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28. Juni 2019 TEC21

Der Cengalo – Prüfstein fürs Bergell

Nach einem Bergsturz stiessen im August 2017 mehrere Murgänge bis in den Talboden bei Bondo vor. Monatelang bestimmte das Naturereignis das Leben der Menschen im Bergell. Nun werden ­wichtige Weichen neu gestellt.

Eigentlich war man im Bergell gut vor­bereitet. Aber nicht auf das, was im ­August 2017 geschah. Die seltene Verkettung von Naturereignissen überraschte damals alle: Fachleute und Wissenschaftler – und auch die Bergellerinnen und Bergeller. Am 23. August 2017 stürzte aus der ­Nordostwand des Pizzo Cengalo ein Felsvolumen von etwa 3 Mio. m3 ab (die Cheopspyramide in Ägypten hat ein Volumen von 2.6 Mio. m3). Die Wucht des Aufpralls erodierte am Fuss der Wand das Eis eines kleinen ­Gletschers.

Bereits 30 Sekunden nach der Ablagerung bewegte sich ein sogenannter Schuttstrom, ein zähflüssiger Murgang, mit etwa 8 m/s durch die Val Bondasca. Ein Teil davon durchfloss die enge Schlucht am Ende des Seitentals und erreichte knapp 20 Minuten nach dem Bergsturz Bondo. Bis am Abend folgten sieben flüssige Murgänge mit einem Gemisch aus Steinen, Blöcken und Geröll. Dieses lagerte sich im Gebiet ab, wo die Bondasaca sich unter der Umfahrungsstrasse hindurchzwängt und in die Maira, den Hauptfluss des Bergells, mündet.

Erstaunlich war, dass aus dem Bergsturzmaterial unverzüglich ein Schuttstrom entstand – eine bisher äusserst selten beobach­tete Verkettung von Naturereignissen. Und das alles an einem schönen Tag ohne einen Tropfen Regen.

Mai 2019: Die Bergeller Berge sind in Nebel ­g­ehüllt. Auch der Pizzo Cengalo zuhinterst in der Val Bondasca an der Grenze zu Italien. Sind starke Niederschläge angekündigt, kommt bei vielen Menschen im Bergell ein mulmiges Gefühl auf. Denn am Fuss des Cengalo und in der Val Bondasca liegt immer noch sehr viel Material. Wird es mobilisiert, stossen gewaltige Murgänge möglicherweise wieder bis in den Talboden vor.

Ein Weckruf im Sommer 2012

Im Bergell gab es in den letzten hundert Jahren immer wieder Hochwasser. Eines der schlimmsten ereignete sich 1927. Die Maira zerstörte Brücken im Tal, auch die Bondasca führte reichlich Geschiebe mit sich. Murgänge aus der Val Bondasca sind jedoch keine dokumentiert. Erst als sich am 27. Dezember 2011 ein erster Bergsturz mit einem Volumen von 1.5 Mio. m3 am Cengalo ereignet hatte, bildete sich im Sommer 2012 nach Starkniederschlägen eine Geröll- und Schlammlawine, die bis ins Haupttal vorstiess. Damals musste der Campingplatz am Ufer der Bondasca evakuiert werden. Der Murgang war ein Weckruf für die Behörden im Bergell. Zusammen mit den Fachleuten des Kantons leiteten sie diverse Massnahmen ein: Seit 2013 ist ein Murgangalarmsystem in Betrieb, und bis 2015 wurde ein Auffangbecken mit einem Fassungsvermögen von bis zu 200 000 m³ gebaut.

Die Realisierung des Auffangbeckens vor fünf Jahren sorgte vor allem in Bondo selbst für Diskussionen. Dessen Bau benötigte viel Land und war ein massiver Eingriff ins Landschaftsbild direkt neben dem Dorf. Nicht wenige empfanden das Schutzbautenprojekt als überrissen. Die Stimmberechtigen der Gemeinde Bregaglia bewilligten es jedoch. Somit wurde in Bondo ein Risikomanagement nach dem damaligen Stand des Wissens umgesetzt.

Die Ereignisse vom August 2017 sprengten jedoch alle Vorstellungen. Am Abend des 23. August 2017 lagen im und um das Auffangbecken herum etwa 220 000 m³ Material. Zwei Tage später folgte ein weiterer Murgang bei schönem Wetter, bevor am 31. August 2017 – ausgelöst durch Starkniederschläge – noch einmal 260 000 m³ Material bis nach Bondo gelangten. Insgesamt waren es rund eine halbe Million Kubikmeter.

Das Frühwarnsystem erfüllte seinen Zweck: Die Ampeln der Verkehrswege stellten umgehend auf rot, und die Einsatzkräfte begannen unverzüglich mit der Evakuierung von Bondo. Im Talboden kamen keine Menschen zu Schaden. Doch acht Alpinisten, die sich auf dem Abstieg von der Sciora-Hütte im hinteren Teil der Val Bondasca befanden, wurden von den Geröllmassen überrascht und werden seither vermisst.

Zunächst vermutete man einen Fehlalarm

Als die Alarmanlage an einem sonnigen Vormittag einen Murgang anzeigte, dachten alle alarmierten Personen zuerst an einen Fehlalarm. Sie wussten zwar aufgrund der neuesten Radarmessungen, dass sich die Felsen am Cengalo seit einigen Wochen schneller bewegten. Man rechnete mit einem baldigen Abbruch und hatte die Warntafeln in der Val Bondasca angepasst. Marcello Crüzer, der Leiter der Bauverwaltung im Bergell, fuhr sofort nach Bondo. Dort war die Evakuierung bereits angelaufen.

Beim Ausgang der Schlucht traf er auf Andrea Giovanoli, der als Revierförster im Bergell die Gemeinde als lokaler Naturgefahrenberater unterstützt. Er war dabei, das grosse Schiebetor bei der alten Brücke, die Bondo mit Promontogno verbindet, zu schliessen. Dieses Tor soll verhindern, dass mit der Bondasca mitgeführtes Material Schäden im Dorf anrichtet. «Das Wasser war sehr schmutzig», erinnert sich Andrea ­Giovanoli. «Uns war klar, jetzt passiert etwas, mit dem wir so nicht gerechnet haben.»

Er informierte Martin Keiser, den für das Bergell zuständigen Regionalforst­ingenieur beim kantonalen Amt für Wald und Natur­gefahren Südbünden, über die Situation in Bondo und organisierte für ihn einen Helikopter in Samedan. ­Wenige Minuten später flog Keiser ins Bergell. Er wies den Piloten an, sogleich zum Cengalo zu fliegen, um einen ersten Überblick zu erhalten. Rasch war ihm klar, dass sehr viel Fels abgebrochen war.

Zahlreiche Videodokumente zeigen, wie die Zerstörung im Talboden am ersten Tag ihren Lauf nahm. Der erste zähflüssige Schuttstrom blieb beim Kegelhals im obersten Teil des Auffangbeckens stecken. Wenig später folgte der erste flüssige Murgang, drohte bei der alten Brücke Richtung Bondo auszubrechen, zerstörte einige Ställe und die alte Mühle, drückte das geschlossene Tor von der Dorfseite ein und ergoss sich – glücklicherweise – schliesslich in das Auffangbecken.

Am zweiten Tag blieb es relativ ruhig. Die alte Brücke war beschädigt, wurde aber nicht mitgerissen. Als ­Engstelle stellte sie jedoch ein Risiko dar, weshalb man sie eilig abriss. Marcello Crüzer begann, schwere Baumaschinen für die Räumung aufzubieten.

Am dritten Tag erreichte ein nächster Murgang den Talboden und richtete weitere Schäden an. Damit war auch klar, dass die Bewohner von Bondo längere Zeit nicht ihre Häuser zurückkehren konnten. Knapp 150 Personen waren evakuiert, rund 10 Prozent der Bevölkerung im Bergell. Die meisten fanden bei Verwandten oder Bekannten Unterschlupf. Zerstört wurden alte Gebäude wie auch einige neuere Liegenschaften, die in den 1970er-Jahren erstellt wurden. Bis 2012 befanden sich diese Häuser in keiner Gefahrenzone.

Die Verkehrsverbindungen waren stark eingeschränkt. Die Umfahrungsstrasse blieb mehrere Wochen gesperrt. Die alte Kantonsstrasse auf der rechten Talseite war die Hauptverbindung und für die Einsatzkräfte zentral. Der letzte Murgang vom 31. August 2017 stiess bis zum Gegenhang vor und überschüttete auch sie. Es dauerte sieben Tage, bis die Strasse geräumt und wieder passierbar war.

Das grosse Aufräumen

Hohe Priorität hatte die Räumung des Auffangbeckens. Sie konnte aber nur erfolgen, wenn die Sicherheit der Arbeiter gewährleistet werden konnte. Der erste ­Schuttstrom zerstörte das Murgangalarmsystem in der Val Bondasca. Bis das automatische Warnsystem wieder einsatzfähig war und ein sogenannter Georadar die absturzgefährdete Flanke am Cengalo auch während der Nacht überwachte, übernahmen Beob­achtungs­posten diese Funktion: zunächst Gemeinde­angestellte,

Mitglieder der alpinen Rettung im Tal und der Feuerwehr, später auch Armeeangehörige. Diese Wachposten hatten die Aufgabe, über Funk zu warnen, sollten erneut Murgänge bis ins Tal vorstossen. Im Auffang­becken wieder­um waren Zivilschutzleistende in ständigem Sichtkontakt mit den Bagger- und Dumperfahrern, um diese, wenn nötig, aus dem Gefahrenbereich herauszuwinken. Die Vorwarnzeit betrug je nach Wetter zwischen zwei und vier Minuten. Nach Wiederinstand­stellung und Ausbau des automatisierten Frühwarn- und Alarmsystems konnte schliesslich auch nachts gearbeitet werden. Zwölf grosse Bagger und 15 Dumper standen bei der Räumung des Beckens im Einsatz. ­Dabei ereignete sich kein einziger Personen­unfall.

Wo aber soll in einem Tal, das über nur wenig ebene Flächen verfügt, so viel Material deponiert werden? Fast eine halbe Million Kubikmeter Material lag im und um das Auffangbecken. «Bereits am zweiten Tag haben wir auf einer nahen Fläche angefangen, den Humus abzutragen, um Platz für ein Zwischendepot zu schaffen», sagt Fernando Giovanoli, der Vize-Gemeinde­präsident. «In Absprache mit einem Vertreter des Amts für Natur und Umwelt haben wir rasch und unbüro­kratisch einen Standort für die definitive Deponie bestimmt.» Diese liegt etwas talauswärts, kann maximal 700 000 m³ Material aufnehmen und fügt sich erstaunlich gut ins Landschaftsbild ein.

Eine grosse Herausforderung war die Wiederherstellung der kommunalen Infrastruktur. Weil die Wasserfassungen der Quellen von Bondo in der Val Bondasca zerstört waren, musste eiligst eine neue Wasserleitung von Stampa nach Promontogno gebaut und von dort provisorisch über die Bondasca nach Bondo geführt werden. Die Armee stellte talabwärts eine Notbrücke auf, um bei einer erneuten Sperrung der Hauptzufahrt eine sichere Zufahrt nach Bondo zu gewährleisten.

Am 14. Oktober 2017 konnten die Menschen in ihre Häuser zurückkehren. Für zehn Personen war dies jedoch nicht möglich, weil ihre Häuser entweder zerstört waren, nicht mehr bewohnt werden durften oder der Platz später für die neuen Schutzbauten benötigt wird. Elf Wochen nach dem ersten Murgang war das Rückhaltebecken geleert. Die beschädigte Umfahrungstrasse ist am 24. November 2017 wieder geöffnet worden.

Die provisorische Hängebrücke verbindet

Bereits an einer Informationsveranstaltung Ende 2017 äusserten Einwohner von Bondo den Wunsch nach einer provisorischen Verbindung nach Promontogno, als Ersatz für die alte Brücke. «Es war unser erstes Projekt», sagt Marcello Crüzer. Nach der Bewilligung durch die Gemeindeversammlung wurde die Hängebrücke nach einem Monat im April 2018 bereits eingeweiht. An beiden Seiten befindet sich ein Lichtsignal, auf der Seite von Bondo auch eine Sirene, die an das automatische Alarmierungssystem angeschlossen sind.

Einen weiteren Bergsturz am Cengalo kann niemand ausschliessen. Die Schutzbauten sind provisorisch wiederhergestellt. Die Dämme sind etwas höher ausgebildet, das Rückhaltebecken kann bis zu 300 000 m³ Material aufnehmen. Das Frühwarnsystem ist suk­zessive ausgebaut worden. Neben dem Georadar zur Überwachung der Flanke des Cengalos stehen an zwei Stellen in der Val Bondasca je ein Pegelradar zur Erfassung des Wasserspiegels sowie eine Kamera zur Verfügung. An der oberen Überwachungsstelle befinden sich zudem drei Seismometer zur Detektion von Erschütterungen.

Die Kosten für die Überwachung betragen rund 250 000 Franken pro Jahr. «Das Alarmsystem ist bis Ende 2019 bewilligt», sagt Martin Keiser. Momentan werde abgeklärt, welche Anforderungen das Früh­warnsystem in den nächsten Jahren zu erfüllen habe. Solange die Prozesse, die nach dem Felsabbruch zur teilweisen Verflüssigung des Bergsturzmaterials mit nachfolgendem Murgang geführt haben, nicht besser verstanden sind, wird ein umfassendes Warnsystem inklusive der teuren Radarüberwachung der Flanke des Cengalos unumgänglich sein.

Schutzbauten und Gestaltungswettbewerb

Derzeit wird ein neues Schutzbautenprojekt ausgearbeitet, bei dem das kantonale Tiefbauamt die Federführung innehat. Die geschätzten Kosten liegen bei rund 23 Mio. Fr. Wie alle Naturgefahrenprojekte, die vom Bund unterstützt werden, muss auch dieses die Anforderungen an das Kosten-Nutzen-Verhältnis erfüllen.

Ende 2018 lancierte die Gemeinde Bregaglia einen Gestaltungswettbewerb für die landschaftliche Einbindung der neuen Schutzbauten unter Berücksichtigung des national geschützten Ortsbilds von Bondo. «Zentrales Element sind die drei Brücken», erläutert Fernando Giovanoli. Die Umfahrungsstrasse sowie die zentrale Brücke über die Maira liegen nach heutigem Kenntnisstand zu tief. Die neue Brücke anstelle der provisorischen Hängebrücke am Ausgang der Schlucht ist von elementarer Bedeutung für die direkte Verbindung zwischen Bondo und Promontogno. «Nach den turbulenten letzten zwei Jahren ist es nun wichtig, dass wir uns für die nächsten Entscheide etwas Zeit lassen», sagt der Vize-Gemeindepräsident. Vom Gestaltungswettbewerb erhofft sich Giovanoli, der als selbstständiger Architekt in Soglio ­tätig ist, nicht nur eine überzeugende Lösung, sondern auch Rückendeckung für deren Umsetzung.

Der Schaden der Ereignisse vom August 2017 wird auf rund 41 Mio. Franken geschätzt. Darin sind die indirekten Kosten nicht berücksichtigt. So hat etwa der Tourismus 2017 und 2018 Einbussen erlitten. Rechtzeitig für den Sommer 2019 sind einige Wege in der unteren Val Bondasca wieder geöffnet. Zur SAC-Hütte Sasc Furä, beliebt bei Bergsteigern als Ausgangspunkt für den Pizzo Badile, den Nachbar des ­Cengalo, wird derzeit ein neuer Weg gebaut. Die Sciora-Hütte bleibt hingegen bis auf Weiteres geschlossen.

Setzt der Cengalo neue Massstäbe?

Die Ereignisse von Bondo werden den künftigen Umgang mit Naturgefahren im Berggebiet beeinflussen. «Wir wissen jetzt, dass auch in den Alpen ein Bergsturz auf Gletschereis zu Murgängen führen kann», sagt Arthur Sandri von der Abteilung Gefahrenprävention des Bundesamts für Umwelt. «Andere Orte, wo etwas Ähnliches passieren kann und Schäden entstehen können, müssen wir nun identifizieren.» Ein vom Bund im Rahmen der Anpassung an den Klimawandel gefördertes Projekt fokussiert auf die zukünftigen Gefahren und Risiken aus gefrorenen Felswänden im Wallis. Laut Sandri sollte sich die dort entwickelte Methode später auf den gesamten Alpenraum anwenden lassen.

Nach fast zwei Jahren ist im Bergell ein bisschen Normalität eingekehrt. Wie die Verantwortlichen und die Menschen mit den Naturgewalten, die über das Tal hereinbrachen, umgegangen sind, beeindruckt.

Die nach der Naturkatastrophe eingegangenen Spenden in Höhe von 14 Mio. Franken zeugen schweizweit von einer grossen Solidarität. Der Kanton hat eine ­Kommission gebildet, um eine gerechte Verteilung der Spenden zu gewährleisten. Auch die Gemeinde profitiert davon, denn sie ist in den kommenden Jahren ­bei den Schutzbaupro­jekten mit hohen Restkosten ­konfrontiert. Doch einiges an Ungewissheit bleibt. Wie ein Damoklesschwert schwebt der Cengalo über allem. Der Berg ist und bleibt unberechenbar.

Steinschlag: Absturz von einzelnen Steinen mit Durchmessern von höchstens 0.5 m
Blockschlag: Absturz einzelner Blöcke mit Durch­messern > 0.5 m und einem Absturzvolumen unter 100 m³
Felssturz: Absturz einer Felsmasse zwischen 100 m³ und 1 Mio. m3
Bergsturz: Abbruchvolumen > 1 Mio. m3
Erdrutsch: hangabwärts gerichtete Bewegung von Gesteinsmassen auf einer Gleitfläche

28. Juni 2019 Daniela Dietsche
TEC21

«Eine Periodizität gibt es nicht»

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

TEC21: Herr Wilhelm, wo waren Sie am 23. August 2017? Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vom Bergsturz in Bondo erfahren haben?
Christian Wilhelm: Ich war mit der Fachgruppe Naturgefahren im Wallis. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag: Sonnenschein und blauer Himmel in der ganzen Schweiz. Dann vernahm ich von meinen Mitarbeitern, der Cengalo sei gekommen. Ich bin direkt nach Chur gefahren. Als ich ins Sitzungszimmer kam, liefen schon die ersten Filme. Sie zeigten einen trockenen Schuttstrom, der Bondo erreicht und die ersten Gebäude zerstört hatte. Es war unglaublich. Ich bin umgehend ins Bergell gereist, um mich mit unserem Spezialisten vor Ort abzustimmen. Am ersten Abend sprach die Kantonspolizei von 14 Vermissten. Eine Gruppe tauchte glücklicherweise am nächsten Tag in Italien auf. Acht Alpinisten werden leider heute noch vermisst.

TEC21: Hat Sie das Ereignis überrascht?
Christian Wilhelm: Vom unmittelbaren Schuttstrom und den Murgängen ohne Niederschläge waren wir alle sehr überrascht. Beim Cengalo gingen wir hingegen davon aus, dass sich ein Abbruch in den kommenden Wochen und Monaten ereignen kann. Darauf deuteten die letzten Messergebnisse zu den Felsbewegungen aus der Ferne vom Sommer 2017 hin. Zwei Tage vor dem Bergsturz ereignete sich ein Felssturz aus der Nordwestflanke. Dieser Sturz war nicht überraschend. Der Ausbruchbereich war sehr aufgelöst, und das wurde auch erkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ähnlich abgelaufen wie in den Vorjahren.

TEC21: Der fatale Bergsturz löste sich dann aber aus der Nordostflanke. Ohne Vorwarnung?
Christian Wilhelm: Ja, der schlagartige Ausbruch von rund 3 Mio. m3 kam sehr überraschend. In der Regel kündigen sich grosse Bergstürze mit Vorabbrüchen an. Das war hier nicht der Fall. Wir diskutierten nachher über unseren Blick auf den Cengalo. Es war, als wäre der Berg wie ein Zug unterwegs. Wir sahen ihn über die Jahre, aber er erhöhte plötzlich sein Tempo. Von unserer Position aus und aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir dies so nicht wahrgenommen.

TEC21: In neun Tagen lagerten sich in Bondo rund 500 000 m³ Material ab. Sind Ihnen ähnliche Ereignisse aus der Schweiz bekannt?
Christian Wilhelm: 2002 gab es infolge starker Unwetter im ganzen Kanton zahlreiche Murgänge. Die grössten brachten in fünf bis sieben Schüben ca. 50 000 bis 70 000 m³ Material. In Bondo sprechen wir von einer anderen Grössenordnung. Etwas Vergleichbares habe ich 2005 in Guttannen im Berner Oberland gesehen. Auch dort stiessen Kubaturen bis 500 000 m³ in den Talboden vor, allerdings nach Starkniederschlägen. Solche Erosionsgräben hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Damals habe ich realisiert, dass die Situation im Hochgebirge sensibler geworden ist.

TEC21: Was hatte in Bondo Priorität, nachdem die ersten Tage überstanden waren?
Christian Wilhelm: Zunächst ist es wichtig, dass man sich gegenseitig unterstützt und die Chaosphase gemeinsam bewältigt. Unsere Spezialisten waren vor allem mit der Gefahrenbeurteilung beauftragt. Die Bedrohung war ja immer noch da. Wir mussten die Arbeiter bei den Räumarbeiten schützen. Um längere Vorwarn­zeiten zu haben und auch während der Nacht arbeiten zu können, überwachten wir den Cengalo mit einer permanenten Radaranlage. Auch das zerstörte Frühwarnsystem musste schnell wieder auf- und ausgebaut werden.

TEC21: In welchem finanziellen Rahmen liegt das Frühwarnsystem in Bondo?
Christian Wilhelm: Das bewegt sich bei etwa 250 000 Fr. pro Jahr. 80 Prozent der Kosten tragen Bund und Kanton, den Rest teilen sich die Gemeinde und das kantonale Tiefbauamt. Wir benötigen dieses Frühwarnsystem, weil wir die entscheidenden Faktoren, die nach einem Bergsturz einen Schuttstrom auslösen – so wie in Bondo geschehen –, noch nicht kennen. Und ein erneuter Bergsturz ist nicht auszuschliessen. Zudem kann das Auffangbecken im Extremfall gar nicht das ganze Material aufnehmen.

TEC21: Wie hoch sind die Kosten der Frühwarnsysteme im ganzen Kanton im Vergleich zu den Investitionen in Schutzbauten?
Christian Wilhelm: Für klassische Bauten zum Schutz vor Lawinen, Rutschungen und Steinschlag sowie den Bachverbau investieren Bund, Kanton, Gemeinden und Nutzniesser insgesamt etwa 20 bis 22 Mio. Fr. pro Jahr. Für Wasserbauprojekte kommen noch einmal 6 bis 8 Mio. Fr. dazu. Der Unterhalt und Betrieb der Frühwarnsysteme beläuft sich auf etwa eine halbe Million Franken. Doch diese Aufwendungen nehmen eindeutig zu. Wenn moderne Technolo­gien wie Radar und Webcams zur Verfügung stehen, möchte man sie auch nutzen. Das bringt neue Möglichkeiten, schafft aber auch Abhängigkeiten.

TEC21: In Bondo sind die baulichen Schutzmassnahmen erst wieder provisorisch erstellt. Was sind die ­nächsten Schritte?
Christian Wilhelm: Das Auffangbecken ist geräumt, die Dämme wurden erhöht. Jetzt geht es darum, das definitive Schutzbautenprojekt auszuarbeiten. Die Gefahrenbeurteilung haben wir zusammen mit Ingenieur­büros durchgeführt. Für das Bauprojekt ist die Abteilung Wasserbau zuständig. Der Baubeginn ist für 2021 vorgesehen. Sobald die neuen Schutzbauten erstellt sind, werden das Frühwarnsystem angepasst und die ver­bleibende Gefährdung in Bondo durch die Gefahrenkommission neu beurteilt. Diese Abstimmung bezeichnen wir als integrales Risikomanagement.

TEC21: Welche Schwierigkeiten bereitete die Gefahren­beurteilung?
Christian Wilhelm: Für die Erstellung der Gefahrenkarte ­«Wasser» für den jetzigen Zustand waren die Eingangsgrössen teils nur schwer abschätzbar. Für die Eintretenswahrscheinlichkeit nicht periodischer Ereignisse mussten auch Annahmen getroffen werden. Zudem führten mögliche Ereignisverket­tun­gen zu einer Vielzahl von Szenarien. Bei Bergstürzen muss man Abschätzungen und Annahmen mit sehr grossen Unsicherheiten treffen. Eine Periodizität am gleichen Berg ist unwahrscheinlich. Das klassische Gefahren- und Risikokonzept stösst deshalb an Grenzen. ­Grundlegend bei diesem Konzept ist, dass ein Gefahren­prozess beziehungsweise eine bestimmte Risikokonstellation wiederkehrend auftritt und dementsprechend Häufigkeiten be­ziehungsweise Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden können.

TEC21: Seit dem Bergsturz sind fast zwei Jahre vergangen. Hat der Kanton Korrekturen vorgenommen?
Christian Wilhelm: Solche Grossereignisse liefern immer neue Erkenntnisse. Im Nachgang haben wir beispiels­weise geprüft, ob die Aufgaben richtig verteilt sind, und uns die Frage gestellt, wo wir die Gemeinden noch besser unterstützen können. Das tun wir vor allem mit der Ausbildung von lokalen Natur­gefah­ren­be­ratern. Zudem werden in den Gemeinden vermehrt Notfallplanungen erarbeitet. Dieser sogenannte organisatorische Teil ist wichtiger geworden. Sehr bewährt hat sich die Expertengruppe, die wir un­mittelbar nach dem Ereignis eingesetzt haben.

TEC21: Ist es eine Option, der Natur Raum zurückzugeben?
Christian Wilhelm: Ja, das ist ein wichtiger Teil heutiger Schutzkonzepte. In Bondo wurden einzelne Gebäude, die getroffen wurden, nicht wieder aufgebaut. Gemeinde, Gebäudeversicherung und Dienststellen von Bund und Kanton haben hier gemeinsam gute Lösungen gefunden. Somit steht mehr Raum für das Schutzbautenkonzept, aber auch für die Natur zur Verfügung.

TEC21: Die Polizei hat nach den Ereignissen in Bondo ­Ermittlungen aufgenommen. Was ist der Stand der laufenden Untersuchung?
Christian Wilhelm: Kommt es bei einem Naturgefahrenereignis zu Todesfällen, so wird von Amts wegen eine Untersuchung eingeleitet. Dies bot uns die Gelegenheit, die Arbeiten der letzten Jahre umfassend zu dokumentieren. Darin haben wir unter anderem dargelegt, was wir als kantonale Fachstelle zu welchem Zeitpunkt wussten und was nicht. Die Dokumentation ist derzeit bei der Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet auch, ob sie ein Verfahren eröffnet oder die Untersuchung einstellt.1

TEC21: Wo zeichnen sich die nächsten Herausforderungen im Bereich Naturgefahren im Kanton ab?
Christian Wilhelm: Momentan beschäftigt uns eine Rutschung in Brienz im Albulatal sehr. Betroffen sind auch die Kantonsstrasse und die RhB-Linie zwischen Tiefencastel und Filisur. Mit Bohrungen klären wir derzeit ab, wie tief die Rutschflächen liegen. Brienz droht nicht nur abzurutschen, es ist auch durch eine ­Sackung oberhalb des Dorfs bedroht. Die Situation wird seit einiger Zeit ebenfalls permanent überwacht. Die Gemeinde und der Kanton bereiten sich auf verschiedenste Szenarien vor.

28. Juni 2019 TEC21

Felsabbruch mit Folgen

In Preonzo bedrohten abstürzende Felsmassen die am Hangfuss liegende Industriezone. Der Kanton Tessin lancierte 2012 ein Projekt, das eine freiwillige Umsiedlung der gefährdeten Betriebe und eine Auszonung des Gebiets umfasst.

In den 1960er-Jahren standen die Zeichen auf Wachstum. Die Industrie und das Gewerbe benötigten mehr Raum. So auch in Preonzo zwischen Biasca und Bellinzona. Als sich dort Gewerbe- und Industriebetriebe niederliessen, erkannte man die Gefahr noch nicht. Doch 1990 entdeckten Geologen auf der Alpe di Ròscera direkt oberhalb der Industriezone erste Risse im Gelände. In der Folge baute der Kanton Tessin ein Überwachungssystem auf. Im Fels installierte Instrumente messen seither die Hangbewegungen an der Abbruchstelle.

2002 und 2010 ereigneten sich zwei kleinere Felsstürze. Zur Überwachung der ganzen Bergflanke aus sicherer Distanz ist 2012 auch ein Georadar installiert worden. «Diese Methode ist sehr nützlich bei aktiven Geländebewegungen und wenn Entscheide rasch zu fällen sind, etwa die Evakuierung von Personen», sagt Lorenza Re, Geologin bei der Sezione forestale beim Kanton Tessin. Die Situation spitzte sich im Mai 2012 weiter zu. Die Kantonsstrasse und das Gebiet wurden gesperrt. In den Betrieben standen die Maschinen still. Nur zwei Tage später stürzten insgesamt 300 000 m³ Fels ins Tal. Schäden gab es glücklicherweise keine.

