebung, wie in den Architekturkritiken der Henke-Schreieck-Bauten immer wieder betont wird. Ganz im Gegenteil. Henke und Schreieck vermeiden die Anpassung, sie reagieren nicht dialogisch, sondern dialektisch. Ihre Lösungen können als Antithesen zu der vorgefundenen Lage, der Situation oder Nachbarschaft verstanden werden. Ihre Bauwerke fallen aus dem (orts)üblichen Rahmen heraus, fallen auf, irritieren dadurch, dass sie ungemein einfach erscheinen und doch etwas haben, was der offenbaren Architektur zu einem nicht definierbaren Mehrwert verhilft.

Eines der Prinzipien von Dieter Henke und Marta Schreieck ist die Schaffung von gleitenden Übergängen zwischen dem gänzlich öffentlichen und dem gänzlich privaten Raum, die Führung des Raumes in das Gebäude hinein und umgekehrt aus dem Gebäude heraus - so wie es auch für das Juridicum charakteristisch ist. Bis auf die Transparenz blieb allerdings beim K47 im Sockelbereich kein Platz übrig, der Straßenraum wird daher durch zwei großzügig bemessene Einschnitte in das Gebäude geführt, wo er sich mit dem überdachten, großzügig dimensionierten Atrium verbindet. Die Dialektik ihrer architektonischen Vorgangsweise, die konkrete Formulierung des Entwurfes, setzt die genaue Kenntnis und Erkenntnis der Bausituation - einschließlich Aufgabe und Rahmenbedingungen - voraus. Dies ist sozusagen die These, auf die sie dann mit einer Antithese - mit ihren Entwürfen - reagieren.

Der Antithesecharakter dürfte einer der Gründe dafür sein, warum ihre Architektur so spannend ist. So kann auch die auffällige K47-Skybox verstanden werden: als die Antithese zum eigenen Gebäude darunter. Jetzt und wahrscheinlich noch eine Zeit lang mag der K47 befremdlich wirken, dann wird man aber feststellen, dass diese Lösung (Welt) - mit dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gesprochen - von den unendlich vielen vorstellbaren Lösungen (Welten) die beste ist. Oder, wie die Architekturpublizistin Liesbeth Waechter-Böhm ihre Presse-Rezension des von Henke und Schreick erweiterten, umgebauten und rekonstruierten Parkhotel Hall von Lois Welzenbacher (1930) stark begeistert, leicht resignierend beendet hat: „So ist es, und anders soll es gar nicht sein.“ Ein wenig abseits von dem turmartigen, strahlend hellen und denkmalgeschützten Welzenbacher-Hotel stellten Henke und Schreieck dort einen zweiten Hotelbau auf, der zylindrisch und fast schwarz ist.

Dem glücklicher Seufzer vom 10.10. ging zwei Tage zuvor ein noch glücklicherer voraus. Die Jury des städtischen Planungswettbewerbs für den Bahnhof Wien-Mitte unterschrieb das Juryprotokoll, demnach Henke und Schreieck mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurden - bei sieben Prostimmen und zwei Enthaltungen. Das Prädikat des UNESCO-Weltkulturerbes für Wien, durch die Türme der vorher geplanten Hochhäuser gefährdet, wurde gerettet. Es war ein denkwürdiger Tag. Denn, und das ist wirklich neu, „ein Wesensmerkmal des Verfahrens war die Einbeziehung von Vertretern aller politischer Parteien“. SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grüne. So der offizielle Text. Die De-facto-Einstimmigkeit veranlasst zu der Überlegung, ob es sich nicht um einen Fall der „sozialpartnerschaftlichen Ästhetik“ handelt, wie es Robert Menasse einmal formuliert hat.

Aber Achtung! In dem Juryprotokoll tauchen verdächtige Formulierungen auf. „Für die Jury war die Einfachheit und Klarheit des städtebaulichen Vorschlags, das Prinzip des gedeckten, großzügigen Hofes sowie die Abstraktion von der architektonischen Handschrift maßgeblich. Die Jury schätzte im Besonderen die Fähigkeit des Projektes, in unabhängigen Abschnitten realisiert zu werden, wie auch die Möglichkeit, künftige, unterschiedliche architektonische Sprachen zu integrieren.“

Das könnte bedeuten, dass mehrere Architekten an der Verwirklichung, und dies über längere Zeitspannen, man spricht von 15 Jahren, beteiligt werden sollen. Dass sogar - durchaus denkbar - Henke und Schreieck gar nicht an dem soeben gewonnenen Projekt mit konkreten Bauten beteiligt sein müssen. Es gibt Verträge, die den bisher hier planenden Architekten die Ausführung gänzlich oder teilweise sichern. Der siegreiche Entwurf ist tatsächlich hervorragend. Hervorragend im Sinn der Architekturauffassung von Henke und Schreieck. Also Achtung!