Permanente Überwachung

Durch die Entlastung des Abbruchs beruhigte sich die Situation am Berg wieder. Die permanenten Ra­darmessungen wurden daraufhin eingestellt. Die ­Überwachung des Hangs erfolgt derzeit durch neun Extensometer an der Abrisskante und 14 geodätische Messpunkte, deren Bewegungen aus der Distanz durch einen Theodoliten kontinuierlich erfasst werden. Die Kosten belaufen sich auf 20 000 bis 25 000 Franken pro Jahr.

Die registrierten Felsbewegungen liegen seit dem Abbruch in der Regel unter einem Zentimeter pro Jahr und somit wieder im Bereich der Jahre 1990 bis 2000. «Einzig die Felsen am äussersten Rand bewegen sich einige Dezimeter und in einem Fall mehr als einen Meter pro Jahr Richtung Tal», sagt Lorenza Re. Die Fachleute gehen davon aus, dass ein nächster Felsabbruch 30 000 bis 50 000 m³ umfassen könnte.

Fünf Jahre nach dem Felsabbruch 2012 liess der Kanton die Abbruchstelle im Winter 2017/2018 während sechs Monaten zur Kontrolle erneut mittels Georadar permanent überwachen. Laut Lorenza Re zeigten die Radarmessungen keine Abweichungen von den im Hang installierten Messinstrumenten. Bleibt die Situation unverändert, so ist vorgesehen, in etwa fünf Jahren eine nächste Radarmessung durchzuführen. Die Kosten dafür betragen rund 30 000 Franken.

Anreize für eine freiwillige Umsiedlung

Die Lage ist aber weiterhin unberechenbar und kann sich rasch wieder zuspitzen. Nach dem Felssturz und der Evakuierung der Industriezone im Mai 2012 stellte sich die Frage, wie es dort weitergehen soll. Im April 2013 be­willigte die Tessiner Kantonsregierung den Plan einer freiwilligen Umsiedlung der in Preonzo ansässigen ­Betriebe in die bestehenden Industriearale in Castione und Carasso. Das Kantonsparlament stimmte dem ­Kredit zu. Bund und Kanton beteiligten sich dabei mit 70 % an den Kosten von knapp 13 Mio. Franken. Bedingung dafür war, dass die Betriebe im Kanton Tessin bleiben.

«Wir stützten uns bei der Umsiedlung der Industrie­zone auf die eidgenössische Waldverordnung ab», sagt Roland David, der den Tessiner Forstdienst leitet. In dieser ist im Artikel 17 festgehalten, dass die Sicherung von Gefahrengebieten auch die Verlegung gefährdeter Bauten und Anlagen an sichere Orte umfasst. Projekte, die solche Massnahmen vorsehen, können somit durch den Bund und die Kantone finanziell unterstützt werden. Von den insgesamt sieben Betrieben nahmen in Preonzo fünf das Angebot an und haben inzwischen die Industriezone verlassen.

Ein weiterer Betrieb, der sich am Rand des gefährdeten Gebiets in der blauen Zone befindet, wird wahrscheinlich in einer zweiten Phase ebenfalls wegziehen. Die letzte noch verbleibende Firma benötige viel Platz und habe vor wenigen Jahren auch in die Erneuerung der Produktionsanlagen investiert, erläutert Roland David. Ein erneuter Betriebsunterbruch werde momentan in Kauf genommen. Die Industriezone von Preonzo wird aber möglicherweise mittelfristig ganz aufgehoben. Dann müsste auch die letzte Firma die Produktion dort einstellen und an einen anderen Standort umziehen.

Der Rückbau der nicht mehr benötigten Bauten in der Industriezone ist Teil des gesamten Projekts. Das Areal wird künftig als Landwirtschaftsland genutzt, auf einem Teil wächst Wald auf. Im Rahmen des Integralen Risikomanagements könne eine Umsiedlung und ein Rückbau in gewissen Fällen die beste Lösung sein, sagt Roland David. Seiner Ansicht nach werde dieser Ansatz aber nur punktuell zur Anwendung kommen, wenn keine technischen Schutzmassnahmen möglich seien oder wenn diese sehr teuer wären.

Im Tessin gibt es jedoch ein weiteres prominentes Beispiel: Das Eisstadion von Ambrì-Piotta, die Valascia, befindet sich in einem durch Lawinen gefährdeten Gebiet. Das Stadion wird an einen sicheren Ort verlegt. Im April 2019 erfolgte der Baubeginn für das neue Stadion auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Ambrì. Rechtzeitig für die Saison 2021/2022 soll es fertig sein.

30. November 2018 TEC21

Ein Problem verschärft sich

Die steigende Mobilität der Menschen und der globale Handel führen dazu, dass immer mehr Pflanzen- und Tierarten in neue Gebiete gelangen. Oft profitieren wir von ihnen, manchmal bereiten sie uns aber auch Probleme. Und das Thema weckt Emotionen.

Vor 60 Jahren veröffentlichte der britische Wissenschaftler Charles Elton sein Buch «The Ecology of Invasions by Animals and Plants».[1] Eindrücklich beschrieb er, was geschehen kann, wenn fremde Arten auf neue Kontinente oder abgelegene Inseln gelangen. Elton gilt als Begründer der Invasionsbiologie. Seither haben die Mobilität der Menschen und der globale Handel weiter zugenommen. Und so werden immer mehr neue Arten an neuen Orten bewusst eingeführt oder auch unabsichtlich eingeschleppt.

Das Thema beschäftigt Politik, Behörden und internationale Organisationen. Und es taucht in Lehrbüchern für Schulkinder auf. Kürzlich ist sogar ein entsprechendes Globi-Buch auf den Markt gekommen. Es trägt den neutralen Titel: «Globi und die neuen Arten».[2] Der «Blick» legte sogleich eins drauf: «Globi und die Masseneinwanderung». Und auch die NZZ am Sonntag machte mit der Überschrift «Invasion der Tiere und Pflanzen» auf den eigenen Artikel aufmerksam.

Missverständliche Begriffe

Wissenschaftlich lassen sich Phänomene rund um die Einwanderung neuer Organismen mehr oder weniger objektiv beschreiben: Neue Arten fassen Fuss, vermehren sich, verdrängen möglicherweise einheimische Arten. Ökosysteme wandeln sich und passen sich an veränderte Umweltbedingungen an. Die verwendeten Begriffe wie «Invasion» oder «Kolonisierung» sind oft emotional aufgeladen und immer wieder auch eine Quelle für Missverständnisse.

Fremdländische Sträucher und Baumarten sind nicht zwangsläufig Monster oder kaltblütige Eroberer. Im Gegenteil: Oft holte man sie wegen ihres schönen Aussehens, ihrer auffallenden Blüten oder ihres farbigen Herbstlaubs – und legte sie in Parkanlagen und Gärten an.

Als einheimische Arten werden solche bezeichnet, die natürlicherweise schon immer in einem Gebiet vorhanden waren. Neophyten hingegen sind Pflanzen, die erst nach 1492, als Kolumbus erstmals amerikanischen Boden betrat, an einen anderen Ort gelangten. Der Zeitpunkt mag willkürlich erscheinen, hat aber seine Logik, denn mit der Besiedlung der Neuen Welt nahm der Austausch zwischen Europa und Amerika laufend zu. So gelangten über den Atlantik etwa der Mais, die Kartoffel und die Tomate nach Europa. Wären diese Nutzpflanzen nicht eingeführt worden, würden heute auf unseren Menukarten Rösti oder Polenta fehlen. Viele Kulturarten gelangten mit menschlicher Hilfe aber auch schon viel früher in fremde Länder. Bereits die Römer brachten Aprikose, Pfirsich, Feige, Walnuss und Edelkastanie nach West- und Mitteleuropa. Oft ist uns gar nicht mehr bewusst, dass diese Köstlichkeiten vor langer Zeit auch einmal eingeführt wurden.[3]

Wenn heute von invasiven gebietsfremden Arten die Rede ist, so ist klar definiert, was damit gemeint ist. Als «gebietsfremd» gelten Pflanzen, Tiere, Pilze oder Mikroorganismen, die durch menschliches Zutun in Lebensräume ausserhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebiets eingebracht werden. Als «invasiv» werden diejenigen Arten bezeichnet, von denen bekannt ist oder angenommen werden muss, dass sie durch ihre Ausbreitung in der Schweiz die biologische Vielfalt, Ökosystemleistungen und deren nachhaltige Nutzung beeinträchtigen oder Mensch und Umwelt gefährden können. Damit sind zwangsläufig immer auch Bewertungen verbunden.

Fokus auf Naturschutzgebiete

Im Kanton Aargau bereiten in den Naturschutzgebieten von kantonaler Bedeutung, die eine Fläche von 2200 Hektaren bedecken, unter anderem die Amerikanischen Goldruten, das Drüsige Springkraut, das Einjährige Berufkraut und der Sommerflieder Probleme.[4] Die Arten besiedeln Flachmoore, Riedwiesen, artenreiche Magerwiesen und Ruderalflächen. In den Auen und an revitalisierten Fliessgewässern richtet sich das Augenmerk auf die Asiatischen Staudenknöteriche. Laut Norbert Kräuchi, dem Leiter Abteilung Landschaft und Gewässer, beträgt das Budget für die Bekämpfung von gebietsfremden invasiven Arten total 730 000 Franken pro Jahr. Wollte man die aktuelle Neobiota-Strategie des Kantons vollumfänglich umsetzen, wären jedoch zusätzliche Mittel von 1,3 Mio. Franken pro Jahr erforderlich.

Um den vielfältigen Herausforderungen zu begegnen, hat der Bund eine Strategie erarbeitet, die er 2016 veröffentlichte.[5] Der Umgang mit gebietsfremden Arten ist in verschiedenen Bundesgesetzen und Verordnungen geregelt. Bei der Verwendung von Pflanzen ist vor allem die eidgenössische Freisetzungsverordnung bedeutsam.[6] Sie legt unter anderem fest: Wer Organismen in der Umwelt in Verkehr bringen will, hat vorgängig die möglichen Gefährdungen und Beeinträchtigungen für den Menschen, aber auch für Tiere, die Umwelt sowie die biologische Vielfalt zu beurteilen. Aufgrund dieser Verpflichtung trägt der Inverkehrbringer auch das Risiko für spätere Schäden.

In diesem Zusammenhang ist die sogenannte Schwarze Liste relevant. Auf ihr sind Arten verzeichnet, die gemäss aktuellem Wissen Schäden verursachen. Sie wird im Auftrag des Bundesamts für Umwelt von InfoFlora, dem nationalen Daten- und Informationszentrum zur Schweizer Flora, anhand wissenschaftlicher Kriterien erstellt.[7] In der Freisetzungsverordnung sind auch einige Arten aufgeführt, mit denen der Umgang verboten ist. Aktuell sind es drei Tier- und 18 Pflanzenarten (vgl. Kasten unten). Bei den Pflanzen zählen etwa Ambrosia, der Riesenbärenklau, der Essigbaum und die Asiatischen Staudenknöteriche dazu. Eine gute Übersicht über die verbotenen Neophyten und diejenigen mit invasivem Potenzial bietet die Webseite der Branchenorganisation JardinSuisse.[8]

Gefürchtete Staudenknöteriche

Die Asiatischen Staudenknöteriche besiedeln Flussufer, wenn sie nicht samt Wurzelwerk entfernt werden. Im Winter sterben die Stengel ab, weshalb auf dem ungeschützten Boden verstärkt Erosion auftreten kann. Auch bei Grundstücksbesitzern und Baufachleuten sind Staudenknöteriche gefürchtet. Abzutragender Boden, der verbotene invasive gebietsfremde Arten enthält, muss gemäss Freisetzungsverordnung an Ort und Stelle bleiben oder fachgerecht entsorgt werden. Bei Bauprojekten kann das kostspielig sein. Muss mit Knöterich durchwachsener Boden ausgehoben werden, verursacht dies Kosten von 6000 Franken pro Are. Die Arbeitsgruppe Invasive Neobiota (AGIN) unterstützt die Kantone dabei, ihre Aufgaben im Bereich der invasiven Arten wahrzunehmen. Eine ihrer Broschüren widmet sich speziell den gebietsfremden Problempflanzen bei Bauvorhaben.[9]

Vor allem auch in Grossbritannien sorgen die Asiatischen Staudenknöteriche für hitzige Diskussionen. Die invasive Art wird von der britischen Regierung als grosses Problem eingestuft. Fred Pearce, ein englischer Umweltjournalist, gibt nun Gegensteuer. Sein Buch «Die neuen Wilden», das auch auf Deutsch vorliegt, sorgte für viel Aufsehen.[10] Darin kritisiert er Invasionsbiologen, Biodiversitätsfachleute und Naturschützer – sie würden übertreiben und hätten einen einseitigen, verteufelnden Blick auf die neuen Arten. Pearce glaubt sogar, dass Neophyten dereinst sehr wichtig werden, um das Überleben auf dem Planeten zu sichern.

Und hier trifft er tatsächlich einen wunden Punkt. Im Zeitalter des Anthropozäns und des fortschreitenden Klimawandels müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, wie es gelingt, unsere Ökosysteme fit und funktionsfähig zu halten. Neue Arten in die Überlegungen einzubeziehen ist notwendig, jedoch keinesfalls mit einer Laissez-faire-Mentalität gleichzusetzen.


Anmerkungen:
[01] Charles S. Elton: The Ecology of Invasions by Animals and Plants, Chicago 1958.
[02] Globi und die neuen Arten, Zürich 2018.
[03] Vgl. auch Hansjörg Gadient: «Einheimische Pflanzen?», in TEC21 11/2011.
[04] Fotos der Pflanzenarten: www.ag.ch > Themen A–Z > N > Neobiota > Prioritäre invasive Neophyten.
[05] Strategie der Schweiz zu invasiven gebietsfremden Arten, 2016. Download auf www.bafu.admin.ch/gebietsfremde-arten
[06] Verordnung über den Umgang mit Organismen in der Umwelt (Freisetzungsverordnung).
[07] www.infoflora.ch > Neophyten > Kriterienkatalog.
[08] www.neophyten-schweiz.ch
[09] Broschüre Gebietsfremde Problempflanzen bei Bauvorhaben, 2014, AGIN. Download auf www.kvu.ch > Arbeitsgruppen > AGIN > Information für (Garten-)Bau und Planung mit Neophyten.
[10] Fred Pearce: Die neuen Wilden – wie es mit fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten. München 2016.

30. November 2018 TEC21

«Die grüne Branche muss vorausdenken»

Wenn es um Neophyten geht, sind sich Naturschützer und ­Landschaftsarchitekten oft uneins. Unterschiedliche Werthaltungen und Naturbilder prägen die jeweilige Sicht. Der Dialog ist jedoch Voraussetzung, um zu neuen Lösungen zu kommen. Zwei Professoren an der Hochschule für Technik Rapperswil beschreiten diesen Weg.

TEC21: Haben gebietsfremde Pflanzen – also Neo­phyten, die erst nach Europa kamen, nachdem Kolumbus Amerika erreicht hatte – auf dem Campus der Hochschule Rapperswil Platz?
Mark Krieger: Auf jeden Fall. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sollen die Studierenden der Landschaftsarchitektur auf dem Campus die Mög­lichkeit haben, viele Pflanzen aus aller Welt ken­nenzulernen. Zum anderen kommen im Siedlungs­gebiet von Rapperswil-Jona viele gebietsfremde Arten vor. Wir möchten keine scharfe Kante hin zur Stadt, sondern eine Verzahnung. Bedingt durch die Erweiterung des Campus hatten wir die Möglichkeit, ein neues Bepflanzungskonzept zu realisieren. Die Analyse des Bestehenden ergab, dass die heimischen Baumarten eher nah am See wachsen und die nicht heimischen wie beispielsweise der Tulpenbaum eher zum Bahnhof hin. Richtung Stadt gibt es also mehr freie Gestaltung, am Wasser mit der schönen Sicht in die Berge hingegen mehr Natürlichkeit. Das ist ein einfaches Konzept, aber es funktioniert.
Christoph Küffer: Wir haben hier auf dem Campus einen spannenden Mikrokosmos. Auf kurzer Distanz wächst hier viel Verschiedenes: Es gibt den See mit einem Naturschutzgebiet, die Gartenanlagen der Hochschule, hundert Meter davon entfernt den Bahnhof mit den Gleisen und daran anschliessend die Stadt mit vielen versiegelten Flächen – eine urbane Situation par excellence. Zwischen diesen Polen exis­tiert in Miniatur, was wir im grösseren Massstab in der Schweizer Landschaft vorfinden.

TEC21: Es gibt Gestaltungspläne, die vorschreiben, nur einheimische Arten zu pflanzen. Auf dem Campus hingegen hat man einen Ausgleich angestrebt. Das klingt nach Versöhnung.
Mark Krieger: Die Forderung nach nur heimi­schen Arten in Gestaltungsplänen ist zum Teil un­sinnig. Nicht alle Neophyten sind problematisch. Ärger be­­­reitet uns nur eine kleine Gruppe von Pflanzen, die unerwünschte Wirkungen haben – nämlich die invasiven Arten. Dazu zählen etwa die Asiatischen Staudenknöteriche, Goldruten aus Nordamerika und das Einjährige Berufkraut.
Christoph Küffer: Eine Versöhnung ist nötig, weil zwi­­schen Ökologen und Naturschützern sowie den Landschaftsarchitekten und Gärtnern zu lang keine Gespräche stattgefunden haben und man nicht ­gemeinsam an guten Lösungen gearbeitet hat. In der ­Öko­logie geht es um komplexe Themen. Meine Erfahrung: Viele Grundprinzipen der Pflanzenver­wendung und Landschaftsarchitektur auf der einen Seite so­wie der Ökologie auf der anderen Seite sind sich sehr ähn­lich. Man schaut, was an einem Ort an ökolo­gisch Wertvollem vorhanden ist, berücksichtigt aber auch die Geschichte des Orts. Dabei geht es nicht nur um einheimisch und nicht einheimisch, sondern vor allem um die Frage der Standortgerechtheit.

TEC21: Was bedeutet standortgerecht konkret?
Mark Krieger: Es rächt sich, wenn Pflanzen am falschen Ort wachsen. Ein klassisches Beispiel: La­­vendel und Rosen – Rosen bevorzugen lehmige, etwas feuchte Böden, während der Lavendel es heiss, trocken und steinig mag. Die beiden Arten werden aber oft zusammen gepflanzt. Dadurch erhöht sich der Pflegeaufwand enorm, denn die Standortge­rech­t­heit ist ja nicht für beide Pflanzen gegeben. Mit der Natur zu arbeiten statt gegen sie, zahlt sich aus.
Christoph Küffer: Auf etwa der Hälfte des Campus haben wir verschiedene Lebensräume der Schweiz nach­gebildet. Viele sind standortnah, einige da­von neu geschaffen. Wir bilden Leute aus, die später die vom Menschen geschaffene Landschaft weiterentwickeln. Sie müssen dabei abwägen, wann vorhan­de­ne Natur zu schützen ist und wann sie neu gestaltet werden kann. Die Ökologen müssen auch anerkennen, dass man bei der Wahl der Pflanzen und der Ge­staltung nicht nur naturwissenschaftlich vorgehen kann; es gibt auch kulturelle, ästhetische und so­ziale Aspekte.

TEC21: Biodiversität, Neophyten, invasive Arten, die ­Pro­bleme bereiten – wie fliesst das konkret in die Ausbildung der Studierenden ein?
Mark Krieger: Wir diskutieren heute viel mehr über die Ziele in der Grünraumgestaltung. Was ist ein Park, und was soll er leisten? Was ist ein Naturraum? Was pflegen und entwickeln wir? Ökologie und Bio­diver­sität haben heute einen deutlich höheren Stellenwert als früher.
Christoph Küffer: Wir wollen verschiedene Sichtweisen zusammenführen. Bisher führten die Ökologen die Pflanzenexkursion für die Studierenden in «ungestörter» Natur in den Alpen allein durch. Nun ge­stalten wir diese Exkursionen gemeinsam mit der Professur für Pflanzenverwendung. Dabei wollen wir die Schönheit von «ursprünglicher» Natur zeigen, aber auch vermitteln, wie die Gestaltungsprinzipien der Natur in vom Menschen geschaffenen Grünräumen an­gewandt werden können. Im Fall der invasiven Arten wollen wir den Studierenden nicht einfach eine Liste mit den problematischen Arten präsentieren, sondern aufzeigen, weshalb eine Art zu einem Problem werden kann. Bei eingeführten Arten gilt es zu verstehen, dass diese aus einem anderen ökolo­gischen Zusammenhang kommen und am neuen Ort noch gar nicht in das ökologische Wechselspiel integ­riert sein können. Und es macht einen Unterschied, ob Arten durch die traditionelle Kulturnutzung über die letzten tausend Jahre von Kleinasien eingeführt wurden und den ursprünglichen europäischen Arten doch recht nah sind oder – wie viele Neophyten – erst vor wenigen Jahren die Schweiz erreichten. Die alten Kulturpflanzen wie zum Beispiel die meisten un­serer Obstbäume haben mit der Zeit wichtige ökologische Funktionen übernommen, während viele Neophyten, die zu einem grossen Teil von anderen Konti­nenten und aus völlig anderen Familien stammen, ökologisch isoliert sind.

TEC21: Das Gespräch über gebietsfremde und invasive Arten ist oft schwierig. Warum eigentlich?
Christoph Küffer: Die Wissenschaft kann eben manchmal nicht wirklich voraussagen, welche Arten zu einem Problem werden. Risikoabschätzungen sind deshalb mit sehr hohen Unsicherheiten verbunden. Das macht frühzeitiges Handeln schwierig. Zudem spielen unterschiedliche Werthaltungen, Weltbilder, Naturvorstellungen und auch persönliche Erfahrungen eine wichtige Rolle.

TEC21: Invasionsbiologie, Problemarten, Eindringlinge, Kolonisierung – das sind starke emotionale Begriffe. Inwiefern trägt die Sprache zu den Kommunika­tionsschwierigkeiten bei?
Christoph Küffer: Benutzt wird in der Tat eine militä­rische Sprache: Es geht ums Kämpfen, um Invasionen oder sogar ums Ausrotten. Verknüpft mit dem Fokus auf das Fremde wird es rasch problematisch, das Andere wird ausgegrenzt, soll wieder weg. Zudem wird das Problem oft zu sehr vereinfacht, wenn man etwa einer sogenannten Problemart die gesamte Schuld für die ökologischen Schäden gibt. Viele Inva­sionen sind eine Folge der menschlichen Landnutzung und der Zerstörung von artenreichen Ökosystemen. Unsere Sicht ist vor allem auch durch das Schicksal von Inseln geprägt, auf denen eingeführte Arten in­va­siv wurden und zum Teil dort ansässige Arten massiv bedrängten. Die starke Ausbreitung von invasiven Arten ist aber selbst auf Inseln letztlich oft die Folge von Raubbau und massiver Lebensraumzerstörung. Auch die Medien mit ihren oft reisserischen Berichten machen die Sache gewiss nicht einfacher.

TEC21: Wohin geht der Trend bei den Stadtbäumen?
Mark Krieger: Die Verantwortlichen der Grünäm­ter sind bestrebt, stets herauszufinden, welche Bäume sich für die Stadt besonders gut eignen. In Hamburg hat dies dazu geführt, dass an einer 2 km langen Strasse 23 verschiedene Bau­marten anzutreffen sind, weil die Gärtner der Stadt immer gerade den aktuell von den Gremien empfoh­lenen Baum gepflanzt haben.

TEC21: Was zeichnet einen modernen Stadtbaum aus?
Mark Krieger: Ein moderner Stadtbaum ist schlank, und man muss keinen Baumschnitt ausführen. Er kommt mit Salz zurecht, ist stabil und gesund. Seine Blüten, Früchte oder sein Laub stinken nicht. Es sind Bäume, die Trockenheit aushalten und frosthart sind. Somit ist klar: Den für alles geeigneten Stadtbaum gibt es natürlich nicht.

TEC21: Können einheimische Baumarten bei diesem Anfor­de­rungsprofil noch mithalten?
Mark Krieger: Vor einigen Jahren – es war ein besonders heisser Sommer – bekamen die heimischen Baumarten in Wien alle grosse Probleme. Die Stadt Wien behauptet nun, diese seien dem künftigen Klima nicht mehr gewachsen, und empfiehlt deshalb, keine heimischen Bäume mehr zu verwenden. Ich finde, das geht zu weit. Es gibt da aber ein anderes Problem: Fast alle unsere traditionell an Strassen gepflanzten Bäume, also etwa Bergahorn und Linde, bilden sehr breite Kronen aus. Bezüglich Schatten und Kühlung ist das zwar oft vorteilhaft, es verursacht aber auch Probleme und Aufwand. Für das erforderliche Lichtraumprofil müssen die Äste zum Beispiel bis 4,5 m entfernt werden. Das ist ein wirtschaftlicher Faktor.

TEC21: Worauf ist bei der Wahl der Stadtbäume denn zu achten?
Mark Krieger: Diversität und Risikoverteilung sind der Schlüssel. Also viele verschiedene Baumarten gemischt pflanzen, aber sie nicht unbedingt in Alleen mischen. Es werden auch neue Schädlinge auftauchen. Je breiter man aufgestellt ist, desto sicherer ist der Weg in die Zukunft. Auch nicht heimische Ar­ten leisten einen Betrag zur Vielfalt. Wir haben 150 bis 200 Jahre Züchtungsgeschichte bei unseren Stadtbäumen zu verzeichnen – Sorten, die extra für die Stadt gezüchtet wurden. Das sind auch Kulturgüter; würden sie nicht mehr gepflanzt, wäre das ein Verlust.

TEC21: Inwiefern profitiert die Biodiversität von den ­Stadtbäumen?
Christoph Küffer: Einheimische Baumarten haben Vorteile für die einheimische Biodiversität. Eine gute Einbettung ins gesamte Ökosystem ist wichtig, damit Stadtbäume Ökosystemleistungen erbringen, zum Beispiel positive Wirkungen auf die Gesundheit oder das Stadtklima. Bäume können dies nur in einem gesunden ökologischen Umfeld leisten, und da müssen wir vor allem auch über den Boden sprechen. Ohne guten und auch genügend Boden geht es nicht. In vielen urbanen Situationen ist das verbleibende Bodenvolumen zu klein für das Wachstum vieler Baumarten. Zudem sind viele Stadtböden nicht mehr gesund und können dadurch zum Beispiel weniger Wasser speichern. Gewisse Baumarten wie etwa der Zürgelbaum gedeihen zwar auch unter schwierigen Verhältnissen, aber sie transpirieren einfach weniger und erbringen dadurch auch eine geringere Kühl­leistung an heissen Tagen.

TEC21: Was kann die Landschaftsarchitektur für die ­Biodiversität tun?
Mark Krieger: Als Landschaftsarchitekten müssen wir uns mit der Biodiversität auseinandersetzen. Bei Projekten hat der Landschaftsarchitekt auch eine moderierende Rolle. Der Dialog führt zu guten Projekten. Es gibt Landschaftsarchitekten, die rein gestalterisch entscheiden. Ich halte das jedoch für gefährlich. Wenn wir die Risiken einzelner Pflanzen nicht kennen, kann das auf uns zurückfallen. Der Problematik der invasiven Arten muss man sich bewusst sein.
Christoph Küffer: Die grüne Branche muss vorausdenken und darf nicht erst dann reagieren, wenn eine Art verboten wird. Ein aktuelles Beispiel ist der Bergknöterich (Aconogonon speciosum), der in Lehrbüchern zum Teil angepriesen wird. Die Pflanze ist eng verwandt mit der Gattung des invasiven Japanischen Knöterichs. Der Himalaya-Knöterich (Polygonum bzw. Aconogonon polystachyum) – eine ebenfalls nah verwandte Art – ist in der Schweiz auch bereits verboten. Es ist eine durch Daten besonders gut belegte Regel: Wenn ein Vertreter einer bestimmten Artengruppe invasiv wurde, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass nahe Verwandte sich gleich entwickeln.

TEC21: Und was ist zu tun, wenn nun unliebsame Neophyten auftauchen und so einiges durchein­anderbringen?
Mark Krieger: Gärten werden gepflegt. Wenn die Nordamerikanische Goldrute aufkommt und wir nichts machen, dann wird der Garten von Neophyten in Besitz genommen. Dasselbe gilt im Moor bei Wetzikon im Zürcher Oberland. Dieses wird eigentlich gepflegt wie ein Park. Goldruten werden von Naturschutzverbänden oder Freiwilligen von Hand entfernt. Wenn wir etwas Bestimmtes erhalten wollen, müssen wir eingreifen.

TEC21: Haben wir Menschen nicht einfach auch Mühe, Veränderungen zu akzeptieren? Sollten wir manchmal nicht etwas mehr Geduld haben, bis sich neue Gleichgewichte einstellen?
Christoph Küffer: Das ist eine wichtige Frage. Die Kon­se­­quenz davon ist aber auch, dass es Leute gibt, die der Meinung sind, wir müssen gar nichts machen. Doch dann verschwinden halt beispielsweise die Orchideen, wenn sich Goldruten ausbreiten. Auf jeden Fall können wir nicht davon ausgehen, dass Ökosysteme mit ihren Arten, die wir so schätzen, sich einfach von selbst erhalten. Wollen wir sie be­­wah­ren, so ergibt sich zum Teil ein immenser Pflege­aufwand. Und da stellt sich die Frage, wie wir Politik und Be­völkerung überzeugen, dass hochwertige Natur nicht gratis ist. Wie schaffen wir es, dass die Pflege der Natur und der Grünräume stärker in den Fokus rückt und auch Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden?
Mark Krieger: Ich habe den Japanischen Knöterich in seiner Heimat gesehen. In Japan ist er gut ins Ökosystem integriert. Er ist sogar essbar wie Spargel. Bei uns ist die Pflanze nun aber ein Problem. Wenn der Mensch glaubt, dass die Landschaft, so wie sie durch ihn entstanden ist, das allerhöchste Gut ist und sich das nicht verändern darf, dann hat er damit natürlich ein Problem. In Zukunft müssen wir mit diesen Veränderungen umgehen. Wenn der Knöterich aufkommt und nicht zu bekämpfen ist, dann kann man sich entscheiden, mit ihm zu leben und eventuell lenkend einzugreifen – oder eben unglücklich zu werden. Und es ist wohl besser, wenn man probiert, mit ihm zu leben.

30. November 2018 TEC21

Vom Garten in den Wald

Auf der Alpensüdseite siedeln sich besonders viele neue Arten an. Der Umgang mit den Neuankömmlingen fordert Politik und Gesellschaft. Von den Erfahrungen der Südschweiz können die Kantone auf der Alpennordseite viel lernen.

Für Schweizer Verhältnisse sind es ungewohnte Waldbilder: Götterbäume, Robinien, vor allem aber immergrüne Palmen, Kampferbäume und Kirschlorbeeren. Eine solch üppige Vegetation wächst sonst in der subtropischen Klimazone. Wüsste man nicht, wo man sich befindet, man würde kaum auf die Schweiz tippen. Doch Locarno und die Piazza Grande befinden sich in Fussdistanz. In der Ferne glitzert der Lago Maggiore.

In den Parkanlagen und Gärten von Locarno, auf dem Monte Verità bei Ascona und den Brissago-Inseln – dort sind uns Palmen, Kamelien, Magnolien und Zitronenbäume vertraut. Die exotische Vegetation gehört zum Tessiner Bild der Deutschschweizer wie Polenta und Kastanien. Doch nun verselbstständigen sich diese nicht heimischen Arten immer mehr und breiten sich in den siedlungsnahen Wäldern aus. Das Klima im Tessin mit den milden Wintertemperaturen begünstigt den Erfolg der neuen Arten.

Vor zehn Jahren setzte die Tessiner Kantonsregierung eine departementsübergreifende Arbeitsgruppe zum Thema invasive gebietsfremde Arten ein. «Als Erstes wollten wir einen Überblick über die Situation gewinnen und verstehen, welche Arten wo vorkommen und wie sie sich ausbreiten», erläutert Mauro Togni, der Leiter der Arbeitsgruppe. Dabei zeigte sich, dass einige Arten erst vor Kurzem einwanderten, andere hingegen schon über hundert Jahre im Tessin vorkommen, jedoch erst seit einigen Jahren Probleme bereiten. Dazu zählen etwa die Asiatischen Staudenknöteriche oder der Götterbaum. Letzterer wurde unter anderem als Schattenspender durch italienische Arbeiter in Steinbrüchen angepflanzt. Auch wachsen Götterbäume bei den Grotti, die sich oft am Waldrand befinden. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts diente der Götterbaum zudem als Futterquelle für die Raupen zur Seidenproduktion.

Viele Schnittstellen

Dass es neuen Arten gerade im Tessin besonders gut gelingt, sich in der Landschaft zu etablieren, hat nebst dem günstigen Klima weitere Gründe. Siedlungen und Wald sind eng verzahnt, und es gibt es viele Schnittstellen. «Der Weg von den Gärten in die freie Natur ist kurz», sagt Marco Conedera von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Cadenazzo. Hinzu kommen die Transportachsen zwischen Nord- und Südeuropa sowie der seit Jahrzehnten andauernde Landnutzungswandel mit der Aufgabe vieler ehemals landwirtschaftlich genutzter Flächen in den Tessiner Bergtälern. «Auf der Alpensüdseite kann man heute beobachten, was vermutlich in grossen Teilen der Schweiz nördlich der Alpen in 20 bis 30 Jahren ablaufen wird», gibt Conedera zu bedenken.

Der Götterbaum wurde im Tessin um die Jahrtausendwende zum Thema. «Einem Mitarbeiter des Naturhistorischen Museums fiel damals auf, dass Götterbäume Naturschutzgebiete kolonisierten», erinnert sich Conedera. Inzwischen beginnt die aus Ostasien stammende Baumart im Wald ganze Bestände zu bilden. Und wo der Wald Siedlungen und Verkehrswege vor Naturgefahren schützt, stellt sich nun die Frage, inwiefern die Schutzfunktion des Walds noch gewährleistet ist.

In einem Wald bei San Vittore GR im unteren Misox testen Mitarbeitende der WSL die Widerstandskraft von Götterbaumwurzeln. Dazu graben sie Wurzeln aus, durchtrennen sie und befestigen daran einen mit einer Zugvorrichtung und Sensoren ausgestatteten Apparat. Dann wird gezogen, bis die Wurzel reisst. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, in welchem Mass der Götterbaum mit seinem Wurzelwerk Hänge zu stabilisieren vermag.

Am selben Standort liessen Mitarbeitende der Berner Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften in Zollikofen, des Institut national de recherche en sciences et technologies pour l’environnement et l’agriculture in Grenoble sowie der WSL vor drei Jahren Kugeln auf Götterbäume aufprallen, um Steinschlag zu simulieren. «Die Schutzwirkung ist besser, als wir erwartet hatten», sagt Conedera. Auch seien die Stämme des Götterbaums entgegen ersten Einschätzungen weniger oft von Stammfäule befallen.[1]

Der Götterbaum macht sich breit

Luca Plozza, Regionalforstingenieur im Misox, hat als einer der Ersten auf die Problematik im Schutzwald hingewiesen. «Im Hitzesommer 2003 litten die dominierenden Kastanienbäume stark unter der Trockenheit, und danach begann sich der Götterbaum stark auszubreiten», sagt er. Seine Samen seien damals bereits im Boden gewesen.

Der Baum aus der Familie der Bittereschengewächse gedeiht auch auf kargem Boden, ist wenig empfindlich gegenüber Luftverschmutzung und sehr trockenheitstolerant. Wird ein Götterbaum gefällt, so treibt er wieder aus (Stockausschläge), und selbst aus Wurzeln können neue Bäume heranwachsen (Wurzelbrut). Zusammen mit den geflügelten Samen, die durch den Wind relativ weit verbreitet werden können, verfügt der Götterbaum über ein beträchtliches Ausbreitungspotenzial.

Bis vor zehn Jahren glaubte man, der Götterbaum könne sich nur auf kargen Standorten oder nach Störungen wie Waldbränden, Windwurf oder starker Holznutzung etablieren. Nun zeigt sich aber im unteren Misox und an mehreren Orten im Tessin, dass die Baumart sehr wohl auch im relativ geschlossenen Wald Fuss fassen kann. Dies gelingt ihr vor allem auch, weil die Kastanienbäume durch trockene Sommer, den Kastanienrindenkrebs und die Kastaniengallwespe, die sich in den Knospen einnistet und zu einer schütteren Belaubung führen kann, geschwächt sind.

«Als Ersatz für die Kastanie steht eine ganze Reihe von einheimischen Laubbäumen bereit – Esche, Ahorn, Linde, Eiche, Kirschbaum», erläutert Plozza. «Doch wenn wir im Wald Pflegeeingriffe durchführen, um eben diese Baumarten zu fördern, besteht das grosse Risiko, dass wir am Schluss nur Götterbäume haben.» Und diese Entwicklung sei nicht nur im Schutzwald kritisch zu beurteilen. Denn Monokulturen bedeuteten stets ein Klumpenrisiko.

Giorgio Moretti vom Forstdienst des Kantons Tessin empfiehlt in Wäldern mit etablierten Götterbäumen, mit Pflegeeingriffen wenn immer möglich vorläufig zuzuwarten. An Orten mit keinen oder nur wenigen Bäumen hingegen gelte es, deren Weiterverbreitung einzudämmen. «Neu ist, dass wir auch Samenbäume ausserhalb des Walds in unsere Überlegungen mit einbeziehen müssen», sagt er. Diese sorgten für einen ständigen Zufluss von neuen Samen. Als Beispiel nennt er das Naturschutzgebiet am Monte Caslano am Luganersee. Um die biologisch wertvollen Trockenrasen möglichst frei von Götterbäumen zu halten, habe man unter anderem auch das Gespräch mit den Gartenbesitzern im benachbarten Siedlungsgebiet gesucht. Mit Erfolg, denn diese hätten eingewilligt, die Samenbäume zu entfernen.

Hanfpalme und Kudzu

Laut Moretti ist es entscheidend, die Verbreitung von invasiven Arten zu kennen. Die WSL erstellte ein erstes Inventar zum Götterbaum bereits 2002, und der Kanton vervollständigte und aktualisierte es vor etwa acht Jahren. Doch der Götterbaum sei lediglich die Spitze des Eisbergs, sagt Moretti. Andere Arten, die es zu beobachten gelte, seien der Blauglockenbaum (Paulownie) und auch die Chinesische Hanfpalme. Gerade für Letztere – bezeichnenderweise auch Tessiner Palme genannt – rühren Verkaufsstellen und Gartencenter auch in der Deutschschweiz derzeit kräftig die Werbetrommel, obwohl sich eindeutig abzeichnet, dass der Hanfpalme der Sprung in die freie Natur gelingt.

Als sehr invasiv gilt auch Kudzu. Die Kletterpflanze aus Ostasien wurde vor hundert Jahren in Nordamerika und Europa zur Stabilisierung von Hängen angepflanzt. An einem Tag kann sie bis zu 25 cm wachsen. In der Schweiz kommt Kudzu fast ausschliesslich im Tessin vor, wo ungefähr 50 Standorte bekannt sind. In den vergangenen Jahren ist die Pflanze stellenweise bekämpft worden, indem ganze Wurzelstöcke ausgegraben wurden – eine gewaltige Arbeit. Neue Ergebnisse zeigen nun, dass es genügt, wenn 10 cm unter dem Boden der oberirdische Teil der Pflanze vom Versorgungsapparat der Wurzel, dem Rhizom, getrennt wird. Damit steht eine Methode zur Verfügung, die auch bezüglich der Kosten als vertretbar erscheint.

Fundierte Kenntnisse über neue Arten sind der Schlüssel für einen guten Umgang mit ihnen. Vor 50 Jahren galt beispielsweise die aus Nordamerika stammende Robinie auf der Alpensüdseite als Problemart. Heute ist die bei Imkern sehr geschätzte Baumart weit verbreitet, scheint sich jedoch kaum mehr weiter auszubreiten. Ob sich die Arten, die aktuell als sehr invasiv eingestuft werden, in die Ökosysteme der Südschweiz eingliedern, wird die Zukunft zeigen. Ebenso, ob sich in einigen Jahrzehnten in den Wäldern nördlich des Gotthards tatsächlich ähnliche Waldbilder einstellen werden wie auf der Alpensüdseite.


Anmerkung:
[01] Jan Wunder, Simon Knüsel, Luuk Dorren, Massimilia­no Schwarz, Franck Bourrier, Marco Conedera: Götterbaum und Paulownie: die «neuen Wilden» im Schweizer Wald. Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 2, 2018.

28. April 2017 TEC21

Das Problem erkannt

Viele Elementarschäden liessen sich durch eine geschickte Bauweise ­verhindern. Baufachleute und Gebäudeeigentümer stehen in der Pflicht. Die Revision der SIA-Norm 261/1 über die Einwirkungen auf Tragwerke verspricht schweizweit einheitliche Standards für Naturgefahren.

Die Bedrohung durch Naturgefahren ist kein neues Phänomen. Als sich die ersten Menschen im Gebiet der heutigen Schweiz niederliessen und Häuser bauten, waren sie bereits mit den Launen der Natur konfrontiert. Sie lernten mit diesen Gefahren umzugehen und passten die Bauweise der Situation an. Ein wesentlicher Unterschied zu heute: Unsere Vorfahren bauten nicht in den Untergrund, um Autos abstellen zu können. Es sind diese Tiefgaragen, die sich bei Starkniederschlägen bevorzugt bis zur Decke mit Wasser füllen. Und die empfindliche Gebäudetechnik, die bei Überflutungen oft in Mitleidenschaft gezogen wird, war bis vor wenigen Generationen minimal ausgebildet.

Geben wir nicht Gegensteuer, akkumulieren sich in potenziell gefährdeten Gebieten immer mehr Sachwerte.[1] Früher waren Lawinen der Inbegriff für lebensbedrohende Naturgewalten. Dank den vielfältigen Anstrengungen zur Prävention ist dieses Risiko in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen. Deshalb stehen heute Überflutungen, Rutschungen, Murgänge sowie Fels- und Blockschlag im Vordergrund.

Bericht identifiziert Defizite

Vor einem Jahr verabschiedete der Bundesrat seinen Bericht zum Umgang mit Naturgefahren. Darin sind Defizite, Handlungsfelder und Massnahmen aufgeführt. Prominent genannt wird unter anderem das «naturgefahrengerechte» Bauen. Dieses gelte es in den nächsten Jahren sicherzustellen, heisst es. Ferner seien die Berücksichtigung von Standards und Normen in den Planungsprozessen sowie die Eigenverantwortung der Infrastrukturbetreiber und Gebäudeeigentümer zu stärken.

Die Aufgabe, dies umzusetzen, liegt primär bei den Kantonen und Gemeinden sowie den Baufachleuten. «Der Bund kann beim Objektschutz nur indirekt wirken», sagt Josef Eberli, der Leiter der Abteilung Gefahrenprävention beim Bundesamt für Umwelt (Bafu). Zum Beispiel über die Bereitstellung von Grundlagen. Ein wichtiges Instrument sind diesbezüglich die in Bundesgesetzen vorgeschriebenen Gefahrenkarten, die in der Raum- und Nutzungsplanung umzusetzen sind. Bei Neu- und Umbauten können die Behörden ein «naturgefahrengerechtes» Bauen durchsetzen. Bei bestehenden Bauten stehen laut Eberli jedoch Anreize für Schutzmassnahmen im Vordergrund. Nach Schadensfällen können die Gebäudeversicherungen auch Auflagen erlassen.

Nachdem die Gefahrenkarten für Massenbewegungen und Hochwasser aus Gewässern praktisch für das ganze Siedlungsgebiet vorliegen, rückt nun der sogenannte Oberflächenabfluss in den Vordergrund. Oberflächenabfluss entsteht, wenn bei Starkniederschlägen, das Wasser nicht versickert, sondern oberflächlich abfliesst. Er ist für bis zu 40?% der Überschwemmungsschäden an Gebäuden verantwortlich. Der Kanton Luzern verfügt als erster Kanton über eine flächendeckende Oberflächenabflusskarte. Ein Projekt des Bundes und der Versicherungswirtschaft hat nun das Ziel, solche Karten auf der Basis von Computermodellen bis 2018 für die ganze Schweiz herzustellen und diese den Kantonen und allen Interessierten zur Verfügung zu stellen.

Auf dem Weg zur revidierten Norm

Das Bafu unterstützt zudem die Revision der SIA-Norm 261/1 über die Einwirkungen auf Tragwerke finanziell mit einem substanziellen Beitrag. Seit Inkrafttreten der Norm im Jahr 2003 sind bei den Naturgefahren wesentliche Erkenntnisse hinzugekommen. «Wenn diese neue Norm eingeführt wird, dann wird dies auch in die Aus- und Weiterbildung einfliessen», begründet Eberli das Interesse des Bundes.

Für Erdbeben, Wind und Dachschnee existierten in der SIA-Norm 261 bereits gute Grundlagen zu den Einwirkungen, sagt Thomas Egli. Der Naturgefahrenexperte leitet die Arbeitsgruppe zur Revision der SIA-Norm 261/1. «Bei den gravitativen Naturgefahren wie Rutschungen, Murgängen, Hochwasser, Schnee- und Lawinendruck, Stein-, Block- und Eisschlag sowie der meteorlogischen Naturgefahr des Hagels bestehen hingegen Defizite», sagt Egli. Aktuell liegt der Normenkommission ein detaillierter Konzeptbericht vor.

Bei den zu berücksichtigenden Einwirkungen für die gravitativen Naturgefahren herrscht laut Egli gegenwärtig eine föderalistische Vielfalt. Diese seien in verschiedenen Wegleitungen der Kantone geregelt, zum Teil auch in solchen von kantonalen Gebäudeversicherungen. «Die revidierte Norm bringt schweizweit einheitliche Grundlagen für Neubauten», so Egli. Für die gravitativen Naturgefahren habe sich in den letzten Jahren eine eigentliche Praxis herausgebildet, die als Basis für die Revision dient. Beim Hagel wiederum hat man in den letzten Jahren das sogenannte Hagelregister aufgebaut. In diesem sind geprüfte Materialien mit ihren Hagelwiderständen verzeichnet.

Die revidierte Norm wird die Probleme nicht automatisch lösen. Doch ist sie einmal eingeführt, wird es kaum möglich sein, sie zu ignorieren.[2] Die Norm dürfte entscheidend mithelfen, damit «naturgefahrengerechtes» Bauen zur Selbstverständlichkeit wird.


Anmerkungen:
[01] Eine Übersicht über im TEC21 erschienene Artikel findet sich hier.
[02] Vgl. «Wer früh plant, kann sich günstig vor Naturgefahren schützen», in TEC21 13/2017.

Die 2005 bzw. 2007 publizierten Wegleitungen zum gravitativen und meteorologischen Objektschutz sind aktualisiert für Architekten, Ingenieure und Gebäudebesitzer über eine Onlineabfrage auf www.schutz-vor-naturgefahren.ch/architekt und www.schutz-vor-naturgefahren.ch/spezialist zugänglich.
Hagelregister: http://vkf.ch

28. April 2017 Paul Knüsel
TEC21

«Der Schutz bedingt langfristiges Denken»

Nicht alle Regionen sind hohen Naturgefahren ausgesetzt; beim Bauen dürfen die Risiken trotzdem nicht vernachlässigt werden. Im Gespräch betonen Bau- und Präventionsfachleute zudem, wie wichtig ein lokal gut akzeptiertes Vollzugsystem ist.

TEC21: Herr Reinhard, wenn ein Bauherr ein Projekt mit Ihnen realisieren möchte, welche Rolle spielen die Naturgefahren? Wie gehen Sie vor?

Niklaus Reinhard: Als Erstes notiere ich alle Auflagen, die für das Bebauen einer Parzelle relevant sind, wie Grenzabstände, Ausnützungsziffern usw. Sind Naturgefahren im Zonenplan verzeichnet, suche ich das Gespräch mit den Fachleuten beim Kanton und in der Bauabteilung der Gemeinde, bevor ich überhaupt zu entwerfen beginne.

TEC21: Das klingt jetzt so, als wären die Naturgefahren bei Architekten und Planern angekommen. Oft hört man, die Sensibilisierung dafür sei eher gering.

Dörte Aller: Man kann nicht pauschalisieren. In Nidwalden ist viel in Bewegung; die Unwetter­ereignisse haben in den letzten Jahren dazu bei­getragen. In anderen Kantonen ist das nicht so selbstverständlich. Naturgefahren sind zudem eher ein Bergthema. Dort treten «Gewalten» auf, die vielen zuerst in den Sinn kommen: Lawinen, Steinschlag und Murgänge. Im Mittelland sind es hingegen vielleicht nur 20 cm Hochwasser. Trotzdem sind die Schäden hoch. Ereignisse und Modellberechnungen zeigen, dass das Schadenrisiko in weniger gefährdeten Gebieten gleich hoch oder sogar höher sein kann. Zudem gibt es weitere Gefahren, die nicht in den Gefahrenkarten abgebildet sind: Sturm, Erdbeben oder Hagel.

TEC21: Was sind die wesentlichen Elemente beim Umgang mit Naturgefahren in Nidwalden?

Beat Meier: Im Kanton Nidwalden sind die Schutzziele bei Naturgefahren seit über zehn Jahren im Bau- und Zonenreglement festgehalten und für Planende ausformuliert. Wesentliche Anforderungen sind seit 2014 zudem im Baugesetz aufgeführt. Das kennen andere Kantone nicht. In Nidwalden wäre es eigentlich Aufgabe der Gemeinden, bei Baugesuchen zu kontrollieren, ob die Schutzziele eingehalten sind. In der Realität läuft das anders: Die eingehenden Baugesuche werden an die Baukoordination des Kantons weitergereicht. Diese wiederum leitet sie an die Nidwaldner Sachversicherung weiter, die für die Prüfung des Brandschutzes zuständig ist. So gelangt das Baugesuch auch auf meinen Schreibtisch, und wir prüfen die Nachweise bezüglich Naturgefahren im Auftrag der Fachkommission Naturgefahren.
In einfachen Fällen ist das schnell erledigt. Spielen aber Lawinen oder Wildbäche eine Rolle, geht das Gesuch zur Stellungnahme an das Oberforstamt, das Amt für Gefahrenmanagement oder das Amt für Raumplanung. Komplexe Fälle bespricht die Fachkommission Naturgefahren, in der die genannten Ämter und die Gebäudeversicherung vertreten sind, alle zwei Wochen. Den Entscheid über die Baugesuche fällen aber die Gemeindebehörden.

Niklaus Reinhard: Dabei ist festzuhalten, dass die Stellungnahme dieser Kommission nahezu sakrosankt ist. Nach den Vorbesprechungen gibt es in aller Regel keine Überraschungen mehr. Hier ist die Kleinheit des Gebildes Nidwalden vorteilhaft .

TEC21: Ist so ein Vorgehen für andere Kantone denkbar?

Dörte Aller: Das grundsätzlich angestrebte Sicherheitsniveau wurde in Nidwalden in einem längeren Prozess mit allen Beteiligten, dem Forst, dem Wasserbau, der Raumplanung und der Versicherung als Risikoträger ausgehandelt. Das ist überall möglich. In Nidwalden wird ziemlich genau umgesetzt, was die Plattform Naturgefahren (Planat) unter Integralem Risikomanagement versteht. Weil die Akteure die wesentlichen Elemente gemeinsam entwickelt haben, tragen das System auch alle mit. Im konkreten Fall ist jeweils ein Abwägen zwischen raumplanerischen Massnahmen und Gebäudeschutz (damit keine neuen Risiken entstehen), Schutzvorkehrungen an den Gewässern sowie der Notfallplanung erforderlich. Daher sehen die Lösungen in Nidwalden vielleicht anders aus als in anderen Kantonen.

TEC21: Welche Rolle spielt die Nidwaldner Sachversicherung als kantonale Gebäudeversicherung?

Beat Meier: Wir haben klare Kriterien und wenden sie überall gleich an. Wir erbringen auch Dienst­leistungen in Form von Beratungen und haben den Vorteil, dass wir nah bei den Leuten sind. Im Gespräch kann man gemeinsam nach konstruktiven Lösungen suchen.

Dörte Aller: Oft reagieren wir erst nach schadenreichen Ereignissen, handeln also nicht vorausschauend. Nidwalden hat hingegen ein System geschaffen, das risikobasiert funktioniert.

TEC21: Was meint «risikobasiert» für Naturgefahren?

Dörte Aller: Die Gefahrenkarte zeigt beispielsweise, wie häufig und intensiv ein Gebiet überschwemmt wird oder wie häufig und stark eine Lawine auftritt. Das Risiko lässt sich aber erst ermitteln, wenn gefährdete Gebäude, Verkehrswege oder Personen betrachtet werden oder abgeschätzt wird, wie
verletzlich die Sachwerte sind. Das vermittelte Gefahrenbild ändert sich oft, sobald der Fokus auf das Risiko gerichtet ist. In Nidwalden analysierte man, welches Risiko akzeptabel ist und mit welchen Massnahmen es allenfalls reduziert werden kann.

Niklaus Reinhard: Das ist richtig. Aber ich möchte auch auf Sonderfälle hinweisen, die viele nicht verstehen. Am nordwestlichen Siedlungsrand von Stans ist der Bau eines Wohnquartiers seit vier Jahren blockiert, weil der Buoholzbach eine reale Gefahrenquelle ist (vgl. Kasten S. 30). Dieser mündet mehrere Kilometer davon entfernt bei Dallenwil in die Engelberger Aa. Tatsächlich hat die Engelberger Aa 1910 die Ebene von Stans überschwemmt. Nur kennt kein Mensch noch jemanden, der dies miterlebt hat.

Dörte Aller: Das ist genau das Problem: Es geschehen Dinge, die nicht immer im Bewusstsein sind. Ein Hochwasser mit Wiederkehrdauer von 300 Jahren entspricht beispielsweise einer Wahrscheinlichkeit von 17 % in 50 Jahren.

TEC21: Schweizweit wird abgeschätzt, dass ein Fünftel bis ein Viertel der Bauzonen von Naturgefahren betroffen sind. Was heisst das für die planerische Praxis?

Niklaus Reinhard: Am einschneidendsten wäre, dort nicht mehr zu bauen, wo die Gefahren sind. Das hätten wir aber bereits in den 1960er- oder 1940er-Jahren tun sollen. Nun bescheren uns die Naturgefahren Mehrkosten. Bezogen auf ein Objekt kostet der Erdbebenschutz aber deutlich mehr als der Hochwasserschutz.

Dörte Aller: Wirklich gravierend sind die Einschränkungen nur für wenige Flächen. Einschneidend wird es aber, wenn man erst kurz vor Bau­bewilligung realisiert, was zu berücksichtigen ist. Oft sind diese Massnahmen nicht wirklich wirksam. Sie kosten und sind vielfach nicht schön.

Beat Meier: Gebäudeschutz muss verhältnismässig sein. Bei bestehenden Bauten klären wir in der Regel im Schadensfall zusammen mit dem Gebäudebesitzer, was sich verbessern lässt. Bei Neu- und Umbauten bieten sich mehr und bessere Möglichkeiten. Das Problem ist, dass auch bei Neubauten immer wieder gravierende Fehler passieren.

TEC21: Was kann man gegen vermeidbare Fehler tun?

Niklaus Reinhard: Die Bauherrschaft will oft einfach Geld sparen. Der Preis einer Wohnung ist durch
den Markt gegeben. Jeder Franken, der mehr zu investieren ist, schlägt zu Buche. Und wenn später etwas passiert, hat die Bauherrschaft die Wohnungen vielleicht längst weiterverkauft. Kaum jemand investiert, damit er vielleicht in 20 Jahren kein Problem hat. Das ist ethisch durchaus diskutabel, ist aber halt so. Baut ein Bauherr hingegen für sich selber, steckt eine andere Haltung dahinter.

TEC21: Aber wie wird es selbstverständlich, die Naturgefahren beim Bauen angemessen zu berücksichtigen?

Niklaus Reinhard: Das ist primär Aufgabe von Bau­gesetz und Bauzonenordnung. Das Problem ist aber, wie viele Anforderungen und Auflagen mittlerweile existieren und was sie kosten. Viele Architekten und Bauherren investieren lieber in Schönes. Und nicht in Massnahmen, die mögliche Schäden in vielleicht zehn Jahren verhindern. Sich vor künftigen Gefahren zu schützen bedingt ein langfristiges Denken.

TEC21: Sind die Planenden also mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert?

Niklaus Reinhard: Ich versuche nur die Schwierig­keiten aufzuzeigen, Bauherren dazu zu bewegen, diesen Aspekten das nötige Gewicht zu geben. Es ist für uns Architekten schwierig, diese Aufgabe zu übernehmen. Naturgemäss interessieren uns die architek­tonischen Fragen zudem mehr als Naturgefahren.

Dörte Aller: Gleichzeitig erhöht sich das Risiko durch das Bauen laufend. Neue Materialien, eine dichtere Bebauung oder Tiefgaragen sind die Stichworte dazu. Viele Baufachleute sind sich gar nicht bewusst, welche Risiken entstehen, wenn Leute zum Beispiel mit dem Lift in eine Tiefgarage fahren, während diese überflutet wird. Die Architekten stellen am Anfang eines Projekts die Weichen und entscheiden, wie die Tiefgarageneinfahrt zu liegen kommt, oder positionieren das Gebäude und die einzelnen Öffnungen. Das ist nicht immer eine Kostenfrage, sondern eine planerische Aufgabe. Auch bei der Wahl von hagelsicheren Fassaden­materialien ist ein Dialog zwischen Bauherr und Architekt nötig.

TEC21: Massnahmen zum Gebäudeschutz müssen nicht nur wirksam sein, sondern auch gestalterisch überzeugen und ins Ortsbild passen …

Dörte Aller: ... vorzugeben sind lediglich die Ziele. Etwa, bis zu welcher Wasserhöhe oder Hagelkorngrösse keine Schäden entstehen dürfen. Wie das gestalterisch erreicht wird, bleibt möglichst offen.

Niklaus Reinhard: Der Bauherr kann das beeinflussen, indem er einen gestaltungsbewussten, verantwortungsvollen Architekten beauftragt und diesen für seine Arbeit auch bezahlt. Es ist einfach so: Wenn man nicht bezahlt wird, reicht es irgendwann nicht mehr zum Denken.

Beat Meier: Und es hilft, wenn wichtige Punkte in Vorschriften festgehalten sind. Dann gibt es gar keine Diskussionen.

TEC21: Vielleicht ist gerade eine Hochwassergefährdung Ansporn, um die oft hässlichen Tiefgaragen­einfahrten sorgfältig zu gestalten, beispielsweise mit dem sogenannten Nidwaldner Tor. Was für eine Geschichte steckt hinter diesem Tor?