8. Oktober 2003 Falter

Paint It Black

Die Neugestaltung des nach wie vor in der Albertina untergebrachten Filmmuseums ist ein bisschen ambitionslos. Und sie ist perfekt.

Mit der Neugestaltung des Filmmuseums ist der Umbau der Albertina vollendet. Lediglich ein paar Ergänzungen am äußeren Erscheinungsbild fehlen noch, vor allem das doofe Aluflugdach oben auf der Terrasse und die fade wellige Fassade am Sockel unten (dort, wo sich der Eingang ins Filmmuseum befindet) - beides nach einem Entwurf von Hans Hollein. Könnten nur der Bauherr Klaus Albrecht Schröder und sein Imageknecht Hollein auf die beiden ergänzenden Belanglosigkeiten verzichten, die - wie es Elisabeth Gehrer, die Oberbauherrin der Albertina, so vortrefflich auszudrücken pflegt - „nicht hilfreich“ sind.

An der Albertina wurde bereits genug herumgepfuscht - womit nicht die Arbeit der eigentlichen Umbauarchitekten Erich G. Steinmayr und Friedrich H. Mascher gemeint ist, die für die wesentlichen Veränderungen im Rahmen der strapaziösen Umgestaltung des alten Palastes in ein modernes Ausstellungshaus zuständig waren. Zehn Jahre lang haben sich Steinmayr und Mascher abgeplagt, das umfangreiche Raumprogramm so unterzubringen, ohne dass das Erscheinungsbild des Palastes vom Umbau berührt wird. Wen wunderts, wenn die beiden nun am Ende erschöpft sind; dass es ihnen für das Finale, für die Neugestaltung des Filmmuseums, offensichtlich an Elan gefehlt hat.

Das neue Filmmuseum ist keine furiose Vollendung des strapaziösen Erneuerungswerks der Albertina. Im Kontrast zu der fulminant sachlichen Architektur der unterirdischen, größtenteils öffentlich nicht zugänglichen, also faktisch unsichtbaren neuen Räume der Graphischen Sammlung Albertina wirkt die Gestaltung des Filmmuseums zu gediegen, zu kostbar, zu perfekt und zeitlos elegant. Also langweilig, ambitionslos, müde. Es ist keine wahre Kinoarchitektur, kein Ort der Sinnlichkeit und der genussvollen Erwartung.

Es ist so, wie es heißt: ein Museum. Obwohl es kein Museum ist, sondern ein Filmvorführungssaal und ein Foyer. Ein Museum ohne Exponate - sieht man von zwei Plakatfaksimile ab. Institutionsarchitektur. Wenn man ein böses, also treffendes Wort der Futuristen verwenden soll: eine Gruft der Kunst. Mit einer Bar, die nichts von den alten Kinotheken hat, sondern viel vom Schalter in einer Bawag-Filiale. Das hängt mit dem Baumaterial Eichenholz und der Farbe Schwarz zusammen. Sie wird „Unsicht-Bar“ genannt, obwohl sie das einzig neu Gestaltete ist, was gleich und deutlich zu sehen ist. In einem Kino kann man sich schnell täuschen.

Das Filmmuseum besteht aus einem Foyer, einer Bar, einem Kinosaal und aus den Büro- und Bibliotheksräumen im ersten Stock. Diese Institution hat mit der Albertina außer des - bildlich gesprochen - gemeinsamen Dachs und des gemeinsamen Eingangs nichts zu tun; somit kann, falls jemanden das neue Filmmuseum nicht gefallen sollte (was wenig wahrscheinlich ist), dafür nicht Klaus Albrecht Schröder, sondern muss Alexander Horwath, seit 2002 Direktor des Österreichischen Filmmuseums, verantwortlich gemacht werden.