Beat Meier: Ich ärgerte mich, dass die Kantone Aargau und Zürich stets Klappschotte verlangten. Diese klappen bei steigendem Wasserpegel automatisch auf, kosten aber 60 000 Franken. Deshalb wünschten wir uns günstigere Alternativen. Vor zwei Jahren fand eine Tagung statt, an der technische ­Lösungen vorgestellt wurden. Zusammen mit einem Metallbauplaner und Wasserbauingenieur aus der Region begannen wir das Nidwaldner Tor zu entwickeln. Inzwischen sind etwa 15 Tore eingebaut, und andere Kantone inter­essieren sich dafür. Die Kosten sind nur ein Fünftel so hoch wie die für ein Klappschott; die Pläne können übers Internet heruntergeladen werden und stehen Interessierten kostenlos zur Verfügung.

TEC21: Und funktioniert das Nidwaldner Tor?

Beat Meier: Wir haben noch keinen Ernstfall erlebt. Klar, jemand, der gerade vor Ort ist, muss das Tor aktiv schliessen. Weil es fest installiert ist, braucht es aber weder Werkzeuge noch Schlüssel. Die Chancen, dass dies funktioniert, stehen besser, als wenn in einer hektischen Situation irgendwo aufbewahrte Balken zu montieren sind. Wenn die Vorwarnzeit weniger als zwei Stunden beträgt, akzeptieren wir nur noch dieses Tor.

TEC21: Permanente Schutzvorkehrungen fügen sich nicht immer harmonisch ein. Ist ein Trend hin zu mobilen und flexiblen Schutzmassnahmen feststellbar?

Dörte Aller: Von einem Trend zu sprechen, ist übertrieben. Mobile Schutzmassnahmen stellen bei bestehenden Gebäuden manchmal die einzig verhältnismässige Lösung dar. Die Erfahrung aber zeigt. Sie sind nicht unbedingt wirksam, wenn sie nicht über eine automatische Steuerung verfügen. Das Konzept des Nidwaldner Tors ist ein guter Kompromiss. Der Grundsatz, wenn immer möglich bauliche Lösungen zu bevorzugen, gilt jedoch nach wie vor. Denkbar sind auch Kombinationen. Mit dem Anheben des Umgebungsgeländes um wenige Zentimeter gewinnt man Zeit. Im Ereignisfall hilft dies, die ergänzenden mobilen Massnahmen zu aktivieren.

TEC21: Setzen wir das Geld in der Prävention am richtigen Ort ein? Mehr als ein Drittel der durch Naturereignisse entstandenen Gebäudeschäden sind beispielsweise auf Hagel zurückzuführen.

Beat Meier: Bei Hagelschäden ist das Bewusstsein von Planern und Bauherrn leider noch sehr gering. So ist in der Regel nicht bekannt, dass bei der Nidwaldner Sachversicherung lediglich funktionale Schäden versichert sind. Für ästhetische Beeinträchtigungen besteht kein Versicherungsschutz. Im Schadensfall gibt es dann jeweils lange Gesichter.

Niklaus Reinhard: Ehrlich gesagt war mir das bisher auch nicht so richtig bewusst. Wir Architekten können das Risiko von Hagelschäden aber beeinflussen und die Bauherren darauf hinweisen.

Dörte Aller: Hagelkörner hinterlassen Spuren an Fassaden und Storen, nicht aber in den Medien, mit Ausnahme der Folgen für landwirtschaftliche Kulturen. Die wertmässig grössten Schäden entstehen aber an Autos und Gebäuden. Bauweise und Materialien haben sich über Jahrzehnte verändert. Hagelkörner mit mehr als 2 cm Durchmesser beschädigen die Fassade oder das Garagentor. Ein automatisches Hagelwarnsystem für Storen oder robustere Materialien können die Schadensempfindlichkeit jedoch reduzieren. Das Hagelregister gibt Auskunft über die Hagelwiderstände von Baumaterialien.

TEC21: Wo stehen wir beim «naturgefahrengerechten» Bauen in 20 Jahren? Was ist Ihre Vision?

Niklaus Reinhard: Das Hauptziel müsste sein, dass sich das Siedlungsgebiet nicht mehr so wie in den letzten Jahrzehnten dorthin ausdehnt, wo die Gefahren sind. Bei den Architekten hat das «naturgefahrengerechte» Bauen nicht oberste Priorität; es ist lediglich ein Thema unter vielen. Doch die Behörden werden es durchsetzen.

Beat Meier: Ich wünsche mir, dass Bauherrschaften stärker in Planungsprozesse eingebunden werden. Heute unterschreiben in der Regel Fachingenieure oder Architekten die geforderten Nachweise zu den Naturgefahren. Manchmal wissen Bauherren nichts davon, und teilweise wird es nicht verlangt. In Nidwalden müssen seit einem halben Jahr auch die Bauherren unterschreiben. Passen wir nicht auf, passiert das Gleiche wie beim Wärmenachweis: viel Bürokratie und eine oft mangelhafte Umsetzung.

Dörte Aller: Mein Wunsch ist, dass, wenn auch die Naturgefahren heute nicht oberste Priorität besitzen, weil andere Fragen dringender sind, dies auch in 20 Jahren so sein wird. Weil wir es geschafft haben, die Naturgefahren derart in die Abläufe zu integrieren, dass der Gebäudeschutz selbstverständlich ist und verhältnismässige Massnahmen eingesetzt werden. Auch hoffe ich, dass nicht noch weitere Schutzverbauungen die Landschaft verschandeln, sondern sich Gestaltungspläne und Massnahmen an den Gebäuden optimal ins Ortsbild einfügen. Zudem dürfen die Vorgaben nicht so detailliert werden wie beim Brandschutz. Gute Lösungen zum Schutz vor Naturgefahren basieren auf individuellen und auf den Kontext bezogenen Abklärungen.

2. Dezember 2016 TEC21

Energieregionen gehen voran

Bei der Realisierung von neuen Energieanlagen ist es entscheidend, im Gespräch nach guten, landschaftsverträglichen Lösungen zu suchen. Die Energieregionen müssen noch stärker als bisher eine Plattform für den Dialog bieten.

Wesentliche Pfeiler der Energiestrategie des Bundes sind die Förderung der ­erneuerbaren Energien sowie eine ­Verbesserung der Energieeffizienz. Letzteres ist unumstritten, Initiati­ven für neue Energieanlagen hingegen stossen oft auf Widerstand. Sie können das Landschaftsbild beeinträchtigen, das Ortsbild stören oder sich negativ auf natürliche Ökosysteme auswirken. In diesem Spannungsfeld sind lokale Lösungen gefragt, die das übergeordnete Ziel der Energiewende näher bringen. Auf kommunaler und regionaler Ebene wollen Energiestädte und Energieregionen solches bewirken. Seit 2012 werden sie vom Bundesamt für Energie mit dem Programm «EnergieSchweiz für Gemeinden» unterstützt. Diesen Sommer 2016 wurde das vierjährige Förderprogramm erneuert; 24 Energieregionen nehmen daran teil.

Der Toggenburger Pionierweg

2009 gründeten einige Pioniere das Energietal Toggenburg (vgl. TEC21 15-16/2012). Die Initianten verfolgen das visionäre Ziel, das Tal bis im Jahr 2034 von Energieimporten unabhängig zu machen. Bis 2059 soll zudem die 2000-Watt-Gesellschaft Realität werden. «Erfolgreich waren wir in den letzten Jahren bei der Solar­energie und den Wärmeverbünden», erläutert Thomas Grob, Präsident und Geschäftsführer des Energietals Toggenburg. Solarenergieprojekte sind attraktiv, weil die Menschen direkt miteinbezogen und so auch für das Energiethema sensibilisiert werden können.

Der in den Toggenburger Gemeinden produzierte Solarstrom summierte sich 2013 auf 756 300 kWh. 2015 waren es bereits 1 305 600 kWh, was einer Zunahme von 73 % entspricht. Pro Kopf sind es 288 kWh, mehr als doppelt so viel wie im Schweizer Durchschnitt (der Stromverbrauch pro Kopf beträgt in der Schweiz etwa 7500 kWh). Dazu tragen einige grosse PV-Anlagen auf Fabrik- und Gewerbedächern bei, aber auch die Anzahl kleiner Anlagen auf Einfamilienhäusern ist beachtlich. Das Potenzial auf den Gewerbe- und Industriebauten sei noch lang nicht ausgeschöpft, sagt Grob. «Im Moment stockt aber der weitere Ausbau, weil im Rahmen der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) aufgrund fehlender Mittel und der langen Wartelisten kaum neue Projekte zur Realisierung freigegeben werden können.» Zudem ist die Zukunft der KEV ungewiss. Das Parlament hat entschieden, dass diese ausläuft und durch andere Instrumente ersetzt werden soll.

Die 24 Wärmeverbünde beziehen ihr Holz primär aus Toggenburger Wäldern. Die grösste Anlage steht in Nesslau und wandelt jedes Jahr den Energie­inhalt von 25 000 m³ Holzschnitzeln und Sägereiabfällen in 2400 MWh Strom und 10 000 MWh Wärme um. In Wattwil nahm im September ein neuer Wärmeverbund den Betrieb auf. Für die Produktion von 11 000 MWh Wärme wird die Anlage in einem Jahr im Endausbau 19 000 m³ Holzschnitzel benötigen.

Erfolge sind auch bei der Kleinwasserkraft zu verzeichnen. Bis auf ein ehemaliges Wasserkraftwerk in Lichtensteig sind alle bestehenden Anlagen reaktiviert worden. «Bei alten Anlagen besteht ein gewisser Spielraum, insbesondere wenn sich mit der Erneuerung auch ökologische Verbesserungen erzielen lassen», erläutert Thomas Grob. Neue Anlagen in bisher unberührten Bächen hingegen seien aufgrund der restriktiven Haltung der Bewilligungsbehörden und des Widerstands aus Naturschutzkreisen praktisch unmöglich. Im Toggenburg sind denn auch drei Projekte in Nesslau, Ebnat-Kappel und Krummenau gescheitert.

Wenig Windenergie

Bisher sind im Toggenburg erst wenige Windräder in Betrieb. Der Kanton St. Gallen führte eine Planung für die Windenergie durch, die aber noch nicht veröffentlicht ist. In der Region sind einige wenige Standorte denkbar; es wird in absehbarer Zeit sicher nicht ein Windpark neben dem anderen entstehen. Die jüngste Windturbine steht beim Bergrestaurant Gamplüt oberhalb von Wildhaus. Der Besitzer betreibt die Gondelbahn bereits mit eigenem Solarstrom, und der aus dem Wind gewonnene Strom ergänzt nun die eigene Produktion in idealer Weise.

Für den Bau der Anlage kämpfte Peter Koller mehrere Jahre gegen den Widerstand des Heimatschutzes. Realisieren konnte er nun ein Windrad mit sechs Rotorflügeln und einer Leistung von 80 kW. «Von den Gästen im Restaurant habe ich bisher nur positive Rückmeldungen erhalten», freut sich Koller. Die Anlage kann bereits bei schwachem Wind Strom produzieren. Sie ist leiser als herkömmliche Turbinen, und Vögel und Fledermäuse sollen sie angeblich als Scheibe wahrnehmen und deshalb ausweichen.

Das Energietal Toggenburg zeigt mit Konzepten auf, was möglich ist. Beispielhaft ist etwa das Regionale Energiekonzept der Energiestadtregion Obertoggenburg. Bei den erneuerbaren Energien will man vorwärts machen. Der Kurs stimmt, die ehrgeizigen Ziele sind aber noch lang nicht erreicht. «Wir wollen nicht die ganze Landschaft des Toggenburgs der Energie­gewinnung opfern», sagt Grob. «Wenn wir aber die Energiewende schaffen wollen, dann müssen wir auch zu gewissen landschaftlichen Opfern bereit sein», ist er überzeugt.

Erfolge auch im Goms

Ebenfalls vor etwa zehn Jahren gründeten engagierte Personen im Oberwallis die energieregionGoms. Im Goms stellt die Landschaft das Kapital für den Tou­rismus dar. Wie geht man mit dem Spannungsfeld von neuen Energieanlagen, Landschaft und Natur um? ­Dionys Hallenbarter, Mitbegründer der Energieregion und eine der treibenden Kräfte, sagt dazu, man müsse jedes Projekt einzeln betrachten. Einen anderen Weg gebe es nicht.

Den Beitrag der Energieregion, bei der alle Gemeinden im Goms mitmachen, sieht Hallenbarter unter anderem auch in einer moderierenden Rolle. Zum Teil wollen die Gemeinden selber Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien realisieren, sähen sich dann aber oft mit kritischen Stimmen aus dem Lager der Natur- und Umweltschutzorganisationen konfrontiert. «Die Kontrahenten sprechen oft eine völlig andere Sprache», sagt Hallenbarter. Gelinge es, die Basis für ein sachliches Gespräch zu legen, so zeichneten sich oft Lösungen ab. Dieser Prozess benötige aber Zeit. Und es gibt auch Fälle, wo kein Kompromiss gefunden wird, sodass die Gerichte eine Entscheidung herbeiführen müssen (vgl. Kasten unten).

Erfolge verzeichnete man im Goms bei der ­Förderung von Solardächern. In Ernen ist auf der Basis von Holzschnitzeln ein Wärmeverbund entstanden, der das ganze Dorf mit Wärme versorgt. Auch die Energieeffizienz ist wichtig. Ein neues Projekt widme sich der Baukultur, sagt Hallenbarter. Die alten Häuser seien zwar schön und charakteristisch fürs Goms, aus ­energetischer Sicht aber problematisch. Mit der Berner Fachhochschule wird aktuell abgeklärt, wie die Kosten für eine energetische Sanierung reduziert werden ­können. «Wir wollen herausfinden, wie sich alte Häuser isolieren lassen und wie beispielsweise ein Gommer Fenster aussieht», erklärt Hallenbarter. Ein anderes Projekt bietet Energieexkursionen im Goms in Kom­bination mit Workshops an. Hier ergeben sich auch Synergien mit dem Tourismus.

Einigung nach intensiven Gesprächen

2012 baute die Walliser Firma SwissWinds Development beim Nufenenpass die höchstgelegene Windenergie­anlage Europas. Sie befindet sich in unmittelbarer Nähe des Griessees, der bereits für die Wasserkraft genutzt wird. Bei der Erweiterung des Windparks mit drei 131 m hohen Turbinen mit einer Leistung von je 2.35 MW war der Landschaftsschutz für einmal kein Thema. Der WWF forderte aber einen besseren Schutz für Fledermäuse, insbesondere für die seltene Bulldoggfleder­maus (Tadarida teniotis). Man einigte sich darauf, dass während der aktiven Zeit der Fledermäuse die Anlagen abgestellt werden.

Nach Angaben von SwissWinds liegen die Produktionseinbussen voraussichtlich in einem tiefen einstelligen Prozentbereich. Zudem wird in den ersten drei Betriebsjahren die Fledermausaktivität erhoben. Ziel ist es, die relevanten Zeitperioden für die Fledermäuse zu eruieren und darauf basierend die temporären Abschaltungen zu optimieren. Die vier Windturbinen werden rund 10 GWh Strom pro Jahr produzieren, was einem Verbrauch von ca. 2850 Haushalten entspricht. Ende September 2016 eingeweiht, dürfte der erste Windpark im Wallis in der Schweiz zu einem Vorbild für Windenergieprojekte werden.

Eine weitere Erfolgsgeschichte ist das Wasserkraftwerk in Gletsch, das derzeit durch die Forces Motrices Valaisannes FMV gebaut wird. Auch hier konnte mit den Umweltverbänden eine Einigung erzielt werden. Die Wasserfassung befindet sich in Gletsch; das Wasser wird in einem Stollen nach Oberwald geführt, wo sich die Kraftwerkszentrale befindet. Von dort wird das Wasser in eine bisher stark beeinträchtige Aue der Rhone zurückgegeben. Mit der Gemeinde, den kantonalen Behörden und Umweltverbänden einigten sich die FMV auf die Aufwertung der Auenlandschaft in diesem Gebiet im Umfang von bis zu 2 Millionen Franken. Davon profitiert nicht nur die Natur, sondern auch der Tourismus. Das neue Kraftwerk, das 41 GWh Strom pro Jahr liefert, kostet rund 65 Millionen Franken.

28. Oktober 2016 TEC21

Das Rheintal und sein Fluss

Die Geschichte des Rheintals ist eng mit dem Rhein verknüpft. Der Fluss prägte das Tal, und die Menschen haben den Flusslauf gestaltet. Nun gilt es, den Weg in die Zukunft zu finden.

Vom Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau bis zur Mündung in den Bodensee wird der Rhein auch Alpenrhein genannt. Bei Sargans dreht der Fluss Richtung Norden ab und fliesst durchs Rheintal. Bei Buchs bildet der Rhein die Grenze zu Liechtenstein, später die Grenze zu Vorarlberg. Genauer gesagt, er war einmal die Grenze zu Österreich. Nach mehreren verheerenden Fluten im 19. Jahrhundert und langen Verhandlungen einigten sich die Schweiz und Österreich 1892 darauf, den Rheinlauf zu verkürzen. Deshalb kam das schweizerische Diepoldsau auf die andere Seite des Rheins. Fussach, Höchst und Gaissau wechselten ebenfalls die Seite, gehören aber immer noch zu Österreich. Der Fussacher Durchstich wurde 1900 vollendet, derjenige bei Diepoldsau als schweizerische Gegenleistung 1923.

Im Rheintal sind zahlreiche Überschwemmungen überliefert. Laut einer der ältesten Quellen wurde 1206 die Kirche in Lustenau zerstört. Die drei Hochwasser von 1343, 1566 und 1762 gelten als Extremereignisse. Im 19. Jahrhundert kam es zu mehreren zerstörerischen Hochwassern. Der letzte schlimme Dammbruch im Jahr 1927 führte zu Überschwemmungen in Liechtenstein. Derjenige bei Fussach 1987 hatte hingegen keine grös­seren Schäden zur Folge, schreckte aber auf.

In der Folge liessen die Verantwortlichen der Internationa-­len Rheinregulierung (IRR) die Rheindämme auf ihre Stabilität überprüfen. In den letzten rund 20 Jahren hat die IRR die Dämme auf einer Länge von 40 km mit Dichtwänden und Dammverstärkungen ertüchtigt.

Staatsverträge regeln Zusammenarbeit

Der Abschnitt des Alpenrheins ab der Illmündung bis zum Bodensee wird als Internationale Rheinstrecke bezeichnet. Für diesen 26 km langen Abschnitt ist seit 1892 die IRR zuständig. Die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Österreich ist in drei Staatsverträgen festgehalten.

Der erste Staatsvertrag von 1892 regelte insbesondere die beiden Durchstiche, die Zwischenstrecke und die obere Strecke bis zur Illmündung sowie die Gestaltung des Alten Rheins.

Der zweite Vertrag von 1924 beinhaltete die drohende Verlandung der Fussacher und Harder Bucht. Die Rheinvorstreckung mit zwei langen Dämmen in den Bodensee sollte dies verhindern. Gleichzeitig wollte man einer rückschreitenden Sohlen­anhebung vorbeugen.

Weil aber bereits im Diepoldsauer Durchstich Geschiebeablagerungen stattfanden, beschloss man im dritten Staatsvertrag von 1954 die ­Breite des Mittelgerinnes ab Kriessern/Mäder von 110 auf rund 70 m zu verringern sowie die äusseren Hochwasserdämme zu erhöhen, zu verstärken und zurückzu­versetzen, um einen höheren Abfluss zu ermöglichen.

Und nun wird im Rahmen des Projekts Rhesi (Rhein – Erholung und Sicherheit) ein weiterer Staatsvertrag angestrebt, damit die Abflusskapazität von heute 3100 auf 4300 m³/s erhöht werden kann. Im April 2016 gaben die zuständigen Stellen grünes Licht, die Planungen voranzutreiben. Bis Ende 2017 ist ein konkreter Vorschlag auszuarbeiten. Dieser soll als Grundlage für die Verhandlung des vierten Staatsvertrags dienen, der die Schweiz und Österreich auf ein gemeinsames Vorgehen verpflichtet und die «Spielregeln» festlegt.

Können sich die beiden Staaten einigen, so wird der Geschichte des grossen Flussbauwerks im 21. Jahrhundert ein weiteres Kapitel hinzugefügt.

28. Oktober 2016 TEC21

Zwischen allen Fronten

Das Projekt Rhesi (Rhein – Erholung und Sicherheit) will in erster Linie den Hochwasserschutz verbessern. Noch dominieren die ­Partikularinteressen. Dass Rhesi dem Rheintal eine einmalige ­Chance bietet, ist der Bevölkerung noch zu wenig bewusst.

Wer den Alpenrhein bei St. Margrethen überquert, staunt über die Flussbreite. Das Mittelgerinne misst hier zwar nur rund 60 m; auf beiden Seiten schlies­sen sich aber ähnlich breite Vorländer an. Sie werden durch die Aussendämme begrenzt und sind nur bei Hochwasser überflutet. In den Vorländern wächst üppiges Gras. Der landwirtschaftliche Ertrag wird durch Dünger gesteigert; von extensiver Nutzung keine Spur.

Grosses Schadenpotenzial

Auf österreichischer Flussseite liegt Lustenau. Zahlreiche Bauten schmiegen sich an den Aussendamm. Von den mehrstöckigen Häusern aus können die Bewohner den Rhein sehen, und wenn er viel Wasser führt, kann einem schon angst und bange werden. Vor fast 30 Jahren brach im untersten Abschnitt nördlich von Fussach der linke Rheindamm. Die Sache ging glimpflich aus, die Fluten beschädigten lediglich Freizeiteinrichtungen.

Kommt es im Rheintal zu einer Überflutung, dann liegen die Schäden in Milliardenhöhe – auf Schweizer Seite bei geschätzten 2.5 und auf österreichischer Seite bei 3.2 Milliarden Franken (vgl. Überflutungs-Visualisierung). Betriebsunterbrüche sind dabei nicht eingerechnet. Sofern die Dämme im oberen Rheintal halten, wird das Wasser durchgeleitet. Ab Diepoldsau wird es kritisch, denn die Abflusskapazität verringert sich in diesem Abschnitt auf rund 3100 m³/s – das entspricht einem Hochwasser mit einer Wiederkehrperiode von 100 Jahren. «Fliesst mehr Wasser ab, so kommt es in diesem Nadelöhr zu einem Rückstau, und Widnau, Diepoldsau, Au, St. Margrethen und Lustenau stehen, je nachdem, auf welcher Seite der Rheindamm zuerst überströmt wird, zu einem grossen Teil unter Wasser», sagt der Schweizerische Rheinbauleiter Daniel Dietsche.

Kurt Fischer ist Bürgermeister von Lustenau. «Die Bevölkerung realisiert langsam, was passieren könnte», sagt er und bezieht sich auf eine im Januar 2015 durchgeführte Umfrage. Diese ergab, dass die ­Menschen in Lustenau ein Hochwasser zwar für eher unwahrscheinlich halten, sollte es aber eintreten, dann erwarten sie hohe Schäden. Bräche der Damm in Lustenau, würden grosse Teile des Siedlungsgebiets innerhalb von ein bis drei Stunden überflutet. Das letzte Mal sei dies in Lustenau 1888 und 1890 der Fall gewesen, sagt Fischer.

Mit seinem Team hat er in den letzten Jahren für seine Gemeinde einen Katastrophenschutzplan erarbeitet. Im August 2015 präsentierte er der Bevölkerung am Rheindamm die Ergebnisse der Umfrage. Das Interesse war so gross, dass Gemeinde und Rettungskräfte die Bevölkerung am 11. September 2016 zu einem Hochwasserschutztag einluden. Der Anlass war ein Riesenerfolg. Die Besucher konnten unter anderem ihre Wohnadresse eingeben und am Computer Überflutungsszenarien durchspielen lassen.

Das Projekt Rhesi

Um den Rhein und seine Dämme kümmert sich von der Illmündung bis zum Bodensee die Internationale Rheinregulierung (IRR). Geführt wird die IRR durch die Gemeinsame Rheinkommission (GRK), die aus je einem Vertreter der Republik Österreich, der Eidgenossenschaft, des Bundeslands Vorarlberg und des Kantons St. Gallen besteht.[1]

Bereits 2005 verabschiedete die IRR zusammen mit der Internationalen Regierungskommission Alpenrhein (in dieser sind die Kantone Graubünden und St. Gallen, das Fürstentum Liechtenstein sowie das Bundesland Vorarlberg vertreten) das Entwicklungskonzept Alpenrhein. Es enthält einen Massnahmenkatalog zur nachhaltigen Entwicklung des Alpenrheintals. Das erste grosse Umsetzungsprojekt ist Rhesi: Rhein – Erholung und Sicherheit.

Das Hauptziel von Rhesi ist die Erhöhung der Abflusskapazität[2] von derzeit 3100 auf 4300 m³/s sowie die Beherrschung des Überlastfalls (vgl. «Randvoll, nur nicht brechen»). Das Schutzziel, auch ein Hochwasser mit einer Wiederkehrperiode von 300 Jahren sicher zwischen den Dämmen ableiten zu können, wird mit dem hohen Schadenpotenzial begründet. Weitere Ziele von Rhesi sind es, den heute sehr schlechten ökologischen Zustand des Alpenrheins zu verbessern sowie attraktivere Erholungsmöglichkeiten zu schaffen, etwa einen besseren Zugang zum Wasser. Die Trinkwasserversorgung, die zu einem beträchtlichen Teil auf Grundwasserfassungen im Rheinvorland beruht, muss sowohl während der baulichen Eingriffe als auch danach in Menge und Qualität gesichert sein.

Im April 2016 legte die GRK die Eckwerte für das Generelle Projekt fest. Nach den Varianten­studien ist damit sozusagen der Startschuss für die Ausarbeitung eines konkreten Projekts gefallen.Es muss den gesetzlichen Anforderungen beider Staaten Rechnung tragen und ist von beiden zu genehmigen. Damit Rhesi umgesetzt werden kann, bedarf es eines vierten Staatsvertrags zwischen Österreich und der Schweiz. Die ­Gesamtkosten werden auf 600 Millionen Franken geschätzt.
Mehr Platz für den Alpenrhein

Zu den Eckwerten gehört, dass die Abflusskapazität nicht durch Dammerhöhungen oder Ausbaggerungen im Mittelgerinne gewährleistet wird, sondern durch die dafür erforderliche Abtragung der Rheinvorländer. «Wir wollen den Flusslauf möglichst naturnah gestalten. Ausnahmen sind nur bei Nutzungen vorgesehen, die zwingend im Vorland stattfinden müssen», erläutert Markus Mähr, der Projektleiter von Rhesi bei der IRR. Zudem werden ergänzend an drei Stellen sogenannte Dammabrückungen vertieft geprüft (vgl. Karte). Dort würden die Dämme vom Gewässer weg verlegt, was grössere Flussbreiten und das Aufwachsen von Auenwäldern ermöglicht.

Dem jetzt angepeilten Konzept haben sich die Projektverantwortlichen in Schritten angenähert. Aus sechs Basisvarianten entstanden zwei Kombivarianten, die die angestrebte höhere Abflusskapazität erfüllen. Die eine trug insbesondere der Ökologie Rechnung, während die andere weiterhin von einer starken Nutzung der Vorländer ausging. Bei der ökologischen Variante hätten mehrere Trinkwasserbrunnen in den Vorländern aufgehoben und verlegt werden müssen. Die Präsen­tation im Herbst 2012 führte zu einem Aufschrei der Landwirtschaft sowie der Gemeinden und Trinkwasser­versorgungen, deren Grundwasserfassungen davon betroffen gewesen wären. Aufgrund des Widerstands entschied die GRK, dass in Begleitplanungen die Themen Grund- und Trinkwasser, Landwirtschaft, Dammstabilität und Materialbewirtschaftung separat untersucht werden sollen.

Inzwischen hat sich die Zusammenarbeit mit den Gemeinden und Trinkwasserversorgungen verbessert. Man sucht gemeinsam nach Lösungen. Den Bauern ist ihrerseits klar, dass sie auf einen Teil des gepachteten Lands in den Vorländern verzichten müssen. Als Eigentümer können der Kanton St. Gallen und der Staat Österreich dieses Land selber beanspruchen. Und die Wiesen in den Vorländern werden, falls sie erhalten bleiben, künftig sowieso extensiv und ohne Düngung zu bewirtschaften sein.

Die Festlegung des Gewässerraums, der auf Schweizer Seite aufgrund der Gewäs­serschutz­gesetz­gebung vorzunehmen ist, erfolgt hier parallel mit dem Projekt Rhesi. Nach aktuellem Planungstand verliert die Landwirtschaft in den Vorländern 200 bis 240 ha Wiesland. Das entspricht rund einem Prozent des gesamten Landwirtschaftslands in der Region. Synergien ergeben sich jedoch, wenn das in den Vorländern ausge­hobene Erdmaterial zur Bodenverbesserung der Felder ausserhalb der Rheindämme verwendet wird. Von Fluss­aufweitungen und Dammabrückungen wollen die Bauern auf beiden Seiten des Rheins jedoch nichts wissen.

Ökologische Trittsteine und Aufweitungen

Die Naturschutzorganisationen hingegen setzen sich für möglichst viel Land für die Natur ein. Sie fordern zwar nicht den ursprünglichen Naturzustand, der Flussbreiten von 300 m und mehr bedeutete. Aber sie pochen auf die konsequente Umsetzung des sogenannten Tritt­steinkonzepts. Weil nicht auf der ganzen Länge des Flusses optimale ökologische Bedingungen wiederhergestellt werden können, sind in regelmässigen Abständen ökologische Trittsteine zu schaffen. Damit das Konzept funktioniert und eine natürliche Wiederbesiedlung durch Tier- und Pflanzenarten erfolgen kann, dürfen die Trittsteine nicht zu weit auseinander liegen und müssen 250 bis 350 m breit sein. Trittsteine bedeuten nicht zwingend Dammabrückungen, zum Teil ist genügend Platz zwischen den Aussendämmen vorhanden.

Gelingt es, einige Stellen mit sehr grossen Flussbreiten und Auenwäldern zu schaffen, lässt sich das Trittsteinkonzept einfacher umsetzen. Doch die Gemein­den sehen für Aufweitungen ausserhalb der bisherigen Dämme kaum Spielraum. «Die Dammabrückungen sind die umstrittensten unter den vorgeschlagenen Massnahmen», sagt Markus Mähr. Grosses ökologisches ­Potenzial für eine Aufweitung bietet der Bereich, wo die Frutz in den Rhein mündet.

Heute befindet sich dort eine hohe Schwelle, die Fischen den Aufstieg vom Rhein ins Seitengewässer verunmöglicht. Zu klären sind ein möglicher Rückstau des Rheins in die Frutz und vor allem in den Ehbach sowie der Einbezug der existierenden Freizeitflächen. Verloren gingen auch Flächen, die für den Gemüseanbau genutzt werden. Die Stelle bietet sich für eine ökologische Aufwertung aber an, weil die Verhandlungen mit lediglich drei Grundeigentümern – zwei Agrargenossenschaften und der Gemeinde Koblach – geführt werden müssen.

Ganz anders präsentiert sich die Situation in Hard-Fussach. Dort würde Land von mehr als zwanzig Grundeigentümern beansprucht, die teilweise fundamental gegen diese Aufweitung sind. Enteignungen wären wohl unumgänglich. Eine Rolle spielt hier, dass bereits für den Durchstich vor 120 Jahren Land zur Verfügung gestellt werden musste. Der ökologische Trittstein wäre aber wichtig, um die Vernetzung von Bodensee und Alpenrhein zu gewährleisten. Auch Diepoldsau musste vor hundert Jahren Land für die Verkürzung des Flusslaufs hergeben. Hier würden für die Aufweitung zudem bis zu 15 ha Fruchtfolgeflächen benötigt, also ackerfähiges Land.

Die Aufweitungen in Diepoldsau und Fussach sind auch in Zusammenhang mit den engen Verhältnissen dazwischen zu sehen. Hier wird es nämlich schwierig, genügend Raum für ökologische Aufwertungen zu finden. Allein schon die für den erforderlichen Abflussquerschnitt nötige Flussbreite von knapp 120 m zu erreichen ist eine Herausforderung. In diesem Abschnitt befinden sich bei Widnau im Vorland sechs Trinkwasserbrunnen. Daran schliessen sich flussabwärts die­jenigen von Au, St. Margrethen und Höchst an; auf der anderen Seite befinden sich ebenfalls im Vorland die­jenigen von Lustenau (vgl. Karte).

Einige dieser Grundwasser­fassungen liegen für das Projekt Rhesi sehr ungünstig. Deshalb finden ­zwischen Widnau und Höchst koordinierte hydrogeologische Untersuchungen über die Grundwasserverhältnisse beidseits der Landesgrenze statt. Sie sollen aufzeigen, welche Brunnenanlagen versetzt werden können. Dafür werden mögliche Stand­orte im Vorland und ausserhalb der äusseren Dämme untersucht. Die Ergebnisse fliessen in die regionale Massnahmenplanung zur Trinkwasserversorgung ein. Beurteilt wird dabei auch der künftige Bedarf an Trinkwasser im Rheintal sowie die Ersatzwasserbeschaffung während der Bauphase, wenn betroffene Brunnenfelder aus Sicherheitsgründen vorübergehend ausser Betrieb genommen werden müssen.

Zankapfel Trinkwasserbrunnen

Das Wasserwerk Mittelrheintal sowie die Wasserversor­gungen Diepoldsau, St. Margrethen-Rheineck, Höchst und Lustenau beliefern rund 80 000 Menschen sowie Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft. Auch haben sich Firmen angesiedelt, die viel Wasser benötigen, in Widnau beispielsweise ein grosser Getränkehersteller.[3]

«Ohne eine qualitativ und quantitativ gleichwertige Trinkwasserversorgung mit entsprechenden Zukunftsreserven kann Rhesi nicht umgesetzt werden», sagt Christa Köppel, die Gemeindepräsidentin von Widnau. Als Präsidentin des Wasserwerks Mittelrheintal stellt sie klar, dass die bestehenden Wasserfassungen im Rheinvorland bestehen bleiben müssen und dort auch notwendige Neuanlagen gebaut werden können. Ausserhalb des Hochwasserdamms sei es infolge der Siedlungsdichte und der Verkehrswege kaum möglich, neue Schutzzonen für Trinkwasserfassungsanlagen auszuscheiden.

Eine Verschiebung in den ­bestehenden Brunnenfeldern hingegen ist laut Köppel eine mögliche Op­tion, sofern valable Ersatzstandorte gefunden werden. Regionale Versorgungskonzepte seien wichtig, auch grenzüberschreitende Optionen sollten miteinbezogen werden. Ungeeignet seien hingegen Wasserlieferungen aus einem Seewasserwerk am Bodensee oder aus einem grossen Pumpwerk in Buchs oder Sargans.

Gemäss dem Leitbild 2014 für die Wasserversorgung im Kanton St. Gallen soll sich die Trinkwasser­gewinnung auf örtliche Vorkommen abstützen. Für die Wasserversorgung sind die Gemeinden zuständig. «Die Wasserfassungen im Rheinvorland sind historisch gewachsen», sagt Markus Oberholzer vom Amt für ­Umwelt und Energie des Kantons St. Gallen. Ausserhalb des Rheinvorlands gebe es zwar auch Fassungen. Doch aufgrund von feinkörnigen und schlecht durchlässigen Verlandungssedimenten mit organischen Beimengungen wie Torf sei das Grundwasser im Rheintal oft sauer­stoffarm und deshalb für die Trinkwasser­gewinnung nicht oder nur bedingt geeignet.

2014 deckten die Wasserfassungen in den Rheinvorländern etwa 60 % des Wasserbedarfs im unteren Rheintal; in einzelnen Gemeinden dürfte dieser Anteil deutlich grösser sein. Im kantonalen Richtplan sind die Fassungen denn auch als wichtige Wassergewinnungsanlagen aufgeführt. Markus Oberholzer sieht im Projekt Rhesi aber gerade für die Wasserversorgungen eine grosse Chance. Die Abhängigkeit von rheinnahen Fassungen sei teilweise sehr hoch. Darauf verzichten könne man zwar nicht, doch wäre es seiner Meinung nach sinnvoll, den Anteil an Trinkwasser aus Fassungen ausserhalb des Nahbereichs des Rheins zu vergrössern. So ist denn auch seit Längerem ein neues Grundwasserpumpwerk im Raum Oberriet vorgesehen.

Bei Trinkwasserfassungen in Flussnähe kann eine erhöhte Gefährdung bestehen. Gemäss der Gewässerschutzverordnung des Bundes ist beispielsweise die Zone S2 von Grundwasserschutzzonen so zu dimensionieren, dass die Fliessdauer des Grundwassers vom Rand der Zone S2 bis zur Grundwasserfassung mindestens zehn Tage beträgt und diese in Zuströmrichtung eine Ausdehnung von mindestens 100 m aufweist.

Bei den bestehenden Fassungen in den Vorländern verläuft der Alpenrhein oftmals in der Zone S2, was seitens der Wasserversorger zusätzliche Massnahmen bezüglich der Überwachung und Aufbereitung erfordert. Es besteht jedoch keine Vorschrift, deswegen eine Grundwasserfassung aufzuheben. Die Qualitätsanforderungen der Lebensmittelgesetzgebung müssen aber stets erfüllt sein. Laut Oberholzer weist das Trinkwasser aus dem Grundwasserstrom des Alpenrheins im kantonalen Vergleich eine überdurchschnittlich gute Qualität auf.

Unzufriedene Naturschützer

Gar nicht zufrieden mit dem Projektverlauf sind die Naturschutzorganisationen. «Wir sind der Meinung, dass die Verlegung der Trinkwasserfassungen aus dem Rheinvorland nicht ernsthaft geprüft wird», sagt Lukas Indermaur vom WWF Regionalbüro in St. Gallen. «Es darf nicht sein, dass bei einem Jahrhundertprojekt die offensichtlich machbare Verlegung von Infrastrukturen tabuisiert wird und eine politische Interessenabwägung vorweggenommen wird.» Nach Ansicht der Naturschutzorganisationen müssen nicht alle Brunnen weg. Diejenigen bei Widnau sind ihnen aber ein Dorn im Auge, weil so auf einer viel zu langen Flussstrecke die ökologischen Minimalan­forderungen nicht erfüllt werden.

Auch der ungünstig gelegene Brunnen am Rheinspitz zwischen dem Neuen Rhein und der Rheinschleife bei Diepoldsau muss in ihren Augen weichen. Dass die Verlegung von Trinkwasserbrunnen unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann, zeigt etwa ein Bundesgerichtsentscheid im Kanton Aargau.[4] Um das Misstrauen der Naturschützer aufzufangen, wäre es wichtig, die Ergebnisse der separat durchgeführten Trinkwasseruntersuchungen nach ihrem Abschluss 2017 zu veröffentlichen, denn diese bilden eine zentrale Planungsgrundlage. Doch die Naturschutzorganisationen stellen sich bereits auf eine gerichtliche Auseinandersetzung ein, und sie sagen dies auch öffentlich. Rhesi droht das Damoklesschwert der Verbandsbeschwerde nach dem Umweltschutzgesetz.

Und so stellt sich die Kardinalfrage, wo die rote Linie liegt. Wann wird die Genehmigung des Projekts aus ökologischer Sicht infrage gestellt? Die schweizerischen Gesetze und die EU-Wasserrahmenrichtlinie liefern dazu keine eindeutige Antwort. Klar ist, dass bei baulichen Eingriffen in die Gewässer diese ökologisch aufzuwerten sind. Die EU-Wasserrahmenrichtlinie gibt als Ziel «das Erreichen des guten ökologischen Potenzials» vor. Und in der Schweiz schreiben sowohl das Wasserbau- als auch das Gewässerschutzgesetz vor, dass «bei Eingriffen in das Gewässer dessen natürlicher Verlauf möglichst beibehalten oder wiederhergestellt» werden muss.

Doch was heisst das konkret? Die Projekt­verantwortlichen müssen sich an die Anforderungen herantasten. Auf Schweizer Seite gibt es aber mit den Sanierungen des Linthwerks und des Hagneckkanals sowie dem Rhoneprojekt immerhin bereits einige wertvolle Erfahrungen.

Wo bleibt die Vision?

Leider wird Rhesi im Rheintal noch zu wenig als einmalige Chance wahrgenommen. Im Schlepptau des Hochwasserschutzprojekts könnten die Gemeinden ihre Trinkwasserversorgung nämlich auf eine solidere Grundlage stellen, und bei der Erholung liessen sich deutliche Aufwertungen erzielen, die gleichzeitig auch der Natur zugutekämen. Und so fragt man sich: Wird hier eine ­Chance vergeben? Wo bleibt die Vision? Wieso gelingt (in der Schweiz) nicht auch einmal ein grosser Wurf?

In Lustenau, das von den Anrainergemeinden am engsten mit dem Fluss gelebt hat, gibt es ein altes Volkslied. Da heisst es: «Wir leben an dem schönen Rhein / und trinken Most und sauren Wein / im schönen Lustenau. Und auf den Rhein, da sind wir stolz, er bringt uns alle Jahre Holz / für Haus und Hof und Herd. Und kommt der Rhein ins Dorf herein, so solls in Gottes Namen sein, wir fassen frischen Mut.»

Möge der Rhein wieder schöner werden, als er jetzt ist, und aus seinem engen Korsett befreit werden. Das Problem ist nur, dass unter «schön» nicht alle das Gleiche verstehen. Leider stehen derzeit die Zeichen dafür eher schlecht, dass sich die Akteure auf einen gemeinsamen Weg und ein zukunftsweisendes Projekt einigen können. Vielleicht hilft die Zeit: Bis zum ersten Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich von 1892 dauerte es auch mehrere Jahrzehnte.


Anmerkungen:
[01] Die Gemeinsame Rheinkommission besteht derzeit aus: Urs Kost (Kanton St. Gallen), Vorsitz; Heinz Stiefelmeyer (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien); Hans Peter Willi (Bundesamt für Umwelt, Bern); Walter Sandholzer (Bundesland Vorarlberg).
[02] Wenn mehr Wasser abgeleitet wird als heute, wirkt sich das auf den Wasserstand des Bodensees aus. Aufgrund seiner grossen Fläche dürfte der Pegel aber nur um zwei Zentimeter zusätzlich ansteigen.
[03] 1924 siedelte sich die Kunstseidenfabrik «Viscose» in Widnau an. Produziert wurden erst Kunstseide, dann Zellwolle und zuletzt synthetische Polyestergarne. Dafür wurde viel Wasser benötigt, das die eigenen sechs Viscose-Brunnen im Rheinvorland lieferten. Im Zuge der Globalisierung und des Strukturwandels hat die Firma ihre Tore 2005 definitiv geschlossen. 2002 übernahm das Wasserwerk Mittelrheintal die Viscose-­Brunnen. 2005 eröffnete die Firma Rauch ihre Produktionsstätte in Widnau, in der sie laut Medienberichten pro Jahr 2.5 Milliarden Dosen Red Bull abfüllt.
[04] Das Generelle Projekt im Gebiet Sins-Reussegg sah zugunsten einer Auenlandschaft vor, ein Grundwasserpumpwerk in Sins im Kanton Aargau aufzuheben, eine Ersatzfassung zu erstellen und später auch noch ein zweites Pumpwerk zu schliessen. Dagegen wehrten sich die Wasserversorgungsgenossenschaft sowie die Ge­meinde Auw. Das Bundesgericht bestätigte 2013 das Urteil der Vorinstanz, die befunden hatte, das Interesse der Realisierung der standortgebundenen Auenlandschaft überwiege die Interessen der Erhaltung der Pumpwerke, die auch andernorts gebaut werden können.

Weitere Informationen unter: www.rhesi.org

9. September 2016 TEC21

Hohe Investitionen in die Nordzufahrt

Auf den nördlichen Zufahrtsstrecken zum Gotthard-Basistunnel wird viel Geld in die Abwehr von Naturgefahren investiert. Während an der Rigi der Schutzwald gepflegt werden muss, erstellen SBB und der Kanton Schwyz an der Axenstrecke neue Schutzbauten.

In knapp drei Monaten ist es so weit: Die ersten Züge werden fahrplanmässig durch den neuen Gotthard-Basistunnel rollen. Das Bauwerk hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen (vgl. TEC21 18–19/2016) und wird das auch in Zukunft tun. Dabei geht etwas vergessen, dass SBB, Bund und Kantone auch auf den Zufahrtstrecken viel Geld für die Sicherheit der Bahninfrastruktur und in den Schutz vor Naturgefahren investieren.

Ein erster Brennpunkt auf der Alpennordseite ist der Abschnitt an der Rigi-Nordflanke zwischen Immensee und Arth-Goldau, wo täglich 180 Züge vorbeifahren. Wenn voraussichtlich ab 2018 die Bahnstrecke zwischen Zug und Arth-Goldau auf der anderen Seite des Zugersees ausgebaut wird, werden vorübergehend auch die Züge von und nach Zürich über diesen Ast der Gotthardstrecke umgeleitet.

Oberhalb des Bahntrassees befindet sich mit fast 500 Hektaren der mit Abstand grösste Schutzwald, den die SBB selber besitzen. Er schützt die Bahnlinie – aber auch die Autobahn, die Kantonsstrasse, Starkstromleitungen und diverse Streusiedlungen – vor Stein- und Blockschlag, Rutschungen und Murgängen.

Das Konzept des integralen Risikomanagements zum Schutz der Bahnlinien vor Naturgefahren besteht aus drei Elementen. «Der flächig wirkende Schutzwald ist die Basis», sagt Albert Müller, Leiter Natur und Naturrisiken bei den SBB. Wo dieser die Sicherheit nicht gewährleistet, würden Schutzbauten erstellt. Das dritte Element ist die Überwachung – einerseits durch regelmässige Inspektionen vor Ort, andererseits mit dem laufend ausgebauten elektronischen Alarmsystem. Dank dem kann beispielsweise sofort reagiert werden, wenn ein Stein in ein Schutznetz fällt.

Registriert eine am Netz montierte Naturgefahrenalarmanlage eine schwere Erschütterung, werden die Züge im entsprechenden Abschnitt gestoppt. Bei geringeren Einwirkungen erhalten die Lokführer die Anweisung, das Tempo zu reduzieren, um den Zug notfalls stoppen zu können.

Grosse Investitionen in die Waldpflege

Seit 1980 sind am Nordhang der Rigi laut Müller insgesamt knapp 35 Mio. Fr. investiert worden. In diesem Betrag sind die Kosten für die Erschliessung, die Pflege des Schutzwalds, die Behebung von Sturmschäden und die Erstellung von Schutzbauten enthalten. Da der Schutz vor Naturgefahren eine Verbundaufgabe ist, teilen sich Bund, Kanton und SBB sowie weitere Waldeigentümer die Kosten. In die Schutzwaldpflege und den Erhalt der forstlichen Infrastrukturanlagen werden jährlich etwa 300 000 Franken investiert. Die Bemühungen zahlen sich aus.

«Der Schutzwald befindet sich in einem guten Zustand und erfüllt seine Funktion», sagt Josef Gabriel vom Amt für Wald und Naturgefahren des ­Kantons Schwyz. Im unteren Teil wächst ein gut strukturierter Mischwald mit einem hohen Anteil an Laubhölzern. Dieser wird ab etwa 1000 m ü. M. durch einen Tannen-Buchen-Wald abgelöst. Einige Sorgen bereitet allerdings die künftige Entwicklung des Walds. Derzeit ist unklar, wie gut er sich an den Klimawandel anpassen kann. Ein eingeschleppter Pilz bringt die meisten Eschen zum Absterben.

Und in höheren Lagen haben junge Weisstannen, Bergahorne und Eschen kaum eine Chance aufzuwachsen: Rehe, Gämsen und Rothirsche beissen die Knospen ab, was zu Lücken bei der natürlichen Baumartenverjüngung führt. Da sich das Problem verschärft, erarbeiten die Kantone Schwyz und Luzern ein umfassendes Wald-Wild-Konzept für die gesamte Rigi.

Weil der Schutzwald oberhalb der Bahnstrecke höchste Priorität geniesst, stehen für die Pflege weiterhin finanzielle Mittel zur Verfügung. Laut ­Gabriel ist das Ziel, den guten Zustand zu erhalten und den Schutzwald standortgerecht zu verjüngen. Parallel dazu arbeitet man mit den SBB an einem umfassenden Naturgefahrenprojekt. Dieses ist bei den Bundesbehörden eingereicht, beläuft sich auf 2.8 Mio. Franken und umfasst sämtliche Steinschlagquellen sowie 29 Bäche und temporär wasserführende Gräben (Runsen) an der Nordlehne der Rigi.

Geschiebesammler am Dornibach

Sicherheitsdefizite weist die Gotthard-Nordzufahrt auch im Abschnitt Axen zwischen Brunnen und Sisikon auf. Oberhalb des Urnersees ist der Dornibach ein Brennpunkt, der nun aber entschärft worden ist. Bei den schweren Unwettern im August 2005 verschüttete ein Murgang die Axenstrasse und die Gotthardlinie und lagerte etwa 5000 m³ Material ab. Nach vier Tagen war ein Gleis wieder befahrbar. Der Durchlass unter den beiden Brücken konnte bisher lediglich kleinere Murgänge schadlos in den See durchleiten.

Nach dem Ereignis bauten die SBB ein Überwachungs- und Warnsystem auf, das auch Messeinrichtungen zu Niederschlag und Abfluss sowie eine Videokamera umfasste. In kritischen Situationen konnten SBB-Mitarbeitende «Fahrt auf Sicht» anordnen oder den Zugverkehr stoppen. Diese Massnahmen taugten lediglich als Übergangs­lösung. Im Einzugsgebiet des Dornibachs hat das Gefahrenpotenzial für Murgänge aufgrund natürlicher Erosion in den letzten Jahren zudem zugenommen und wird sich weiter erhöhen. Ein Ereignis wie jenes 2005 kann sich jederzeit wiederholen.

Die SBB arbeiteten deshalb ein Projekt aus, um die Sicherheit an dieser exponierten Stelle unmittelbar bei einem Tunnelportal zu verbessern. Seit diesem Jahr reduziert nun oberhalb der beiden Brücken ein Geschiebesammler mit einem Fassungsvermögen von 10 000 m³ das Risiko deutlich. «Speziell ist, dass der Geschiebesammler aus topografischen Gründen asymmetrisch angeordnet ist», sagt Albert Müller. Normalerweise würden Geschiebesammler zentral zum Gerinne angelegt.

Eine mächtige Murgangbremse sorgt dafür, dass grosse Blöcke abgebremst und das Geschiebe in den Sammler umgelenkt wird. Um eine optimale Wirkung zu ermitteln, erstellte das Institut für Bau und Umwelt an der Hochschule für Technik in Rapperswil ein Modell im Massstab 1 : 50. Der Bau des Geschiebesammlers kostete rund 3.4 Mio. Franken. Mehr als zwei Drittel bezahlte die öffentliche Hand (Bund, Kanton und Bezirk Schwyz); den Rest, etwas weniger als eine Million Franken, übernahmen die SBB.

Das Bundesamt für Strassen (Astra) beteiligte sich an diesem Projekt ebenfalls, aber nur geringfügig. Denn bald beginnt der Bau des neuen Tunnels, der Sisikon vom Nationalstrassenverkehr entlasten wird. Doch just an dieser Stelle wird dafür ein Installationsplatz inklusive Stollenzufahrt benötigt.

Heimtückische Dornirunse

Nur wenig südlich des Dornibachs befindet sich die Dornirunse. Ihr Einzugsgebiet bilden verzweigte Runsen in der steilen, felsigen Flanke des Fronalpstocks. Anders als der Dornibach führt die Dornirunse nur sporadisch Wasser, etwa bei starken Gewittern. Nachdem durch einen Felssturz im November 2008 rund 5000 m³ Gestein ins Runsensystem gelangten, wurde dieses im August des darauffolgenden Jahres durch ein heftiges Gewitter mobilisiert.

Der Murgang zerstörte einen im mittleren Teil der Runse gelegenen Geschiebe­sammler und verschüttete die Strasse nach Riemen­stalden meterhoch. Im unteren Teil drang das Geröll ins Siedlungsgebiet vor und erreichte die Axenstrasse.

Der Kanton Schwyz, auf dessen Gebiet die Dornirunse liegt, erarbeitete daraufhin ein Projekt zum Schutz der Liegenschaften, der Strasse von Sisikon nach Riemen­stalden sowie der Nationalstrasse und SBB-Gotthardlinie. «Den bisherigen Geschiebesammler mit einem Fassungsvermögen von wenigen hundert Kubikmetern ersetzen wir durch einen solchen mit 4000 m³», erklärt Daniel Bollinger, Leiter des Fachbereichs Naturgefahren beim Amt für Wald und Naturgefahren des Kantons Schwyz.

Das Fassungsvermögen des bis zu 11 m hohen Bauwerks mit einer Mauerkronenlänge von rund 70 m könne mindestens das Material für Ereignisse, die statistisch alle 30 Jahre auftreten würden, auffangen. Bei selteneren Ereignissen wird der Geschiebesammler überströmt. Damit das Bauwerk diesen Belastungen standhält, werden dessen Mauern mit 10 bis 15 m langen Ortsbetonbohrpfählen mit einem Durchmesser von 110 cm im Fels fundiert und mit bis zu 25 m langen vorgespannten Ankern zusätzlich gesichert.

Wenn das Fassungsvermögen des neuen Geschiebesammlers bei 100-jährlichen oder noch sel­teneren Ereignissen nicht ausreicht, leiten künftig ­Ablenkdämme das überschüssige Material in den Geschiebesammler des benachbarten Dornibachs. Bisher beobachtete man noch nie gleichzeitig ein Ereignis in der Dornirunse und im Dornibach, und ein Zusammenfallen ist, obwohl die beiden Einzugsgebiete praktisch am gleichen Ort liegen, laut Fachleuten unwahrscheinlich.

«Während in der Dornirunse sich das Material allmählich ansammelt und durch intensive Gewitter mobilisiert wird, lösen beim Dornibach eher lang anhaltende Niederschläge und Rutschungen ins Bachbett Murgänge aus», erläutert Bollinger.

Die Gesamtkosten betragen gut 7 Mio. Franken. Laut Bollinger hat die gewählte Lösung bezüglich des Nutzen-Kosten-Verhältnisses am besten abgeschnitten. Dieses betrage rund 1.7, wobei der Nutzen der gesteigerten Verfügbarkeit der Verkehrsinfrastrukturen nicht eingerechnet sei. Bisher sind die Riemenstalderstrasse als Baustellenzufahrt verstärkt sowie der untere Teil des Ablenkdamms gebaut worden. Nun beginnen die Arbeiten für den neuen Geschiebesammler. Der Aushub wird für den oberen Teil des Ablenkdamms verwendet.

1. April 2016 TEC21

Ein Streifzug durch städtisches Gehölz

Stadtwälder und Parkanlagen bilden das Rückgrat der grünen Infrastruktur urbaner Räume. Urban Forestry umfasst sämtliche Tätigkeiten, die der Entwicklung und P!ege dieser Grünräume dienen. Die interdisziplinäre Aufgabe bringt es mit sich, dass Raumplaner, Förster, Gärtner und Landschaftsarchitekten vermehrt zusammenarbeiten.

Weltweit schreitet die Verstädterung voran. Schon heute lebt mehr als die Hälfte der Menschen urban. Stadtbäume und Wälder sind für die Lebensqualität in Ballungsräumen essenziell. Sie wirken ausgleichend aufs lokale Klima und kühlen während Hitzeperioden. Im Rahmen einer umfassenden Grünraumplanung werden städtische Baumbestände und Wälder zunehmend gemeinsam betrachtet. Getrennte Welten und Einflusssphären beginnen sich zu vermischen. Für das gemeinsame Tätigkeitsfeld gibt es auch Bezeichnungen: Urban Green oder Urban Forests. Doch verbirgt sich hinter diesen Begriffen – abgesehen von der engeren Zusammenarbeit der Disziplinen – wirklich etwas Neues? Oder handelt es sich um alten Wein in neuen Schläuchen?

Mehr als Forstwirtschaft

Urban Forestry ist wesentlich mehr als «Forstwirtschaft in Städten». Es ist ein Sammelbegriff für verschiedene Aktivitäten rund um Bäume, Pärke und Wald im urbanen Raum. Das Konzept, Bäume und Wald als Elemente der grünen Infrastruktur von Städten zu betrachten, stammt aus den USA. Im Zentrum stehen der Schutz und die Entwicklung von Gehölzen und mit Bäumen bewachsenen Flächen im gesamten urbanen Grünraum.Neben den ökologischen und klimatischen Aspekten ist die Freizeit- und Erholungsfunktion zentral.[1]

In Megastädten sind Grünräume auch für Touristen ein Anziehungspunkt: Den Central Park in New York besuchen jährlich 25 Millionen Menschen. Und in dieser Stadt erlebte das Pflanzen von Bäumen in den letzten Jahren dank der «Million Trees Initiative» einen regelrechten Boom. 70 % davon pflanzte die Stadt in Pärken und entlang von Strassen; 30 % steuerten private Personen bei, weshalb die Aktion auch zu einer sozialen Angelegenheit wurde. Nach acht Jahren war im letzten November das Ziel erreicht: Bürgermeister Bill de Blasio pflanzte in der Bronx den millionsten Baum.

In den USA wird der Begriff Urban Forestry interessanterweise oft gemeinsam mit Community Forestry verwendet.[2] Letzterer etablierte sich ursprünglich in Entwicklungsländern und bedeutet, die lokale Bevölkerung bei der Nutzung der Waldressourcen stärker miteinzubeziehen. Wenn aber wie in New York die urbane Bevölkerung zusammen mit den für die Grünräume zuständigen Stellen ihren Lebensraum mitgestaltet, so trifft dies in analoger Weise zu. Auch in Grossbritannien wird diese Komponente stark betont. Wälder ganz auf die Erholungsnutzung auszurichten, ist auf den Britischen Inseln weiter fortgeschritten als in vielen Ländern des europäischen Kontinents.

Und die Schweiz?

In Europa sind Urban-Forestry-Projekte vor allem aus dicht besiedelten Regionen bekannt. Und auch in der Schweiz kommt Bewegung in die Sache. Für Andreas Bernasconi, Mitinhaber des Planungsbüros Pan Bern, handelt es sich um typische Schnittstellenthemen, die interdisziplinär angepackt werden müssen. «In der Schweiz wird die Verzahnung von Siedlungsgebiet und Wald weiter zunehmen», ist er überzeugt. Bei Wäldern, die ans Siedlungsgebiet grenzten oder gar von diesem umschlossen seien, bestehe der gesellschaftliche Hauptzweck in der Regel in der Erholungs- und Freizeitnutzung. Besondere Herausforderungen seien dabei die Bereitstellung der finanziellen Mittel für deren Pflege sowie die widersprüchlichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen im Umgang mit diesen Waldflächen.