Aber Achtung! Keine Ungerechtigkeiten! Wie die Architekten selbst dürfte auch Horwath entsetzlich erschöpft sein, denn noch vor einigen wenigen Monaten stand es um die unerlässliche Umgestaltung des Filmmuseums nicht zum Besten. Der Kinosaal samt seiner aus den Fünfzigerjahren stammenden Technik war unbrauchbar. Die alten, gebrauchten Holzsessel klapperten unerträglich laut, die Ärsche schmerzten und die Knie taten weh. Irgendwie ist es Direktor Horwath gelungen, den Bund und die Stadt Wien, also die beiden miteinander verfeindeten Kunstbürokraten Franz Morak und Andreas Mailath-Pokorny, dazu zu bringen, gemeinsam das Renovierungsgeld von zwei Millionen Euro herauszurücken.

Das Filmmuseum ist also gerettet. Von Außen betrachtet, merkt man das kaum. Das aber stört nicht, weil das neue Programm traditionell hervorragend ist, die Nachfrage sicher groß bleibt und die Zahl der Sitzplätze im Zuge der Renovierung noch reduziert wurde. Das Eingangstor ist das alte aus dem Umbau in der Nachkriegszeit, das berühmte Gewerkschaftsbarock, das übrigens ganz ausgezeichnet mit dem Schröder'schen Wenderegierungsbarock harmoniert. Auch die Kalksteinplatten, mit denen der Fußboden und die Pfeiler im Foyer belegt wurden, sind erhalten geblieben.

Die Portiersloge - das Foyer dient weiterhin als Betriebseingang der Graphischen Sammlung Albertina - ist neu, aus Eichenholz. Die Doppelfunktion des Foyers drückt ein wenig auf die Stimmung: Hintereingang bleibt Hintereingang, auch wenn es das Hauptfoyer eines eleganten Filmmuseums ist. Andererseits aber ist dadurch von der einstigen Atmosphäre eines armen, aber bedeutenden Kellertheaters ein wenig erhalten geblieben. Doch das alles sind Nebensächlichkeiten. Die Hauptsache ist der Vorführungssaal. Das eigentliche Filmmuseum, das Kino, das größte Wunder des 20. Jahrhunderts.

Die Pionierzeiten sind vorbei. Wie in jedem Megaplex verlangt der mobil gewordene Kunde heutzutage auch vom Filmmuseum die höchste Kommodität. War er früher besonders für die S/M-Filme geeignet, so ist er jetzt auf Liebesfilme eingestimmt, die sich in Jumbojets abspielen. Seinen einstigen Foltercharakter hat er gänzlich verloren. Die hölzernen Sitzapparate, die bei der kleinsten Körperregung, die selbst durch leichteste Regung des Gemüts verursacht wurden, mitknarren konnten, als würden sie das Drama auf der Leinwand mitleiden, wurden durch neue, weich gepolsterte und am Filmgeschehen gänzlich teilnahmslose italienische Designersitze ersetzt: 165 - davon zwei für Behinderte - statt 213. Schwer zu sagen, was man nun mehr genießen soll - die Weichheit und Lautlosigkeit der Sessel, die Schönheit des Desings oder die Freiheit der Beine.

Und das alles in der elegantesten Farbe Wiens, im funebren Schwarz. Aber Achtung, keine falsche Interpretation! Der Kinosaal heißt jetzt „Black Cube“ oder auch „das Unsichtbare Kino 3“. Neben seiner Eleganz hat das Schwarz einen großen symbolischen Wert. Das Schwarze ist eine Hommage an den Mitbegründer des Filmmuseums Peter Kubelka, der hier in den Fünfzigerjahren in Anlehnung an das „Invisible Cinema“ in New York - daher wohl die Nummer 3 - eine Stelle für Avantgardefilme etabliert hat.

Das Unsichtbare Kino war eine Vorstellung, derzufolge die Beziehung zwischen Film und Zuschauer durch die Versenkung in vollkommene Dunkelheit besonders innig gestaltet werden könnte. Darüber hinaus hat die Nichtfarbe Schwarz einen praktischen Wert: Es beeinträchtigt die Wahrnehmung der Farbtöne bei Farb- und des Schwarz bei Schwarz-Weiß-Filmen am allerwenigsten. Das Filmmuseum ist perfekt.

24. September 2003 Falter

Die Toscanità-Fraktion

DER BAUKASTEN. Anmerkungen zur Architektur.

Diesmal: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht nach Italien. Die Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ zeigt, warum das ein Fehler ist.