In der Schweiz gibt es zahlreiche lokale Initiativen, die sich dem Tätigkeitsfeld von Urban Forestry zuordnen lassen – in der Regel in den Städten. Eine Übersicht dazu fehlt aber. Laut Bernasconi existiert auf nationaler Ebene zurzeit keine explizite Waldpolitik für den urbanen und periurbanen Raum. Eine solche könnte seiner Meinung nach neue Impulse setzen und die vielfältigen Ökosystemleistungen dieser Grünräume stärker ins Bewusstsein rücken. Besonders wichtig seien aber konkrete Beispiele, findet Bernasconi. In Zukunft könnten neue Ideen, so wie in der Architektur üblich, auch über Wettbewerbe ins Spiel gebracht werden.

Abschied von der Kielwassertheorie

Viel Erfahrung in der Bewirtschaftung stadtnaher Wälder hat Baden. Für Georg Schoop, den langjährigen Stadtförster, sind städtische Parkanlagen und Wald in einem Kontext zu sehen. Er unterstreicht aber den unterschiedlichen Charakter von Park und Wald. Während Ersterer architektonisch gut gestaltet sein müsse, stehe beim Wald das Ökosystem im Vordergrund.

In Ballungsräumen werde die Holzproduktion zunehmend sekundär, sagt Schoop. In Baden würden nur noch 15 % der Einnahmen aus dem Holzverkauf stammen. Den Löwenanteil generierten Dienstleistungen sowie projektbezogene Beiträge der öffentlichen Hand und von Sponsoren. Diese Entwicklung begann 1987, als sich die Ortsbürgergemeinde als Besitzerin des Badener Walds von der sogenannten Kielwassertheorie verabschiedete. Diese besagt, dass sämtliche Waldfunktionen wie Erholung, Naturschutz oder Schutz vor Naturgefahren im Kielwasser der Holznutzung automatisch erfüllt werden. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts bildete die Kielwassertheorie die Richtschnur. «Doch das funktioniert heute nicht mehr», sagt Schoop. Die Förster müssten sich überlegen, welche nutzenstiftenden Produkte sie der Bevölkerung anbieten können. Sodann gelte es, Verbündete für deren Umsetzung und Finanzierung zu gewinnen. Laut Schoop ist es aber auch Aufgabe der Forstfachleute, eine Treuhänderfunktion für den Wald als Lebensraum wahrzunehmen.

Von einer zu starken Möblierung des Walds rät der Stadtförster ab. Die Ergebnisse der vor einigen Jahren im Auftrag des Bundes durchgeführten Umfrage zur Wahrnehmung und Nutzung des Walds stützen dies. So werden beispielsweise Infrastrukturen und Biketrails kontrovers beurteilt und von einem grossen Teil der Bevölkerung abgelehnt.[3] Ein etabliertes Angebot in Baden ist etwa das Umweltbildungsprogramm. So bietet der Bereich Stadtökologie, der zum Forstamt gehört, verschiedene Angebote für die Schulen an. Diese Vermittlungstätigkeit sei gefragt, sagt Schoop, denn die Sehnsucht nach Natur sei gross. Mit entsprechenden Angeboten könne man auf diese Bedürfnisse eingehen.

Georg Schoop spricht auch von der «Anderswelt Wald». Sie stelle einen Gegenpol zur modernen, hektischen Welt dar. Am eindrücklichsten ist dies in Baden vielleicht im Teufelskeller zu erleben. Der Name stammt wohl von den zahlreichen Blöcken und Felsen aus Nagelfluh; dazwischen wachsen in den Mulden bis zu 50 m hohe Bäume. Die Stimmung hat etwas Mystisches. Wegen der Unzugänglichkeit wurde diese Waldpartie forstwirtschaftlich kaum genutzt. Heute ist der Teufelskeller ein Naturwaldreservat – während direkt darunter im Berg sich der Verkehr tagtäglich durch den Bareggtunnel zwängt …

Winterthur geht neue Wege

Eine spannende Entwicklung zeichnet sich auch in Winterthur ab. Seit Anfang Jahr bilden das Stadtforstamt und die Stadtgärtnerei eine organisatorische Einheit. Die Reorganisation hat auch finanzielle Hintergründe; Winterthur muss sparen. In die Verantwortung von Stadtgrün Winterthur, so der neue Name, gehören sämtliche Park- und Grünanlagen, das Verkehrsgrün, die Pflanzenproduktion, die Friedhöfe, der Wildpark, die Naturschutzgebiete sowie die Wälder. «Unser Auftrag lautet, durch Pflege und Entwicklung der Freiräume die Lebens- und Standortqualität der Gartenstadt Winterthur zu stärken», sagt Beat Kunz, der bisherige Stadtförster und Leiter von Stadtgrün Winterthur.

2007 analysierte Winterthur seine Stärken. Zu den 13 identifizierten Erfolgsfaktoren zählt auch die Gartenstadt. Was aber ist deren Zukunft? «Wir fassen den Begriff der Gartenstadt heute weiter», sagt Kunz, «dazu gehören auch die sieben bewaldeten Hügel». In einem Leitfaden sind Thesen zur Weiterentwicklung der Grünräume formuliert.[4] So ist von Waldrandpärken die Rede, und der Brüelberg, der sich wie eine Insel aus dem Siedlungsgebiet erhebt, wird als grosser Park betrachtet.

«Wir streben keinen durchgestalteten Wald an», betont Kunz, «bei der Waldbewirtschaftung wollen wir aber ästhetische Aspekte bewusst berücksichtigen.» Die unterschiedlichen Denkweisen bei Stadtgrün Winterthur ergänzten sich in idealer Weise, findet er.

Während die Förster die Entwicklung eines Waldbestands vor Augen hätten, lebten die Gärtner eher im Moment und würden vor allem die Baumbestände pflegen. Deshalb möchte Kunz möglichst bald die Altersstruktur der 13 000 Stadtbäume erheben lassen.

Freiwillige als Botschafter

Auch wenn sich der Wald stark an den Bedürfnissen von Erholung und Freizeit orientiere, sei eine Holznutzung im Wald weiterhin möglich, sagt Kunz. Kürzlich sorgte Winterthur auch mit der Suche nach Freiwilligen für Schlagzeilen. Mittlerweile sind 30 Personen als «Winti-Rangers» tätig. Sie erhalten von der Stadt Arbeitskleidung und werden unter Anleitung von Stadtgrün-Mitarbeitern für einfache Tätigkeiten im Wald und Unterhaltsarbeiten an Infrastrukturen eingesetzt. Die Winti-Rangers sollen aber nicht nur arbeiten; sie sollen auch Botschafter für den Wald sein und auf diese Weise einen Multiplikationseffekt erzielen. So umgesetzt, wird Urban Forestry tatsächlich ein Stück weit zu Community Forestry, wovon alle profitieren.

Urban Forestry – alter Wein in neuen Schläuchen? Einige der Herausforderungen im Erholungswald sind bekannt. Andere hingegen ergeben sich aus neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen und der interdisziplinären Zusammenarbeit. Doch heute noch mehr als früher gilt: Bäume und Grünräume werden von allen Seiten bedrängt. Soll die grüne Infrastruktur jedoch Wirkung entfalten, ist ihr genügend Raum zuzugestehen.


Anmerkungen:
[01] Marco Pütz, Silvio Schmid, Andreas Bernasconi, Brigitte Wolf: «Urban Forestry: Definition, Trends und Folgerungen für die Waldakteure in der Schweiz», aus: Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 4, 2015
[02] vgl. z. B.: www.fs.fed.us > Managing the Land > Urban Forests > Urban and Community Program
[03] Waldmonitoring Soziokulturell BAFU/WSL, 2012
[04] Stadt Winterthur: Leitfaden zur Weiterentwicklung und Positionierung der Gartenstadt Winterthur. 2013


ArboCityNet
In der Schweiz ist 2014 ein disziplinenübergreifendes Netzwerk für Fachleute gegründet worden, die sich mit Urban Forestry in der Schweiz beschäftigen. Die Auftaktveranstaltung fand im Herbst 2015 im Zentrum Paul Klee statt (vgl. TEC21 48/2015).

1. April 2016 TEC21

Urbane Wälder in Leipzig

Fehlt das Geld für teure Parkanlagen, bieten sich Aufforstungen als Alternative an. Diesen Weg beschreitet die deutsche Stadt Leipzig. Auf drei ehemaligen Brach!ächen entwickeln sich urbane Wälder.

Als alte Handelsstadt war Leipzig bis zum Ersten Weltkrieg eine der reichsten Städte Deutschlands. Um 1935 lebten hier 725 000 Menschen. Der Zweite Weltkrieg hinterliess seine Spuren, und anschliessend folgten vier Jahrzehnte DDR. Nach der Wende 1989 brach die marode Industrie zusammen; in der Folge siedelten viele Menschen in die westlichen Bundesländer über. Mit 440 000 Einwohnern war Ende der 1990er-Jahre der Tiefststand erreicht.

Die Schrumpfung hinterliess viele Brachflächen und leer stehende Wohnungen. Im Rahmen der Planungs- und Stadtumbaudiskussion wurde für schrumpfende Städte eine Metapher geprägt: die «perforierte» Stadt.

Nach der Jahrtausendwende entstand die Idee, auf Brachflächen, für die sich in absehbarer Zeit keine Nutzung abzeichnet, neuen Wald aufwachsen zu lassen und so den Waldanteil zu erhöhen. Der Vorschlag, urbane Wälder zu schaffen, stiess bei der für den Naturschutz auf Bundesebene zuständigen Stelle, dem Bundesamt für Naturschutz, auf offene Ohren. Im Rahmen eines sogenannten Erprobungs- und Entwicklungsvorhabens unterstützte es die Voruntersuchung (2007/08), das Hauptvorhaben (noch bis 2017) und die wissenschaftliche Begleitforschung (noch bis 2018).

Ziel ist es, den Naturschutz im Rahmen einer ökologischen Stadterneuerung in die Stadtentwicklung zu integrieren. Im Rahmen der Voruntersuchung ermittelte das Stadtplanungsamt Leipzig Umnutzungsflächen im Umfang von 43 km2 auf städtischem Gebiet. Von diesen wählte man zehn potenzielle Flächen für urbanen Wald aus, auf zweien davon wächst nun Wald, eine dritte Fläche wird demnächst aufgeforstet.

Stadtgärtnerei-Holz

Die erste Fläche, die wir besuchen, befindet sich im Stadtviertel Anger-Crottendorf im Osten der Stadt. Auf dem Gelände war bis 2005 die Stadtgärtnerei untergebracht – deshalb der Name «Stadtgärtnerei-Holz». Dass hier einst Zier- und Gehölzpflanzen für Leipzig aufgezogen wurden, ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Erst beim genauen Hinschauen erkennt der Besucher Spuren der ehemaligen Nutzung. Nachdem die Stadt entschieden hatte, den Betrieb zu schliessen und die benötigten Pflanzen zuzukaufen, wollte sie das 3.8 Hekt­aren grosse Gelände verkaufen, was aber scheiterte. Wie viele andere Flächen in Leipzig lag das Grundstück deshalb erst einmal brach.

«Die Stadt wusste nicht, was sie mit der Fläche machen sollte», sagt Andreas Schultz vom Stadtplanungsamt Leipzig. Deshalb habe man gemeinsam nach neuen Konzepten gesucht. Und so wächst auf dieser Modellfläche nun also der erste urbane Wald in Leipzig heran. Die Gewächshäuser riss man ab. Der befestigte Hauptweg in der Längsachse ist beibehalten worden; er wird von 30 Edelkastanien gesäumt. Die Igelhüllen der essbaren Früchte sind am Boden noch zu sehen. Die 2010 aufgeforsteten Flächen beidseits des Wegs sind eingezäunt. Die Verantwortung für die Fläche sei Ende 2015 vom Stadtplanungsamt an den Stadtforst über­gegangen, sagt Schultz. Nun kümmern sich also die Förster um die aufwachsenden Bäume.

Die Vielfalt der gepflanzten Bäume beeindruckt: Eichen, Linden, Kirschbäume, Mehlbeeren, Elsbeeren, Ebereschen (Vogelbeerbaum), Nussbäume und Wildobst. Bei den Sträuchern sind unter anderem Hasel, Weissdorn, Sal- und Purpurweide, Berberitze und Holunder vertreten. In Anlehnung an die alte Nutzung wurden die Flächen parzellenweise bepflanzt. Die Bäumchen sind nach fünf Jahren ein bis zwei Meter hoch. Die von selbst aufgekommenen Birken sind mit bis zu fünf Metern am höchsten und bereichern mit ihren hellen Stämmen den jungen Wald optisch. Von den drei Hochsitzen aus lassen sich das Gelände und die aufgeforsteten Flächen überblicken.

Eine Fahrradfahrerin passiert uns. «Die Be­nützung des Wegs als Alternative zur verkehrsreichen Strasse ist momentan die Hauptnutzung der Grün­fläche», sagt Dieter Rink vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig. Er begleitet das ­Projekt aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Es sei spannend zu beobachten, wie die Menschen auf ­diese neue Grünfläche reagierten und wie sie diese nutzten, sagt er. 2010 führte Rink mit seinem Team eine breit angelegte Haushaltsbefragung zur Akzeptanz und zu den Erwartungen der Bevölkerung an urbane Wälder durch.

Im Rahmen ihrer am UFZ durchgeführten Masterarbeit befragte Susann Eube an zwei Tagen im Herbst 2014 insgesamt 43 Personen dazu, wie diese den urbanen Wald wahrnehmen, bewerten und nutzen. Drei Viertel der Befragten hatten schon von dem Projekt «Urbaner Wald» gehört. Bei der Einordnung der Fläche besteht jedoch Unsicherheit; sie wird als etwas zwischen Park und Wald wahrgenommen. Am häufigsten wurde sie aber als «wilde Fläche» oder «Wildnis in Stadtnähe» bezeichnet. Auf die Frage, ob ihnen die Fläche gefalle, äusserte sich die Mehrheit zwar positiv, ein Drittel aber auch negativ. «Nicht gepflegt» war eine oft geäusserte Kritik. Und offenbar stört auch, dass die Flächen eingezäunt sind. Lediglich 9 % der Befragten halten sich länger als 15 Minuten auf der Fläche auf. In den nächsten Jahren erwartet Dieter Rink bei der Nutzung der Fläche durch die Bevölkerung kaum Änderungen. Bis diese mehr nach Wald aussehe, brauche es einfach noch etwas Zeit. «Weil der Boden bereits im Besitz der Stadt war, liess sich das Projekt relativ schnell umsetzen», sagt Andreas Schultz. Von den Erfahrungen profitiere man nun bei den anderen Flächen, die aufgeforstet werden.

Schönauer Holz

Die zweite Fläche, die wir besuchen, liegt im Stadtviertel Grünau im Westen der Stadt. Das Schönauer Holz befindet sich mitten in einem Wohnquartier bei der Neuen Leipziger Strasse. Der urbane Wald wächst dort, wo einst ein elfstöckiger Plattenbau stand – fünf anein­andergereihte Gebäudekomplexe mit einer Gesamt­länge von mehr als 300 m. 2007 riss man den auch als Eiger-Nordwand bekannten Bau mit staatlichen Geldern ab (Abb. oben).

Die frei gewordene Fläche sei als Rasen minimal unterhalten worden, sagt Schultz. Die Bevölkerung habe die Fläche jedoch kaum genutzt. Die Stadt kaufte einen Teil der Flächen und entwickelte ein Konzept mit dem Ziel, die Aufenthaltsqualität zu verbessern.

2013 ist gut die Hälfte der 5.5 Hekt­aren grossen Fläche aufgeforstet worden. Das Gestaltungskonzept stammt von der Landschaftsarchitektin Irene Burkhardt aus München, deren Büro auch schon für die Neugestaltung der ehemaligen Stadtgärtnerei verantwortlich zeichnete. Die Waldflächen sind von den Sorbus-Arten Vogelbeerbaum (Sorbus aucuparia), Elsbeere (Sorbus torminalis), Mehlbeere (Sorbus aria) und Speierling (Sorbus domestica) geprägt. «Bereits bestehende Baumgruppen haben wir integriert», sagt Schultz. Zudem galt es, die gut frequentierten und bereits bestehenden Wegverbindungen aufzuwerten.

Vergleichbare Situationen gebe es auch in anderen deutschen Städten, sagt Dieter Rink. Etwa in Halle-Silberhöhe, Eisenhüttenstadt oder Weisswasser. Auch im Schönauer Holz führte Susann Eube Be­fragungen durch. Aufgrund der Lage mitten im Quartier wird die Fläche deutlich mehr genutzt als diejenige der ehemaligen Stadtgärtnerei. 80 % der Befragten ­durchqueren die Fläche täglich. Der Wissensstand ist hin­gegen gering: Mehr als die Hälfte hat noch nichts über urbane Wälder in Leipzig gehört. Bei der Frage, ob das Areal gefällt, waren zwei Drittel der Antworten positiv. Diejenigen, die die Fläche negativ ­bewerteten, gaben an, dass diese zu wenig gepflegt werde. Der herumliegende Müll und der Vandalismus seien Probleme. Kritisiert wird auch der Mangel an Spiel- und Sportmöglichkeiten. Als Belastung wird zudem eine Gruppe von Menschen empfunden, die sich regelmässig bei den Sitzgelegenheiten treffen und ­Alkohol konsumieren.

Positiv an dieser Fläche bewertet Dieter Rink, dass weitere Gestaltungselemente den urbanen Wald ergänzen. Eine Chance könnten auch die nahe gelegenen Schulen sein. So haben etwa Schülerinnen und Schüler 2013 an einer Pflanzaktion von Bäumen teilgenommen. Solche Aktivitäten können mithelfen, dass die Bewohner sich stärker mit der Grünfläche identifizieren. Im besten Fall entwickelt sie sich zu einem beliebten Treffpunkt für die Bewohner des Quartiers.

Ehemaliger Güterbahnhof Plagwitz

Völlig anders gelagert ist das dritte Beispiel. Das Areal des ehemaligen Güterbahnhofs in Plagwitz umfasst rund 15 Hektaren. Die Deutsche Bahn hatte für die Anlage, einst eine der grössten in Deutschland, keine Ver­wendung mehr. Die Stadtbehörden vereinbarten mit der ehemaligen Eigentümerin, das Areal gemein­sam zu entwickeln. Anschliessend kaufte die Stadt den grössten Teil des Grundstücks, an das rasch verschiedenste Ansprüche angemeldet wurden: Bürgergärten, Urban Gardening, Parkflächen, Spielplätze. Interessierte Kreise schlossen sich in der Initiative Bürgerbahnhof Plagwitz zusammen. Workshops und Bürgerbeteiligungen fanden statt, um die Ideen zu bündeln.

«Das Konzept sieht nun Nutzungen mit abgestufter Intensität vor», sagt Andreas Schultz. Im nördlichen Teil sind alte Bauten bereits für Wohnzwecke umgenutzt. Daran anschliessen werden sich Bürgergärten und andere Formen des Urban Gardening sowie Freizeitangebote. Auf 1.5 ha entsteht sodann ein urbaner Wald mit Eichen. Am Rand werden Fruchtbäume angelegt, die von Quartierbewohnern gepflegt werden. Im südlichen Teil bleiben 4.3 ha hingegen sich selbst überlassen. Auf diesen sogenannten Sukzes­sionsflächen befinden sich viele für den Naturschutz wertvolle Standorte mit speziellen Arten, die beispielsweise auf sehr trockene Verhältnisse angewiesen sind. Auch auf dieser Fläche werden Gehölze aufwachsen, allerdings weniger geordnet als im urbanen Wald mit den gepflanzten Bäumchen.

Neues Wachstum verändert Ausgangslage

Das Konzept der urbanen Wälder entstand in einer Zeit, da sich für zahlreiche Brachflächen keine neue Nutzung abzeichnete. Aufforstung wurde als eine kostengünstige Option gesehen, die Lücken der «perforierten» Stadt zu stopfen. Inzwischen hat der Wind in Leipzig gedreht. Seit einigen Jahren wächst die Stadt wieder stark. Damit steigen die Begehrlichkeiten für bisher nicht genutzte Flächen. Doch gerade bei der Nachverdichtung sind grüne Ausgleichsflächen als Gegenpol wichtig. Und das Thema bleibt aktuell, weil zahlreiche mittelgrosse Städte immer noch schrumpfen.

«Wir waren vom Echo auf unsere Projekte in Leipzig überrascht», bilanziert Andreas Schultz. Urbane Wälder seien in Deutschland zum Thema geworden, und sie würden als eine Option gesehen, wenn es darum gehe, Grünräume mit bescheidenen Mitteln zu entwickeln. Wie sich nun zeigt, besteht der Knackpunkt jedoch darin, dass die Bevölkerung sich wünscht, dass diese Flächen mehr gepflegt und mit einer besseren Infrastruktur ausgestattet werden. Es ist wichtig, dass solche Vorhaben bei den Bewohnern keine unrealistischen Erwartungen wecken.

Ein weiterer Punkt betrifft die Förster, die diese Flächen zu betreuen haben. Bringen die neuen Wälder nur viel Ärger, sei es wegen Vandalismus oder übermässiger Vermüllung, wird die Bereitschaft der Förster sinken, die Bewirtschaftung dieser Wälder zu übernehmen. Entscheidend dürfte letztlich aber die Bevölkerung sein. Nach den bisherigen Erfahrungen sieht es so aus, als würden die aufgeforsteten Wälder als neue Kategorie der städtischen Grünräume akzeptiert. «Wir haben aber erst wenig Erfahrung», sagt Dieter Rink. Es handle sich um ein Experiment. Um die Identifikation mit den urbanen Wäldern zu erhöhen, empfiehlt er, die ­Menschen möglichst stark einzubeziehen.

18. März 2016 Rudolf Heim
TEC21

«Mehr als ein Fünftel der Bauzonen sind gefährdet»

Naturgefahren begleiten uns permanent. Die Vorstellung, die Natur lasse sich mit technischen Mittlen beherrschen, erwies sich als Illusion. Ein ganzheitlicher Ansatz ist nötig. Fachleute des Bundesamts für Umwelt erläutern die Leitlinien im Umgang mit den Naturgefahren.

TEC21: Wo steht die Schweiz aktuell bei der Umsetzung des Naturgefahren-Managements?

Hans Peter Willi: Wir sind auf gutem Weg und setzen das «Integrale Naturgefahren-Management» Schritt für Schritt um. Primär geht es darum, einen gesamtheitlichen Umgang mit Naturgefahren in den Köpfen zu verankern und in der Praxis umzusetzen. Dieser Prozess läuft schon seit einer Generation. Dabei sind Massnahmen zur Vorbeugung von Natur­ereignissen, deren Bewältigung sowie die Regenera­tion nach einem Schadenereignis sinnvoll zu kombinieren. Hier sind alle gefordert: Bauherren, Planer, Ingenieure, Architekten, Behörden, Versicherungen, Politiker und die Bevölkerung.

TEC21: Der Bericht «Naturgefahren Schweiz» soll demnächst veröffentlicht werden. Bringt er neue Erkenntnisse?

Hans Peter Willi: Wir sind in der Schlussphase und möchten den Bericht im nächsten Sommer dem Bundesrat präsentieren (vgl. Kasten). Ein grosses Potenzial zur Minimierung der Schäden sehen wir im «naturgefahrengerechten» Bauen – hier sind die Baufachleute angesprochen, insbesondere die Architekten, die oft die Gesamtverantwortung bei der Planung von Gebäuden innehaben. Zusammen mit dem SIA haben wir diesen Punkt aufgegriffen. Es geht darum, die bestehenden Normen zu überprüfen und allfällige Lücken bezüglich Naturgefahren bei der Planung von Gebäuden zu schliessen.

Ein weiterer Aspekt betrifft das «naturgefahrengerechte» Verhalten. Die Bevölkerung geht mit den Naturgefahren nicht immer adäquat um. Wir wollen die Menschen be­fähigen, im Ereignisfall besser zu reagieren. So ist es zum Beispiel keine gute Idee, bei einer Überflutung des Untergeschosses noch wertvolle Sachen aus dem Keller oder der Garage retten zu wollen. Ein schöner Erfolg ist, dass das Thema Naturgefahren im Lehrplan 21 der allgemeinen Schulbildung Eingang gefunden hat.

TEC21: Was steht beim Integralen Naturgefahren-Management im Zentrum?

Hans Peter Willi: Unser zentraler Auftrag lautet: Schutz von Menschenleben und erheblichen Sachwerten. Dies soll nachhaltig sichergestellt sein. Somit sind ökonomische, ökologische und soziale Aspekte zu be-
­rücksichtigen. Gemäss der Strategie des Eidg. Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommu­nikation Uvek sind die aufgrund der Gefahrenkarten erkannten Defizite bis 2030 weitgehend zu beheben. Wichtig ist dabei, dass wir durch neue bauliche Aktivitäten nicht wieder neue Probleme schaffen.

Arthur Sandri: Wenn wir etwas zurückschauen, so waren es die Unwetterereignisse im August 1987, die einen Wendepunkt markierten und zu einem Paradigmenwechsel führten. Damals waren die Innerschweiz, aber auch das Puschlav von Hoch­wasser, Murgängen und Rutschungen betroffen. Die enormen Schäden lösten die erste grosse wissenschaftliche Ereignisanalyse aus. Die wichtigsten Erkenntnisse: Absolute Sicherheit gibt es nicht, und allein mit technischen Massnahmen ist dem Problem nicht beizukommen. Zu den rund 1.8 Milliarden Franken Schäden trugen allein die Schäden an den Schutzbauwerken 300 Millionen Franken bei. Eine Kurskorrektur war unausweichlich.

TEC21: Wenn es keine absolute Sicherheit gibt – welche Schäden müssen wir denn in Kauf nehmen? Welche Risiken gelten als tragbar?

Arthur Sandri: Bei den individuellen Personenrisiken orientieren wir uns an der Gruppe der jungen Männer, die mit 10-4 die geringste durchschnittliche Todes­fallwahrscheinlichkeit aufweist – das heisst von 10 000 jungen Männern stirbt aus irgendwelchen Gründen einer pro Jahr. Das angestrebte Ziel ist, dass das durchschnittliche Todesfallrisiko von Personen durch Naturgefahren nicht erheblich erhöht wird.

Die nationale Plattform Naturgefahren PLANAT (vgl. Information auf S. 34) empfiehlt deshalb, das durch Naturgefahren bedingte Todesfallrisiko auf 10-5 zu senken. Dabei werden nur unfreiwillig eingegangene Risiken berücksichtigt, also etwa keine Lawinen­unfälle auf Skitouren. Eine andere Annäherung führt über die Lebensversicherungen, die 2.3 Millionen Franken für ein Menschenleben einsetzen.

Bei den Naturgefahren setzen wir in Kosten-Nutzen-Analysen fünf Millionen Franken ein, darin eingerechnet sind auch die Verletzten. Der Wert eines Menschenlebens ist aber nie in Geld zu fassen. Die Beträge bezeichnen lediglich die Bereitschaft der Gesellschaft, so viel Geld aufzuwenden, um einen Todesfall zu verhindern (vgl. «Wie viel ist uns unser Leben wert» und «Normen missachten – mit Gewinn für alle», TEC21 43/2015).

TEC21: Hat man hochgerechnet, wie viel Geld nötig ist, wenn dieser Standard schweizweit eingehalten werden soll?

Hans Peter Willi: Wir kennen diese Zahl zurzeit noch nicht, möchten die Kosten aber abschätzen, denn das interessiert die Politiker brennend. Auf jeden Fall wollen wir sicherstellen, dass die öffentlichen Mittel ökonomisch, ökologisch und sozial sinnvoll eingesetzt werden. Deshalb prüfen wir bei jedem Projekt das Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Werden etwa durch einen investierten Franken fünf Franken Schäden verhindert, rechnet sich das in jedem Fall. Bei dieser Betrachtung berücksichtigen wir die indirekten Kosten nicht – das sind Kosten, die in Zusammenhang mit Betriebsunterbrüchen und dergleichen entstehen. Wenn also beispielsweise in Zürich der Hauptbahnhof überschwemmt wird und einen Monat nicht benutzbar ist, dann sind die indirekten Schäden immens. Am Beispiel von Zürich hat man errechnet, dass die indirekten Kosten zehn Mal so hoch sind wie die direkten.

Arthur Sandri: Man darf aber nicht nur ökonomische Gründe für einen Entscheid heranziehen. Sind die Kosten für die Schutzmassnahmen jedoch höher als die vermiedenen Schäden, so braucht es gute Gründe. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Kloster Werthenstein im Kanton Luzern. Die Erosion der Kleinen Emme führt zu instabilen Böschungen und droht die Stützmauern zu beschädigen. In einem solchen Fall ist auch der immaterielle Wert eines Kulturguts zu berücksichtigen.

TEC21: Ist bekannt, welche Gefahrenprozesse wie viel Schadenskosten verursachen?