Das neue Utopia der Sozialdemokratie heißt Toskana. Jene modernen sozialdemokratischen Politiker aus Österreich und Deutschland, die ihre Urlaubstage in der Toskana zu verbringen pflegen und dies für die zeitgemäße Form des Internationalismus halten, werden Toskana-Fraktion genannt. Hübsch.

Dort, in sanft hügeliger Landschaft und bekömmlichem Klima, sind sie Liebhaber toskanischer Küche und Kenner toskanischer Weine geworden. Da sie über diese ihre neuen Leiden- und Kennerschaften gern öffentlich plaudern, sind wir über den dortigen Lifestyle, die Toskanità, vortrefflich unterrichtet.

Über die moderne Architektur in der Toskana wissen wir fast nichts. Diejenigen Reisenden, die in Florenz mit der Eisenbahn ankommen, werden sich möglicherweise an den eleganten Bahnhof Santa Maria Novella erinnern. Das hellbraune, niedrige, mauerartig geschlossene und aerodynamisch abgerundete Gebäude schließt unmittelbar an die Altstadt an, steht gleich hinter der dunkelbraunen gotischen Apsis der Chiesa Santa Maria Novella mit dem berühmten Trinitätsfresko von Massacio. Wer mit dem Auto nach Florenz fährt, dem ist vielleicht die pittoresk geformte Chiesa dell'autostrada del sole aufgefallen. Die aus großen, grob behauenen Steinen gemauerte Kirche befindet sich bei Campi Bisenzio gleich neben der Autobahn.

Doch für Florenz und die Toskana gilt, was für Italien überhaupt gilt: Der modernen Architektur wegen fährt man nicht hin. Es zahlt sich nicht aus. Aber Achtung! In der Ausstellung „Toskana: Architektur der Moderne“ im Wiener Ringturm wird man eines Besseren belehrt. In Fiesole bei Florenz befindet sich die reich dotierte Fondazione Michelucci, die an einer Dokumentation der toskanischen Architektur des 20. Jahrhunderts arbeitet. Von den 350 bisher erfassten und auf Farbfotos exzellent abgebildeten Bauwerken hat Ezio Godoli einen Teil ausgewählt, chronologisch geordnet und mit langen, aber lehrreichen Erklärungstexten zum Thema versehen.

Wenn man in einem der Texte den Begriff Gruppo Toscano erblickt, so könnte man meinen, es handle sich um eine kämpferische Untergruppe der Toskana-Fraktion. Mitnichten. Gruppo Toscano waren jene jungen Architekten, die Giovanni Michelucci 1931 um sich geschart hatte, um gemeinsam in der konservativen und selbstverliebten Toskana jene neue italienische Architektur durchzusetzen, die Rationalismo genannt wurde.

Rationalismo war eine faschistische, spezifisch italienische Abart des westeuropäischen Funktionalismus, beziehungsweise des sowjetischen Konstruktivismus - international verbreitete Richtungen, die als links galten. Daher wurden sie Internationaler Stil genannt bzw. beschimpft. Das spezifisch Italienische wurde als Italinità bezeichnet. Wiewohl konkret kaum fassbar, war es als Leitbild und Maßstab für ganz Italien gültig. Das passte der Gruppe um Michelucci nicht. Sie strebte Toskanità an.

Gruppo Toscano war ein programmatischer Name. Eine Architektur-Schule. Wie die Wagnerschule in Österreich-Ungarn. Oder die Grazer Schule in der Steiermark. Die Protagonisten der Gruppo Toscano wollten Architektur durchsetzen, die nicht nur radikal neu, sondern auch der Tradition verpflichtet war. Derartige Vorhaben, das lehrt die allgemeine Architekturgeschichte, waren zahlreich und kurzlebig, die Resultate fragwürdig.

Auch in der Toskana war das nicht anders, wie man in der Ausstellung sieht. Heutzutage nennt man es Regionalismus. Michelucci, der - falls überhaupt - kein glühender Faschist war, ging es ausschließlich um die toskanische Tradition. Er nannte sie Toskanità und meinte damit nicht nur Bau-, sondern auch Lebensformen. Toskana als Weltanschauung. Seine Toskanità war mehr als eine regionale Abart der Italianità, die vor allem ein politisches Programm darstellte. Sie war deren Gegensatz.

Unter dem Namen Gruppo Toscano gewann Michelucci zusammen mit Baroni, Berardi, Camberini, Guarnieri und Lusanna 1933 den Wettbewerb für den Bau eines neuen Hauptbahnhofs in Florenz. Der nominierte Entwurf wurde zum Anlass, den meist latent geführten Machtkampf zwischen den beiden Hauptfraktionen der italienischen faschistischen Architektur, den Modernisten und den Klassizisten, öffentlich auszutragen. Nachdem die Auseinandersetzung in eine ausweglose Pattsituation geraten war, rief man den Duce als oberste Geschmacksinstanz des faschistischen Staates zu Hilfe. Der intellektuell veranlagte Diktator entschied für die Gruppo Toscano. In einer Rekordbauzeit von nur zwei Jahren war der Bahnhof samt den ungemein komplizierten bahntechnischen Anlagen fertig gestellt.

Seine außerordentliche Bedeutung erlangte der Bau aber nicht wegen des historischen Stadtbildes und auch nicht wegen der Eitelkeiten der Avantgarde. Was für Hitler die Autobahnen und für Stalin die Schifffahrtskanäle, das waren für Mussolini die Eisenbahnen. Die schnell und pünktlich zwischen den modernen Bahnhöfen fahrenden Züge stellten das sichtbare und für die Italiener ummittelbar fassliche Sinnbild des erfolgreichen Faschismus dar. Mehr hatte er ohnehin nicht zu bieten.

Die Direttissima, die neue, direkte Verbindung zwischen Bologna und Florenz durch die neuen Tunnel des Apennins, verkürzte die Fahrtzeit von mehr als vier auf nur zwei Stunden. Sie benötigte einen entsprechenden, auf die Zukunftsbezogenheit des Faschismus hinweisenden architektonischen Ausdruck. Diese kulturpolitischen Aspekte sind längst vergessen. Heutzutage gilt der Bahnhof von Florenz als ein seltenes Beispiel für die restlos gelungene Synthese der alten und neuen Architektur. Darüber hinaus zählt er zu den bedeutendsten Bauten der Weltarchitektur im 20. Jahrhundert. Vielleicht deswegen kann man sein Foto in der Ausstellung so schwer finden.

Obwohl die Ausstellung eine Hommage an Michelucci ist. Giovanni Michelucci (1891-1990) hat lange gelebt - nur zwei Tage fehlten ihm, um am 2. Jänner 1990 seinen hundertsten Geburtstag feiern zu können - und baute bis ins hohe Alter. Die Toskana konnte auf seine einzigartige anregende Begabung nicht verzichten: Die Ponte alle Grazie (1957, mit Edoardo Detti), die Neugestaltung der Uffizien (1970, mit Carlo Scarpa und Ignazio Gardella), die Chiesa dell´autostrada del sole (1973-83) und viele andere Bauten bezeugen dies.

Dem aufmerksamen Ausstellungsbesucher fällt auf: So wie zuvor das Liberty, der italienische Jugendstil, hatte später auch der Rationalismo in der Toskana keine nennenswerten Auswirkungen gehabt. Die wahre Toskanità, auch Schule von Toskana genannt, waren Michelucci und einige seiner Schüler und Jünger, vor allem Edoardo Detti (1913-1984), Leonardo Ricci (1918-1994) und Leonardo Savioli (1917-1982). Diese Schule ist erst in den Fünfzigerjahren entstanden. Den besonders aufmerksamen Besuchern fallen die Ähnlichkeiten mit der frühen Grazer Schule und deren Vorlieben für pittoresk expressionistische Formen auf.

Also Achtung: Die Ausstellung regt nicht nur zu einer neuen Reise in die Toskana an, sondern auch zum Nachdenken über die Grazer Schule, die Architektur-Schulen insgesamt, die Regionalismen, den Internationalismus der Regionalismen, die Sozialdemokraten, die Globalisierung ...

Toskana: Architektur der Moderne: bis 3.10. im Ausstellungszentrum im Ringturm (1., Schottenring).

Publikationen

2004

PPAG 2. Hofmöblierung MuseumsQuartier Wien

Ein Kunsttheoretiker, ein Wortkünstler, ein Architekturpublizist, ein Mathematiker und ein Redakteur reflektieren über die Enzis, die Hofmöblierung des Museumsquartier Wiens. Und so wird in diesem Büchlein notiert, dass Design doch Kunst ist, „die sich nützlich macht“ (Johannes Grenzfurthner), dass
Hrsg: PPAG, Anna Popelka, Georg Poduschka
Autor: Jan Tabor, Johannes Grenzfurthner, Ferdinand Schmatz, Rudolf Taschner, Christopher Wurmdobler