Arthur Sandri: Wir führen seit 1972 eine Schadenstatistik zu den gravitativen Naturgefahren: Hochwasser und Überflutungen machen 90 % aller Schäden aus. Bei den Todesopfern sieht es anders aus. Im langjährigen Durchschnitt sterben jedes Jahr zwei bis drei Menschen wegen Hochwasser. Bei den Sturzprozessen sind die Sachschäden weniger bedeutsam, obwohl es den Einzelnen hart treffen kann. Dort fallen aber die Todesfallrisiken ins Gewicht: Im langjährigen Durchschnitt sind es etwa sechs Todes­opfer bei Lawinen (ohne Freizeitaktivitäten) und je zwei Todesopfer bei Stein-/Blockschlag und Rutschungen.

TEC21: Der Klimawandel wird die Probleme noch verschärfen.

Arthur Sandri: Bezüglich der Naturgefahrenrisiken ist der Klimawandel zumindest bis 2050 von deutlich geringerer Bedeutung als beispielsweise die zunehmenden Frequenzen auf den Verkehrsachsen. Vor einigen Jahren fuhr der TGV von Bern nach Paris durch das Val de Travers. In der Areuseschlucht bestand ein erhebliches Steinschlagrisiko, und wegen der TGV-Verbindung waren plötzlich viel mehr Passagiere diesem Risiko ausgesetzt. Um dieses wieder auf ein vertretbares Ausmass zu reduzieren, errichtete man für zwei Millionen Franken Steinschlagnetze. Dumm nur, dass der TGV heute nicht mehr durchs Val de Travers fährt.

Ein anderes Beispiel: Die Bahnstrecke Zürich–Bern verläuft kurz nach Olten am Fuss des Born, eines Jura-Ausläufers. Durch die Frequenzsteigerung im Rahmen von Bahn 2000 wurde dieser Abschnitt zu einem Hotspot des SBB-Netzes bezüglich Naturgefahren. Der Zugverkehr war plötzlich so dicht, dass sich umgerechnet ständig 200 Personen im gefährdeten Gebiet aufhielten. Aus diesem Grund bauten die SBB Steinschlagschutz­wände. Auf der Gotthard-Bergstrecke hingegen wird nach der Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels infolge der geringeren Passagierfrequenzen das Risiko abnehmen.

TEC21: Und welche Probleme stellen sich im Siedlungsgebiet?

Arthur Sandri: lm Siedlungsgebiet machen uns vor allem zwei Entwicklungen Sorgen. Zum einen die Wertvermehrung in den bestehenden Bauten: Während man früher im Keller Äpfel und Kartoffeln lagerte, dient er heute als Aufbewahrungsort für wertvolle Gegenstände, und der Hobbyraum und die Haustechnik sind auch noch im Untergeschoss untergebracht. Läuft dann ein Keller voll, summieren sich die Schäden. Das andere Problem ist die Verdichtung des Siedlungsraums, was ebenfalls zu einer Wertvermehrung pro Fläche führt.

TEC21: Hier sollen primär die Gefahrenkarten helfen, Schäden zu vermeiden.

Roberto Loat: Die Gefahrenkarten sind sehr wichtige Grundlagen für die Gemeinden und Kantone. 95 % der Gefahrenkarten sind erstellt. Ein Fünftel bis ein Viertel der Bauzonen ist von Naturgefahren betroffen, bis jetzt sind erst zwei Drittel der Gefahrenkarten raumplanerisch in der Nutzungsplanung umgesetzt. Ich erwarte aber, dass es nun rasch vorwärts geht. Zudem müssen die Gemeinden die Gefahrenkarten im Rahmen der Baubewilligungen in jedem Fall berücksichtigen (vgl. «Gefahren erkannt – und die Risiken?»).

TEC21: Die eigentliche Arbeit beginnt also erst.

Roberto Loat: Das ist so. Nun folgt die anspruchsvolle Umsetzung. Allerdings sind bei den Gefahrenkarten die Oberflächenabflüsse noch nicht berücksichtigt. Diese treten bei Starkniederschlägen auf und sind nicht die Folge von Gewässern, die über die Ufer treten. Oberflächenabfluss kann auch zu einer Überlastung der Kanalisation führen. Schadenstatistiken zeigen, dass bis zu 50 % der Wasserschäden auf solche Oberflächenabflüsse zurückzuführen sind und dass ein beträchtlicher Teil davon gar nicht in den durch Gewässer direkt gefährdeten Zonen liegt.

Die Ge­meinde Lyss war 2007 drei Mal von solchen Schäden betroffen. Die Verantwortlichen haben die Konsequenzen gezogen. Lyss hat Grundlagen zu den Oberflächenabflüssen erarbeitet und will nun als erste Gemeinde der Schweiz diese bei Baubewilligungen künftig auch anwenden.

TEC21: Bei Neubauten können die Behörden Auf lagen machen, bei bestehenden Bauten ist das schwieriger.

Roberto Loat: Bei Neubauten lassen sich Objektschutzmassnahmen in den allermeisten Fällen leicht realisieren. Und das oft ohne oder nur mit geringen Mehrkosten, wenn die Naturgefahren bei der Planung von Anfang an berücksichtigt werden. Bei bestehenden Bauten haben die Behörden die Möglichkeit, bei grösseren Umbauten oder Erweiterungen Auf lagen zu machen. Stehen aber keine baulichen Veränderungen an, so können die Eigentümer lediglich animiert werden, Massnahmen in Eigenverantwortung zu treffen.

TEC21: Welche Möglichkeiten haben die Gebäudeversicherungen?

Hans Peter Willi: Bei den bestehenden Gebäuden spielen die Gebäudeversicherungen eine wichtige Rolle. Sie fördern etwa die Prävention durch Beratung und finanzielle Anreize. Passiert in einem Haus mehrfach derselbe Schaden, können sie Auf lagen machen oder auch die Versicherungsleistungen kürzen.

Lange Zeit waren die Brandschäden viel wichtiger als die durch Naturgefahren verursachten Elementarschäden. Doch die Naturgefahrenschäden nehmen laufend zu, die Versicherungen verfolgen diese Entwicklung mit Besorgnis. Ein anderer Aspekt ist wichtig: Zurzeit tragen alle Versicherten die Schäden solidarisch. Die Solidarität darf aber nicht überstrapaziert werden. Rund 10 Prozent aller Objekte machen 75 Prozent aller Risiken aus. Wir müssen aufpassen, dass Elementarschäden weiterhin versicherbar und für den Einzelnen tragbar bleiben.

TEC21: Was soll eigentlich Aufgabe der Privaten sein? Und wo steht der Staat in der Pflicht?

Arthur Sandri: Der Private kann sein Haus schützen und die Umgebung so gestalten, dass kein Wasser in sein Gebäude eindringen kann. Die öffentliche Hand ist verantwortlich für Schutzmassnahmen an den Gewässern, kann jedoch nicht verhindern, dass bei extremen Ereignissen Wasser aus Gewässern austreten kann und Bauten und Anlagen gefährdet. Deshalb sind Massnahmen an Gebäuden so wichtig für die Schadensreduktion. Damit ein Eigentümer sein Objekt optimal gegen Naturgefahren schützen kann, benötigt er umfassende Grundlagen zu allen schadenrelevanten Naturgefahrenprozessen. Und diese zur Verfügung zu stellen, ist eine Aufgabe der öffentlichen Hand.

TEC21: Die Verantwortlichen in den Gemeinden geraten zunehmend unter Druck, wenn sie trotz vorhandenen Gefahrengrundlagen ihre Pflichten nicht wahrnehmen.

Hans Peter Willi: Zumindest können die Verantwortlichen nicht mehr sagen, sie hätten von nichts gewusst. Berücksichtigt eine Gemeinde die Gefahrenkarten nicht und plant später Verbauungen zum Schutz der neuen Bauten und Anlagen, können wir die Bundesbeiträge für diese Schutzmassnahmen verweigern. Die Gemeinde kann zudem auch für allfällige Schäden haftbar gemacht werden.

Arthur Sandri: Vor allem Ereignisse mit grossen Schäden machen betroffen. Folgt dann jedoch eine ereignisarme Periode, lässt der Elan oft wieder nach. In mehreren Kantonen sind jetzt aber gute Programme zur Umsetzung der Gefahrenkarten gestartet worden. Der Kanton Graubünden hat etwa alle Gemeinden beauftragt, sämtliche Risiken auf ihrem Territorium zu ermitteln und zu bewerten sowie Massnahmen zu formulieren, was sie dagegen tun wollen.

Roberto Loat: Bei diesen Prozessen ist nicht nur das Resultat wichtig, allein schon die Beschäftigung mit der Risikosituation trägt viel zur Bewusstseins­bildung bei.

TEC21: Die Luzerner Gemeinde Weggis hat vor zwei Jahren für Aufsehen gesorgt. Der Gemeinderat fällte einen mutigen Entscheid, liess fünf Liegenschaften aus Sicherheitsgründen evakuieren und verfügte deren Rückbau. Ein Eigentümer wehrte sich. Das Kantonsgericht und später auch das Bundesgericht gaben der Gemeinde recht (vgl. «Rückbau wird zur Option»). Welche Folgen hat dieser Entscheid?

Arthur Sandri: Im Grundsatz bestätigten beide Gerichte das Vorgehen des Integralen Naturgefahren-­Managements, das Bund und Kantone praktizieren. Zwei Aspekte sind wichtig: Erstens sind in konfliktträchtigen Situationen, wenn beispielsweise Eigentumsrechte massiv tangiert sind, die Entscheide nachvollziehbar herzuleiten und auch zu dokumentieren. In Weggis war dies der Fall. Und zweitens darf man einen solchen Entscheid nicht nur ökonomisch begründen. Ein Rückbau ist nur denkbar, wenn alle anderen Varianten geprüft wurden.

TEC21: Wird es zu weiteren solchen Fällen kommen?

Arthur Sandri: Wir gehen nicht von sehr vielen Fällen aus. Aber wir sind froh, dass die Möglichkeiten von Umsiedlung und Rückbau bestehen, denn so sind die Gemeinden und Kantone nicht zu völlig unverhältnismässigen und unökonomischen Schutzmassnahmen gezwungen. Weggis war der erste Fall, wo ein Rückbau unter Zwang angeordnet werden musste.

Meistens kann man sich aber einigen. So zum Beispiel in Preonzo zwischen Bellinzona und Biasca, wo kürzlich ein durch ein Bergsturz gefährdetes Industriegebiet umgesiedelt wurde. Es sind zwar noch nicht alle Firmen umgezogen, diejenigen, die noch dort sind, müssen aber mit einer Evakuierung rechnen, falls sich die Lage wieder zuspitzt. Das Eisstadion von ­Ambri-Piotta wird ebenfalls verlegt, sein bisheriger Standort ist lawinengefährdet.

TEC21: In Weggis hat die Gebäudeversicherung des Kantons Luzern mit drei Millionen Franken rund die Hälfte der gesamten Kosten übernommen.

Hans Peter Willi: Es ist wichtig, dass man in solchen Situationen den Betroffenen faire Lösungen anbieten kann, denn so findet man in der Regel einvernehm­liche Lösungen. Von Bedeutung ist diesbezüglich auch ein anderer Bundesgerichtsentscheid. In Brienz BE mussten nach dem Unwetter im Jahr 2005 Häuser zurückgebaut werden, um Schutzbauten erstellen zu können. Die Eigentümer sollten zwar für ihre Liegenschaft, nicht aber für das Bauland entschädigt werden. Das Bundesgericht urteilte jedoch, dass auch das Land zu seinem ursprünglichen Wert zu entschädigen ist.

In Sachseln OW konnte wegen der Naturgefahren ein neues Quartier nicht mehr realisiert wer­den. Die bereits erbrachten (baulichen) Vorleistungen der Privaten für die Erschliessung wurden entschädigt. Wird hingegen noch nicht überbautes Bauland wieder ausgezont, besteht kein Anspruch auf Entschädigung.

TEC21: Aktuell geben wir in der Schweiz insgesamt jährlich 2.9 Milliarden Franken oder knapp ein halbes Prozent des BIP für den Schutz vor Naturgefahren aus. Wird dieser Betrag steigen?

Hans Peter Willi: Ich bin überzeugt, dass wir, wenn wir künftig gleich viel Geld aufwenden und dieses sinnvoll einsetzen, sehr viel erreichen können und keine Abstriche bei der Sicherheit machen müssen. Die Kosten werden gemeinsam getragen. Die öffent­liche Hand steuert 1.2 Milliarden Franken bei, während die Privaten 1.7 Milliarden Franken aufbringen, wovon 830 Millionen Franken durch die Versiche­rungen übernommen werden.

Diesen Kosten steht ein enormer Nutzen gegenüber, der sich allerdings nicht genau beziffern lässt. In Einzelfällen ist eine Abschätzung aber möglich. So wurden an der Engel­berger Aa 26 Millionen Franken investiert. Beim Hochwasser 2005 verhinderten diese Investitionen Schäden in der Höhe von 160 Millionen Franken.

18. März 2016 TEC21

Rückbau wird zur Option

Das Bundesgericht stützte den Entscheid der Gemeinde Weggis, die Nutzung von fünf Liegenschaften zu verbieten, um deren Bewohner vor abstürzenden Felsblöcken zu schützen. Droht nun eine Rückbauwelle?

Nach dem schadensreichen Unwetter 2005 liess die Luzerner Gemeinde Weggis ihre Gefahrenkarte überarbeiten. Die Parzellen in der «Horlaui», einem steilen Gebiet, das im oberen Teil durch 20 m hohe Nagelfluhbänder begrenzt wird, kamen aufgrund der Steinschlag- und Felssturzgefahr in die rote Zone zu liegen – dies bedeutet eine erhebliche Gefährdung für Personen sowohl ausserhalb als auch innerhalb von Gebäuden. Aufgrund umfassender Studien empfahlen Fachleute eine Aussiedlung der fünf betroffenen Liegenschaften bis 2019 (vgl. Bild).

Im Frühjahr 2014 spitzte sich die Situation zu. Vertiefte Abklärungen veranlassten den Gemeinderat, unverzüglich zu handeln. Die Behörde verfügte unter Anwendung des Polizeinotrechts im Juni 2014 ein Betretungs- und Nutzungsverbot für fünf Liegenschaften per 1. August 2014. Ebenso ordnete sie einen Rückbau der Liegenschaften an (vgl. TEC21 17–18/2015).

Ausreichende gesetzliche Grundlage

Gegen diese Entscheide reichte einer der fünf Eigentümer Beschwerde ein. Das Kantonsgericht lehnte diese ab, worauf der Eigentümer das Bundesgericht anrief. Dieses bestätigte im Juli 2015 das Urteil des Kantonsgerichts. Die Gemeinde habe ihren Entscheid auf solide Grundlagen abgestützt. Es seien verschiedene Varianten geprüft worden, und der vom Gemeinderat getroffene Entscheid sei nicht nur von den beigezogenen Experten empfohlen, sondern auch durch die zuständigen Stellen von Kanton und Bund gestützt worden.

Weiter hatten die Gerichte die Frage zu prüfen, ob Grundrechte verletzt wurden, insbesondere die in der Verfassung verankerte Eigentumsgarantie. Dabei galt es zu beurteilen, ob die Entscheide des Gemeinderats sich auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage abstützten, diese im öffentlichen Interesse lagen und verhältnismässig waren. Die gesetzliche Grundlage besteht gemäss den Ge­richten im kantonalen Planungs- und Baurecht (PBG). Es schreibt vor, dass Bauten die für ihren Zweck notwendige Sicherheit erbringen müssen und so zu erstellen und unterhalten sind, dass weder Menschen noch Sachen gefährdet werden.

In Gebieten, in denen ­Rutsch- und Steinschlaggefahr besteht, dürfen grundsätzlich keine Bauten erstellt werden, und Ausnahmen fallen nur in Betracht, wenn hinreichende Sicherungsvorkehrungen getroffen werden. Auch für das ausgesprochene Betretungs- und Nutzungsverbot besteht eine Grundlage im erwähnten Gesetz, wonach die ­Gemeinde die Benützung von Räumen zu verbieten hat, wenn eine solche gesundheitschädigend oder mit Gefahr verbunden ist.

Das Kantonsgericht hält fest, dass der Schutz von Personen im öffentlichen Interesse liegt und grundsätzlich einen schweren Eingriff in die Eigentumsgarantie rechtfertigen kann. Das Bundesgericht spricht sogar von einem gewichtigen öffentlichen Interesse. Das primäre Ziel aller von der Gemeinde veranlassten Massnahmen sei der Schutz der sich im Gebiet aufhaltenden Personen vor Stein- und Blockschlag, Felsstürzen und spontanen Rutschungen.

Dass dabei auch finanzielle Erwägungen im Sinn einer Kosten-Nutzen-Betrachtung mitberücksichtigt worden seien, sei zulässig, solange dies nicht allein ausschlaggebend sei. Die Massnahmen sind gemäss den Gerichten zudem verhältnismässig, weil sie für die Betroffenen zumutbar sind und mildere Anordnungen nicht ausreichten, um das Ziel zu erreichen.

Solide Abklärungen sind unerlässlich

Die Verantwortlichen für die Naturgefahren beim Bafu begrüssen den Entscheid der Gerichte; sie sehen den eingeschlagenen Weg beim Integralen Naturgefahren-­Management bestätigt. In konfliktträchtigen Situatio­nen sei es aber unerlässlich, die Entscheide auf fundierte Grundlagen abzustützen, sagt Arthur Sandri von der Abteilung Gefahrenprävention. Hier seien Gemeinden, Kantone und zuständige Projektingenieure gefordert. Kosten-Nutzen-Aspekte müssten in die Planung einfliessen, bei der Wahl der Massnahmen dürfe man aber nicht nur ökonomisch argumentieren (vgl. «Mehr als ein Fünftel der Bauzonen sind gefährdet»).

Ähnliche Schlüsse zieht auch Albin Schmid­hauser, der Leiter der Abteilung Naturgefahren bei der Dienststelle für Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern. Die etablierte Methodik der Gefahrenbeurteilung müsse nach bestem Stand des Wissens und der Technik angewandt werden. Hätten die Gerichte die gesetzlichen Grundlagen für die getroffenen Entscheide als ungenügend beurteilt, stünde man nun vor einem Problem. Schmidhauser hält es für denkbar, dass künftig vermehrt die Möglichkeit einer Aussiedlung und eines Rückbaus erwogen wird.

Er verweist auch auf die eidgenössische Waldverordnung, in der Artikel 17 festhält, dass die Sicherung von Gefahrengebieten auch die Verlegung gefährdeter Bauten und Anlagen an sichere Orte umfassen kann. Eine wichtige Rolle spielte auch die Gebäudeversicherung Luzern (GVL). Es stellte sich die Frage, ob eine Versicherungsleistung ausbezahlt werden kann, obwohl noch gar kein physischer Schaden eingetreten ist. «Wir entschieden, dass dieser Fall gleich zu behandeln ist wie ein Elementarereignis und die Besitzer für ihre nicht mehr nutzbaren Häuser zu entschädigen sind», sagt Peter Sidler, Abteilungsleiter Versicherungen der GVL.

Dabei stützte man sich auf einen Praxishinweis des Interkantonalen Rückversicherungsverbands ab (vgl. Kasten). Dass eine Gemeinde allzu schnell zu solchen Massnahmen greife, weil die Versicherung einen grossen Teil der Kosten übernehme, glaubt Sidler nicht. «Eine Behörde verfügt ein dauerhaftes Betretung- und Nutzungsverbot sowie den Rückbau einer Liegenschaft nicht leichtfertig», ist er überzeugt.

Dass der Gemeindeexekutive der Entscheid nicht leicht gefallen sei, bestätigt Baptist Lottenbach, der Gemeindeammann von Weggis und in dieser Funktion für die Naturgefahren zuständig. Entscheidend seien die Unterstützung der Fachstellen von Kanton und Bund sowie die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den ­beteiligten Geologen und Ingenieuren gewesen. «Wir sind sehr erleichtert, dass unser Vorgehen durch das höchste Gericht der Schweiz gestützt worden ist», sagt Lotten­bach. Noch wichtiger sei aber, dass die Situation in der Horlaui nun bereinigt sei.

7. August 2015 TEC21

Die Chance packen

In 16 Monaten fahren die ersten Züge durch den Gotthard­-Basistunnel. Der Südschweiz eröffnen sich damit neue Chancen – doch eine positive Entwicklung stellt sich nicht automatisch ein. Bleibt das Tessin passiv, droht ihm die Marginalisierung.

Die Fahrt in den Süden hatte schon immer ihren Reiz – und hat ihn bis heute. In Airolo steigt jeweils die Spannung: Wie wird sich das Wetter auf der Alpensüdseite präsentieren? Weiter fährt der Reisende durch die Ebene von Ambri-Piotta. Anschliessend windet sich die Bahn durch den Dazio Grande, eine schluchtartige Verengung ähnlich der Schöllenen-Schlucht zwischen Göschenen und Andermatt. Hier kassierten einst die Urner Landvögte Zölle. Der Ticino hat sich tief in die Felsen eingegraben – nur sieht der Bahnreisende kaum etwas davon, weil der Zug in zwei Kehrtunnels den Höhenunterschied überwindet. In Faido sind die Überreste der Alptransit- Baustelle noch erkennbar: Neben Sedrun war Faido der zweite Ort mit einem Zugangsstollen zum Gotthard-Basistunnel. Nun steht hier ein neues Unterwerk der Schweizerischen Bundesbahnen, das die Stromversorgung der Züge im Tunnel sicherstellt. Bald erreicht man die nächste Geländestufe, die Biaschina mit der wohl imposantesten Brücke der Gotthardautobahn (vgl. Abb. rechte Seite). Auf hohen Pfeilern überspannt sie den Talboden.

Als Carl Spitteler im Auftrag der Gotthardbahn 1897 seine Reiseerlebnisse im Buch «Der Gotthard»[1] veröffentlichte, gab es diese Brücke freilich noch nicht. Das Leitthema im Buch sind die Kulturen und Landschaften nördlich und südlich des Gotthards – ein literarisch gestalteter Reiseführer. Einige Jahre später wandte sich der inzwischen als Schriftsteller etablierte, aber noch nicht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Spitteler dem angespannten Verhältnis zwischen Deutsch- und Westschweizern zu. Seine Sorge über das Auseinanderdriften der Landesteile gipfelte 1914 in seiner berühmten Rede «Unser Schweizer Standpunkt».

Beginn einer neuen Epoche?

Seither sind mehr als 100 Jahre vergangen, und demnächst wird ein neues Verkehrsprojekt von nationaler und europäischer Bedeutung in Betrieb gehen. Am 11. Dezember 2016 wird es Realität: In Erstfeld werden die ersten Züge in den Bauch des Gotthardmassivs eintauchen. Das Kirchlein von Wassen wird man nicht mehr dreimal sehen, die Leventina komplett unterfahren. Das Licht des Südens erblickt man in Bodio, auf einer Höhe von 300 m ü.?M. – rund 100 m tiefer, als Zürich liegt. Ist man an der neuen und markanten SBB-Verkehrsleitzentrale Süd in Pollegio vorbei, treten nach wenigen Minuten die Burgen von Bellinzona ins Blickfeld.

Beginnt mit der Inbetriebnahme des Gotthard- Basistunnels wirklich eine neue Epoche, so wie es 1882 nach der Eröffnung des Eisenbahntunnels von Göschenen nach Airolo unbestrittenermassen der Fall war? Für Siegfried Alberton, Ökonom an der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi), ist das etwas hoch gegriffen. «Der neue Tunnel bringt uns mit kürzeren Fahrzeiten ein besseres Verkehrsangebot. Aber vor dem alten Eisenbahntunnel gab es ausser der Postkutsche nichts.»

Was könnte sich ab 2016 ändern? Und was wäre zu tun, damit der Südkanton die Chance, die sich ihm mit der neuen Alpentransversale (Alptransit)[2] nun bietet, auch ergreift? Die Bedeutung von Alptransit habe man im Tessin noch zu wenig erkannt, meint Fabio Giacomazzi. Der Architekt und Raumplaner aus Manno bei Lugano präsidiert den Rat für Raumordnung, der das Bundesamt für Raumentwicklung und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) berät. Im Tessin stünden im Moment vor allem die Alltagsprobleme mit den Grenzgängern, den verstopften Strassen und dem starken Franken im Vordergrund. Auch die Nachwehen der raumpolitischen Entscheide auf Bundesebene – die Revision des Raumplanungsgesetzes und die Zweitwohnungsinitiative – sorgten für Verunsicherung.

«Das absorbiert viel Energie, und als Folge davon fehlt auf politischer Ebene der Raum für strategisches Denken.» Doch gerade das wäre nötig, um die Chancen, die sich mit der neuen Alpentransversale ergeben, nutzen zu können, ist Giacomazzi überzeugt.

Kein zentraler Bahnhof im Tessin

Stärker noch als die verkürzten Reisezeiten nach Zürich und Mailand beeinflusst im Moment der Regionalverkehr das Tessin. Vor zehn Jahren wurde mit Tilo (Treni Regionali Ticino Lombardia) das Angebot des öffentlichen Verkehrs ausgebaut. Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels im Jahr 2020 wird die Fahrzeit von Bellinzona nach Lugano nur noch zwölf Minuten betragen, diejenige von Locarno nach Lugano noch 22 Minuten. Das wird in diesen Agglomerationen einen Entwicklungsschub auslösen. Laut Giacomazzi, der auch Gemeindepräsident von Manno ist, wäre gerade in den Agglomerationen eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden wichtig. Ein aktuelles Projekt ist etwa das Tram im Grossraum Lugano. Die Siedlungsentwicklung ist in geordnete Bahnen zu lenken; die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.

Letztlich geht es um den Übergang in eine urbane Gesellschaft – die Metapher dafür ist die Città Ticino (vgl. TEC21 13/2010 «Ticino Città diffusa»). Schon vor 20 Jahren existierten hierzu Visionen. So sollte etwa bei Camorino in der Magadinoebene der neue zentrale Tessiner Bahnhof entstehen. Mit Ausnahme vom Grenzort Chiasso wäre die Stazione Ticino der einzige Halt der neuen Alpentransversale im Tessin gewesen – vom Knoten Camorino wären die Reisenden mit Tilo in kürzester Zeit weiter nach Bellinzona, Locarno und Lugano gelangt. Bellinzona wäre zudem in einem Tunnel umfahren worden. Doch diese Projekte sind zurückgestellt. Die Etappierung der Neat hat der ursprünglichen Vision die Flügel gestutzt. Remigio Ratti, ehemaliger Tessiner Nationalrat und emeritierter Professor für Regionalwissenschaften an der Universität Freiburg, war Mitglied der Arbeitsgruppe «Alptransit Ticino», die unter Leitung des Tessiner Architekten Aurelio Galfetti in den 1990er-Jahren über die Zukunft des Bahnkorridors und der regionalen Verkehrserschliessung im Tessin nachdachte.[3] Die vom Tessiner Kantonsparlament eingesetzte «Gruppo di riflessione» sollte das von den SBB ausgearbeitete Projekt für die Hochgeschwindigkeitslinie durch den Kanton analysieren und die raumplanerischen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen abschätzen.[4]

Die Vorschläge – unter anderem die zentrale Stazione Ticino und die Fortsetzung von Alptransit von Lugano bis Chiasso – stiessen beim Kanton auf offene Ohren. Leider sei dies in der Planung aber nicht umgesetzt worden, sagt Ratti. Die Stazione Ticino habe im Moment keine Priorität. Das Land, das für deren Realisierung benötigt würde, sei aber immerhin gesichert. Vor fünf Jahren schlug Ratti zudem vor, dass der Kanton Tessin Alptransit zum zentralen Projekt für 2010 bis 2020 erklären sollte. «Als Leitbild für Politik und Wirtschaft ist das aber leider nicht oder nur bruchstückhaft und nur von einzelnen Personen aufgenommen worden.» Seiner Meinung nach fehlt der Wille, Alptransit als Zugpferd für Folgeprojekte zu sehen. Visionen zur territorialen Entwicklung seien rasch zu konkretisieren. Diese würden Gestalt annehmen, sobald sie in Projekte mündeten. Als positive Beispiele nennt Ratti die SBB-Projekte bei den Bahnhöfen von Bellinzona, Lugano und Mendrisio.

Das grösste Risiko sieht Remigio Ratti derzeit darin, dass das Alptransit-Projekt in Lugano endet. Eine Weiterführung bis Chiasso und Mailand sei aber zentral. Im Südtessin seien die Strassen mittlerweile derart verstopft, dass dem Ausbau der Bahn als echter Alternative zum Auto höchste Priorität eingeräumt werden müsse, sagt Ratti. Er selber benütze den Tilo fast jede Woche, wenn er nach Mailand reise. Die S-Bahn gehöre zur metropolitanen Mobilität.

Natur und Kulturlandschaft als Trumpf Vom Gotthard-Basistunnel und der besseren Erreichbarkeit profitieren nicht nur die Zentren. Auch für die Tessiner Täler gebe es Chancen, findet Ratti. Er denkt dabei unter anderem an die beiden Nationalparkprojekte im Centovalli, im Onsernonetal und in Teilen des Maggiatals (Parco Nazionale del Locarnese) sowie im Gebiet zwischen Lukmanier- und San-Bernardino-Pass (Parc Adula). Das sieht auch Fabio Giacomazzi so. Man habe im Tessin zwar kein Matterhorn, aber die enge Verflechtung von Natur und Kulturlandschaft der Tessiner Berge sei ein grosser Trumpf. Diese Chance gelte es zu nutzen.

Dass von Alptransit nicht nur der Tourismus profitieren kann, davon ist Siegfried Alberton überzeugt. Die Hochschulen und die noch junge Universität erlebten gegenwärtig einen Aufschwung. Auch als Forschungsstandort könnte sich die Südschweiz weiter etablieren; in Bellinzona etwa existiert bereits ein Zentrum für medizinische Forschung. Der Kanton und verschiedene Institutionen hätten die Chancen und Risiken von Alptransit analysiert. Nun gelte es, konkrete Projekte umzusetzen. «Gefragt ist jetzt vor allem die Initiative von Privaten und der Wirtschaft», sagt Alberton. Alptransit sei in erster Linie als Verkehrsprojekt geplant worden. Eine verbesserte Infrastruktur führe aber nicht automatisch zu Entwicklung.

Ökonomische Chancen und Risiken

2012 erschien ein Bericht über die ökonomischen Effekte von Alptransit auf das Tessin.[5] Auftraggeber war der Kanton. Die Autoren kamen zum Schluss, dass 700 bis 1400 neue Arbeitsplätze entstehen könnten; das wären 0.5 bis?1?% der heute Beschäftigten im Tessin. Zulegen dürfte besonders der Dienstleistungssektor einschliesslich des Tourismus. Regional zeigen sich Unterschiede. Profitieren werden besonders die Regionen von Bellinzona und Lugano, in geringerem Ausmass Locarno und Mendrisio. Die Tessiner Bergtäler – das Maggiatal, die Leventina und das Bleniotal – dürften laut der Studie hingegen kaum einen direkten Nutzen haben. Es wird vor allem entscheidend sein, ob es gelingt, diese Täler an den öffentlichen Verkehr anzubinden. Und in der Leventina stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern das Zugangebot auf der Bergstrecke aufrechterhalten bleibt. Heute halten die Interregio-Züge in Airolo und Faido – die Leventina verfügt damit über gute Verbindungen nach Bellinzona und auf die Alpennordseite.

Das Tessin befindet sich in einer Sandwichlage – im Süden grenzt es an Italien, und so betont man gern das Schweizerische. Aber auch von der Deutschschweiz will man sich abgrenzen. In letzter Zeit habe das Tessin etwas zu sehr nach Süden geschaut, findet Siegfried Alberton. Durch die schnellere Verbindung zu den Städten im Schweizer Mittelland werde sich der Blick der Tessiner vielleicht wieder etwas mehr nach Norden richten. Und das sei nicht schlecht. «Die grosse Chance von Alptransit besteht vielleicht darin, dass die Südschweiz ihr Verhältnis zum Rest der Schweiz neu definieren kann», sagt Alberton. Wenn jedoch im Kanton selber keine Initiativen erfolgten, dann drohe lediglich mehr Transitverkehr – und, noch schlimmer, eine Marginalisierung innerhalb der Schweiz.

In diesem Sinn ist die neue Alpentransversale auch für die ganze Schweiz als Chance zu sehen. Nicht nur, weil die Menschen schneller vom Norden in den Süden gelangen und umgekehrt. Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels könnte auch bewirken, dass die Südschweiz wieder etwas stärker ins Bewusstsein der übrigen Schweiz rückt.

So ist es beispielsweise sehr erfreulich, dass sich die Stadt Zürich zusammen mit den Gotthardkantonen Schwyz, Uri und Tessin über die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land im Gotthard-Korridor im Zug der Neat-Eröffnung Gedanken gemacht hat. Die Ergebnisse sind im Rahmen des europäischen «Alpine Space»-Programms erarbeitet worden und in einem Bericht festgehalten.[6] Ende Juni war an der Expo in Mailand eine Veranstaltung im Schweizer Pavillon dem Thema gewidmet. Hoffentlich ist das erst der Anfang der Kooperation. Das 57 km lange Bauwerk durch den Gotthard würde dann nämlich nicht nur als Tunnel dienen, sondern auch als eine «Brücke» zwischen den Landesteilen wirken.


Anmerkungen:
[01] Carl Spitteler: Der Gotthard – Mit der Eisenbahn und zu Fuss über den Gotthard. Europa Verlag AG. Zürich 2014.
[02] Im Tessin wird die neue Alpentransversale durch den Gotthard oft Alptransit genannt. Damit ist die neue Verbindung mit den beiden Basistunnels gemeint – und nicht die AlpTransit Gotthard AG, die die Bauwerke im Auftrag des Bundes erstellt.
[03] Aurelio Galfetti et al.: Progetto di grande massima per una Alptransit Ticino. 1993.
[04] Paolo Fumagalli: Alptransit Gotthard – ein territorialer Entwurf für das Tessin. In: Werk, Bauen und Wohnen 87 (2000).
[05] Metron, RappTrans, consavis: Effetti economici della messa in esercizio di Alptransit in Ticino: opportunità e rischi – Rapporto finale. Republica e Cantone Ticino. 2012.
[06] Ecoplan, Institut für Betriebs- und Regionalökonomie Hochschule Luzern: Zürich – Gotthard – Mailand: Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land im Gotthard-Korridor im Zuge der NEAT-Eröffnung. Stadtentwicklung Zürich, Kantone Schwyz, Tessin und Uri, 2015.

24. April 2015 TEC21

Den Launen der Natur trotzen

Am Fuss der Rigi ist die Verzahnung von Siedlungsgebiet und­ ­Natur­gefahren besonders ausgeprägt. Das macht den Schutz von Menschen und ­Gütern zu einer anspruchsvollen Aufgabe. Die Herausforderungen sind vielfältig. Ein Augenschein an der Luzerner Riviera.

Die Meldung sorgte in der ganzen Schweiz für Aufsehen: Ende Juni 2014 verfügte der Gemeinderat von Weggis, gestützt auf Polizeinotrecht, ein Nutzungs- und Betretungsverbot per 1. August für fünf Liegenschaften und ordnete deren Abbruch an. Vertiefte Abklärungen oberhalb der Häuser in der Horlaui[1] hatten ergeben, dass mehrere Felstürme der Nagelfluhbänder akut absturzgefährdet sind. Da nicht genug Vorwarnzeit zur Verfügung gestanden hätte, wäre eine rechtzeitige Evakuierung nicht möglich gewesen. Hätte die Gemeinde den Bewohnern gestattet, dort weiterhin zu wohnen, wären sie einem hohen Todesfallrisiko ausgesetzt gewesen.

«Wir mussten sofort handeln», sagt Baptist Lottenbach, der Gemeindeammann von Weggis. In dieser Funktion ist er unter anderem auch für den Schutz von Personen und Gütern vor Naturgefahren auf dem Gemeindegebiet zuständig. Der Gemeinderat entschied nach Rücksprache mit der Abteilung Naturgefahren der Dienststelle Verkehr und Infrastruktur des Kantons Luzern und der Abteilung Gefahrenprävention des Bundesamts für Umwelt. Mit den Hausbesitzern habe man Gespräche geführt, sagt Lottenbach. Das sei schwierig gewesen. Dank der konstruktiven Zusammenarbeit mit der Gebäudeversicherung Luzern ergab sich aber die Lösung, dass diese auch bei einem Rückbau der Gebäude die Versicherungsleistungen erbringt.

Die Gebäudeversicherung Luzern stellte sich auf den Standpunkt, dass für die Hauseigentümer aufgrund des dauernden Betretungs- und Nutzungsverbots sowie des verfügten Abbruchs der wirtschaftliche Schaden wegen des drohenden Ereignisses auch ohne Beschädigung der Häuser eingetreten ist (vgl. Kasten S. 28). Heute sind alle Liegenschaften bis auf ein Haus abgebrochen. Dessen Besitzer wehrt sich mit rechtlichen Mitteln gegen den Eingriff in seine Eigentumsrechte. Nach dem Kantonsgericht, das den Entscheid der Gemeinde bestätigte, muss sich nun auch noch das Bundesgericht mit diesem Fall beschäftigen.

Verdrängte Naturgefahren

An den Ufern des Vierwaldstättersees sind die Wohnlagen wunderschön und exklusiv. Doch am Fuss der Rigi sind die Naturgefahren allgegenwärtig. Allzu oft wird ihre Existenz verdrängt. Man dürfe die Augen davor aber nicht verschliessen, findet Baptist Lottenbach. Vergangene Ereignisse sprechen eine klare Sprache. 1661 verschüttete ein Bergsturz zwischen Vitznau und Weggis das Bad Lützelau. 1795 rutschte das gesamte Oberdorf von Weggis – 28 Häuser, zahlreiche weitere Gebäude und die Sankt-Verena-Kapelle – in den See. Todesopfer waren keine zu beklagen, 400 Menschen verloren jedoch ihr Obdach.

Albin Schmidhauser, der Leiter der Abteilung Naturgefahren beim Kanton Luzern, zählt die wichtigsten Gefahren auf: Stein- und Blockschlag, Fels- und Bergstürze, Hochwasser und Murgänge – praktisch die ganze Palette. Ohne Schutzwälder müsste auch den Lawinen eine grössere Beachtung beigemessen werden. Am Vierwaldstättersee sind in der Vergangenheit sogar Tsunamis aufgetreten: Die Chroniken berichten von einem Erdbeben 1601; mächtige Ablagerungsschichten im See rutschten ab und lösten eine Flutwelle aus, die auch Luzern heimsuchte. Die Stadtoberen deuteten dies als Gottes Strafe und verfügten ein mehrwöchiges Tanzverbot[2]. 1964 und 2008 stürzten in einem Steinbruch am Bürgenstock einige Felsbrocken ins Wasser – beide Male erreichten Flutwellen das gegenüberliegende Ufer in Weggis. Baptist Lottenbach weiss von Fischen, die 1964 aufs Land gespült wurden, und von zerstörten Booten und Uferanlagen. 2008 hatte man Glück: Weil die Welle erst abends aufs Ufer prallte, kamen trotz Badewetter keine Menschen zu Schaden.

Unwetter 2005 mit grossen Schäden

Die Starkniederschläge im August 2005 mit Schäden von rund 3 Mrd. Fr. schweizweit hinterliessen auch in Weggis tiefe Spuren. Über 50 Hangmuren und Spontanrutschungen ereigneten sich. Drei Häuser wurden zerstört; die Bewohner konnten glücklicherweise rechtzeitig evakuiert werden. Nach einer längeren ruhigen Periode war man 2005 von der Heftigkeit der Ereignisse überrascht. Und seither scheinen sich die hydrologischen Verhältnisse in Rigi Kaltbad und an den steilen Hängen oberhalb von Weggis auf den Kopf gestellt zu haben. Unzählige spontane Wasseraustritte führten auch im Wald zu Rutschungen. «Wir schenken den Rutschprozessen heute viel mehr Aufmerksamkeit als früher», sagt Silvio Covi, der als Schutzwaldbeauf­tragter des Kantons die Luzerner Rigigemeinden seit 28 Jahren betreut. Die Begehungen nach dem Unwetter hätten gezeigt, dass die Bäume im grossflächig wirksamen Schutzwald riesige Mengen an Erdmaterial, Steinblöcken und Holz effizient aufzuhalten vermochten.

2005 waren die ersten Gefahrenkarten in Weggis bereits erstellt, und erste Schutzmassnahmen standen zur Diskussion. Das Unwetter erforderte Anpassungen. Um die unmittelbare Gefährdung des Quartiers Laugneri durch Stein- und Blockschlag zu reduzieren, wurde unverzüglich ein 260 m langer und 4 m hoher Schutzdamm gebaut. Weitere Schutzmassnahmen sollten folgen. 2009 stimmte die Weggiser Bevölkerung der Sanierung des Rubibachs zu, eine Verlängerung des bestehenden Schutzdamms wurde hingegen abgelehnt.

Auch die Nachbargemeinde Vitznau beschäftigen Naturgefahren. 2005 sei man mit einem blauen Auge davon gekommen, erzählt Irene Keller, die seit fast 15 Jahren das Amt des Gemeindeammanns ausübt. Doch seit jenem August sei sie jeweils wie auf Nadeln, wenn Starkniederschläge angekündigt seien. Etwas oberhalb von Vitznau wohnhaft, übernachte sie dann jeweils im Dorf, um vor Ort zu sein.

Oberhalb von Vitznau sind die geologischen Verhältnisse besonders unruhig, denn hier treffen die helvetischen Decken der Alpen auf Nagelfluhgestein und Mergel, die geologisch gesehen zum Mittelland gehören. In den letzten hundert Jahren ereigneten sich hier über ein Dutzend Felsabstürze. Am Silvestertag 1986 stürzten erhebliche Felsmassen Richtung Dorf, grössere Schäden gab es nicht. Die Absturzstelle ist aber heute noch gut sichtbar und wird von den Orts­ansässigen «Silvesterloch» genannt. Um das Dorf zu schützen, baute man deshalb vor fast 30 Jahren einen 300 m langen und bis zu 12 m hohen Schutzdamm.

Unberechenbare Vitznauer Bäche

Derzeit stehen jedoch die Vitznauer Bäche im Vordergrund. «Das Murgangrisiko hat absolute Priorität», sagt Albin Schmidhauser. Im Unterschied zu den Sturzprozessen, bei denen die Gemeinden federführend sind, steht beim Wasserbau der Kanton in der Pflicht. Die nach den Ereignissen von 2005 überarbeitete Vitznauer Gefahrenkarte zeigt, dass bei Starkniederschlägen sämtliche Bäche viel Geröll mit sich führen können. In ihren Einzugsgebieten findet Erosion statt, die steilen Bacheinschnitte sind in Bewegung, sodass es immer wieder zu kleineren Rutschungen kommt. Im Rahmen des Projekts «Integrales Schutzkonzept Vitznauer Bäche» (IKS) sind von den acht Bächen auf Gemeindegebiet fünf bezüglich Murgängen als prioritär eingestuft worden.

Einer der gefährlichen Bäche ist der Altdorfbach. Er hat ein weit verzweigtes Gerinnenetz. Durch frühere Murgangereignisse entstand ein ausgeprägter Ablagerungskegel, auf dem sich nun Teile des Dorfs befinden. Nach der ersten Gefahrenkartierung begannen Planungen für einen Geschiebesammler direkt oberhalb des Siedlungsgebiets. Ebenso habe man den lang vernachlässigten Gewässerunterhalt intensiviert, sagt Irene Keller. Das Projekt für einen Geschieberückhalt von 10 000 m³ war 2005 genehmigt, aber noch nicht realisiert, als sich das Unwetter im August ereignete. Vitznau hatte noch einmal Glück. Der Bau des Geschiebesammlers wurde anschliessend jedoch umgehend an die Hand genommen. Wie sich jetzt aber zeigt, vermag dieser lediglich das Geschiebe von häufigen Ereignissen mit einer Wiederkehrperiode von etwa 30 Jahren aufzunehmen (vgl. Abb. oben). Bei seltenen und sehr seltenen Ereignissen hingegen bietet das Bauwerk nicht genügend Schutz. Für diese Szenarien gilt es nun Lösungen zu finden.

Die Überarbeitung der Gefahrenkarte hatte für Vitznau Folgen: Ein beträchtlicher Teil des Siedlungsgebiets befindet sich nun plötzlich in der roten Zone. Das sorgte für intensive Diskussionen, denn die Gemeinde führt derzeit eine Gesamtrevision der Ortsplanung durch. Nach Einschätzung der Naturgefahrenexperten ist es nicht möglich, extreme Ereignisse komplett vom Dorf fernzuhalten. Für den Überlastfall sind deshalb Korridore im bebauten Gebiet freizuhalten.

Die Gemeinde will hingegen, dass mit baulichen Schutzmassnahmen die rote Zone im Siedlungsgebiet so weit wie möglich verkleinert wird. «Aufgrund der Topografie ist unser Entwicklungspotenzial sehr begrenzt», gibt Irene Keller zu bedenken. Deshalb müsse man vorausschauen und es sich auch etwas kosten lassen, um den knappen Siedlungsraum für die Zukunft zu sichern. Für eine Gemeinde wie Vitznau sei das mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden. Die Bevölkerung sei bezüglich der Naturgefahren sensibilisiert, ist Keller überzeugt. Die Massnahmen müssten aber verhältnismässig sein, fordert die Gemeindepolitikerin, die auch Mitglied des Parlaments des Kantons Luzern ist.

Neuer Anlauf in Weggis

In Weggis stellte sich 2009 nach der gescheiterten Abstimmung über die Erweiterung des Schutzdamms die Frage, wie es weitergeht. 2012 war die Zeit reif, einen neuen Anlauf zu nehmen. Als Erstes genehmigte die Gemeinde Mittel für eine Vorstudie. Deren Ergebnisse präsentierte man den Grundeigentümern. Als besonders schwierig erwies sich die Situation in der Horlaui. «Bei den fünf Liegenschaften dort zeigte sich, dass eine Sicherung der vier Felsbänder unverhältnismässig hohe Kosten verursachen würde», sagt Baptist Lottenbach. Zudem liesse sich so das Problem nicht wirklich lösen. Weil die Mergelschichten schneller verwittern als die Nagelfluhfelsen, bilden sich im steilen Gelände an der Abbruchkante immer wieder neue Felstürme (vgl. Abb. rechts). Zum ersten Mal wurden eine Aussiedlung und ein Abbruch der Häuser ins Auge gefasst. Da die Bewohner Widerstand gegen einen Abbruch ihrer Liegenschaften ankündigten, mussten Fachleute vertiefte Abklärungen vornehmen. Und diese ergaben ein dramatisches Bild der Gefährdung. Aufgrund der sehr geringen Stabilitätsreserven bei mehreren Felstürmen war dringender Handlungsbedarf angezeigt.

Eine wie in Weggis vorsorglich angeordnete Evakuierung ist aussergewöhnlich. Sie zeigt aber, was auf die Gemeinden in der Schweiz mit dem zunehmenden Wissen über die Bedrohung durch Naturgefahren vermehrt zukommt. Auch für die Gebäudeversicherungen ergeben sich neue Herausforderungen (vgl. Kasten oben rechts). Auf den ersten Blick irritiert, dass zwar der Rückbau der Häuser angeordnet wurde, die Kantonsstrasse aber weiterhin durch das gefährdete Gebiet führt. Der Unterschied liegt darin, dass Häuser ständig bewohnt sind, während Personen in Fahrzeugen sich lediglich für eine kurze Zeit in der Gefahrenzone befinden. «Daraus ergibt sich rechnerisch ein deutlich geringeres individuelles Todesfallrisiko, das akzeptiert wird», erläutert Albin Schmidhauser.[3]

Neben der Bewältigung der Evakuierung in der Horlaui trieb die Gemeinde die anderen Naturgefahrenprojekte voran: die Verlängerung des bestehenden Schutzdamms in der Laugneri sowie zwei neue Schutzdämme in den Linden. Ende November 2014 befürworteten die Weggiser Stimmberechtigen die Projekte an der Urne mit Zweidrittelsmehrheit. Der genehmigte Bruttokredit beträgt 12.4 Mio. Fr., wovon die Gemeinde rund einen Drittel zu tragen hat. Wertvolle Schutzwälder Neben den technischen Schutzbauten trägt auch der Wald in hohem Masse zum Schutz von Personen und Gütern bei. Ende der 1980er-Jahre starteten die ersten Schutzwaldpflegeprojekte. «In der Schutzwaldpflegegenossenschaft der Luzerner Rigigemeinden sind die drei grossen Korporationen Greppen, Weggis und Vitznau sowie 150 weitere Privatwaldeigentümer zusammengeschlossen», sagt Silvio Covi. Von 860 Hektaren Wald sind 720 Hektaren als Schutzwald ausgewiesen. In den vergangenen 15 Jahren habe man über 160 Massnahmen umgesetzt. Ein Grossteil davon sind Holzschläge zur Förderung der Schutzwaldwirkung. Schutzwaldpflege sei eine Daueraufgabe, erläutert Covi. Jedes Jahr würden 10 bis 20 Hektaren Schutzwald gepflegt und rund 200 000 bis 300 000 Franken investiert (vgl. Abb. oben rechts).

Die Struktur der Schutzwälder der Luzerner Rigigemeinden ist dank der langjährigen Schutzwaldpflege gut. Mit gezielten Verjüngungsschlägen wird sie weiter verbessert. Die Bewirtschaftung der Wälder an der Rigi ist anspruchsvoll, denn das Gelände ist steil und schlecht erschlossen. Daher erfolgt die Holznutzung grösstenteils mittels Seilkran oder Helikopter. Das Baumartenspektrum ist gross, besonders Laubhölzer sind gut vertreten. Das Wild behindert die Verjüngung des Walds mit jungen Bäumchen auf der Südseite der Rigi nur vereinzelt, während die Förster auf der Nordseite beim Aufbringen der Weisstanne mit grossen Problemen konfrontiert sind (vgl. Kasten).

Beim Projekt «Integrales Schutzkonzept Vitznauer Bäche» geht es unter anderem auch darum, technische Schutzmassnahmen und die Schutzwaldpflege optimal aufeinander abzustimmen. Die Wirkung des Schutzwalds werde oft unterschätzt, ist Covi überzeugt. Als Beispiel erwähnt er den Felssturz von Gurtnellen 2006. Fachleute sind sich einig, dass ohne Schutzwald damals grössere Schäden entstanden wären (vgl. TEC21 26/2007 «Schutzwald bremst auch grosse Blöcke»).


Anmerkungen:
[01] Die Häuser wurden zwischen 1940 und 1960 rechtmässig erstellt, das Gebiet wurde aber nie eingezont.
[02] Vgl. Staatsarchiv Luzern: www.staatsarchiv.lu.ch/tsunami_1601.htm
[03] Bei angenommenen 12 Stunden Aufenthaltszeit im Haus gegenüber 12 Sekunden Durchfahrtsdauer fällt das Risiko für einen Autofahrer 3600-mal geringer aus als für einen Bewohner im Haus. Für gravitative Naturgefahren ist in der Schweiz ein Schutzziel festgelegt. Demnach darf das individuelle Todesfall­risiko nicht grösser als 10–5/Jahr sein. Ausgangspunkt ist das natürliche Sterberisiko in der Schweiz, das für einen jungen Menschen etwa 1 : 10 000 (= 10–4) pro Jahr beträgt. Für unfreiwillig eingegangene Risiken im Zusammenhang mit Naturgefahren soll dieses Risiko um nicht mehr als 10 % erhöht werden. Deshalb wurde der Grenzwert bei 1 : 100 000 (= 10–5) pro Jahr angesetzt.

3. Oktober 2014 Daniela Dietsche
TEC21

«Mit Sättigungstauchern sind wir schneller»

Bei der Kraftwerksanlage Punt dal Gall ist es Zeit, einige Anlageteile zu erneuern. Nach einer gravierenden Panne im März 2013 musste das vorgesehene Sanierungsprojekt überarbeitet werden. Wichtigste Änderung: Der See wird nicht entleert, Taucher sollen übernehmen.

TEC21: Herr Roth, die Staumauer Punt dal Gall mit ihren Anlagen besteht seit gut 40 Jahren. Nach ungefähr der Hälfte der Konzessionsdauer steht nun eine Erneuerung an. Ist das bei Wasserkraftwerken üblich?
Michael Roth: Ja, es ist sinnvoll, die nassen Teile, das heisst die Stahlwasserbauten unter Wasser, einmal während einer Konzessionsdauer von 80 Jahren zu ersetzen. Üblicherweise geschieht dies nach 40 bis 50 Jahren, um die Anlage bis zum Ende der Konzession sicher betreiben zu können. In unserem Fall bis 2050.

Die Planung begann 2012. Ende März 2013 kam es zu einer Kraftwerkspanne. Was hat sich ereignet?
Wir hatten einen langen kalten Winter, und es herrschte eine ausgeprägte Knappheit im Schweizer Regelenergiemarkt. Von den an den Engadiner Kraftwerken (EKW) beteiligten Partnern wurden wir an­gehalten, so viel Strom wie möglich zu liefern. Das führte dazu, dass der Seestand so tief war wie lang nicht mehr. Da er aber immer noch 18 m über dem in der Konzession festgelegten Absenkziel lag, machten wir uns keine Sorgen. Am 30. März stellten Nationalparkwärter fest, dass das Restwasser, mit dem der Spöl sonst versorgt wird, nicht mehr fliesst. Die Dotieranlage bei der Staumauer war verstopft. Um Abhilfe zu schaffen, öffneten die EKW den Grundablass. Dabei wurde der Spöl nicht nur mit Wasser versorgt, sondern es gelangte auch Schlamm ins Flussbett. Ebenfalls am 30. März trieben im Ausgleichsbecken Ova Spin tote See­saiblinge. Aufgrund des Fundorts in der Nähe der Einleitung des Wassers aus der Kraftwerkszentrale Ova Spin mussten sie aus dem Livigno-Stausee stammen. Deshalb stellte man die Turbinen ab und pumpte stattdessen Wasser hoch in den Livigno-­Stausee, um dessen Wasserstand anzuheben.

Die Fische gelangten also durch die Turbinen in das Ausgleichsbecken Ova Spin? Wie ist es möglich, dass Seesaiblinge in den Druckstollen geraten?
Sie können grundsätzlich in den Einlaufbereich des Druckstollens schwimmen, was sie in der Regel vermeiden. Vermutet wird, dass der knappe Lebensraum, bedingt durch den tiefen Wasserstand und eine Trübung des Wassers, die Fische dazu veranlasste, das sauberere Wasser im Druckstollen aufzusuchen, als die Turbinen nicht in Betrieb waren. Wenn die Maschinen laufen, meiden sie die Strömung im Einlaufbereich. Wenn sich die Fische aber einmal dort befinden und die Maschinen gestartet werden, sind sie gefangen und geraten in den Sog des Wassers.

Die Ereignisse wurden von der ETH Lausanne untersucht. Wie schätzen Sie den Vorfall heute ein?
Aufgrund der Arbeit der Task Force Spöl und der Berichte der ETH Lausanne wissen wir heute relativ genau, was passiert ist. Der niedrige Seestand führte zu veränderten Erosionsprozessen der Sedimente. Das ist ein dynamischer Vorgang, und es kann zu Trübeströmen kommen. Das sind Schlamm­lawinen am Seegrund, die durch den See bis zum Mauerfuss gelangen können. Dieser Schlamm ist über das Dotierwasser bereits vor dem Ereignis in den Spöl einge­tragen worden und war der Grund, weshalb viele Bachforellen verendeten. Irgendwann verstopfte die Dotieranlage. Das Öffnen des Grund­ablasses hat zweifelsohne nochmals zu einem zusätzlichen Schlamm­austrag geführt. Aber wir gehen davon aus, dass ein Grossteil des Schlamms schon vorher im Spöl war.

Die von Exponenten des Nationalparks und einzelnen Wissenschaftlern viel kritisierte Öffnung war also unvermeidbar?
Ja, den Grundablass zu öffnen war die einzige Möglichkeit, den Spöl wieder mit Wasser zu ver­sorgen. Durch die entstandene Strömung im Einlaufbereich löste sich auch die Verstopfung des Dotierwassereinlaufs. Zunächst gingen wir ebenfalls davon aus, dass das Öffnen des Grundablasses massiv zu dem ökologischen Schaden beigetragen hat. Das war auch Gegenstand des eingeleiteten Straf­verfahrens. Da es aus betrieblicher Sicht korrekt war und auch die Experten der ETH Lausanne dies so sehen, wurde das Verfahren eingestellt. Haftpflicht- und Schadenersatzfragen sind aber noch offen.

Noch einmal zurück zu den Unterwasserlawinen. Eine Lawine hinter einer Staumauer hört sich dramatisch an. Sind damit nicht Gefahren verbunden?
Ein Trübestrom hat nicht die Wucht einer Schneelawine. Seine Kraft ist für die baulichen ­Anlagen unkritisch. Hingegen können Trübeströme dazu führen, dass wichtige Anlagen wie der Grund­ablass mit Sedimenten eingedeckt werden, und das darf nicht passieren, der Grundablass muss aus Sicherheitsgründen jederzeit geöffnet werden können. Auch deshalb nehmen wir ihn ein- bis zweimal jährlich in Betrieb. Dabei werden die Sedimente frühzeitig weggespült.

Was sind die Konsequenzen aus dem Unfall?
Die Experten der ETH Lausanne haben uns empfohlen, die künstlichen Hochwasser weiterzuführen und den Einlauf in die Dotieranlage um einige Meter höher zu legen. Empfohlen wurde uns zudem, die Abgabe des Dotierwassers mit einer zweiten, unabhängigen Methode zu messen. Die bisherige misst nur die Menge des Dotierwassers, nicht aber seine Trübung. Was wir sofort einhalten können, ist die Empfehlung, den See nicht tiefer als 1735 m ü. M. abzusenken.

Das Absenkziel lag bisher bei 1700 m ü. M. Bringt die Entscheidung, auf die untersten 35 m zu verzichten, keine grossen ökonomischen Einbussen mit sich?
Je nach den Energiepreisen schmerzt das schon. Da wir aber Täler mit einem V-Profil haben, wirken sich die unteren 35 m nur wenig auf das gesamte Stauvolumen aus. Zudem ist der Livigno-Stausee im Vergleich zu den Zuflüssen gut dimensioniert und recht gross für einen Jahresspeicher, der zum Ziel hat, Wasser vom Sommer für den Winter zu speichern.

Das ursprüngliche Erneuerungskonzept sah vor, den See weitgehend zu entleeren und die Arbeiten im Trockenen durchzuführen. Wie beeinflusste das Ereignis die Planung?
Wir fragten uns, ob wir den See überhaupt so weit absenken können wie geplant, ohne einen weiteren Schlammaustrag in den Spöl zu riskieren. Dies führte zu einer Zäsur und Überarbeitung des Projekts. Nun verzichten wir auf die Entleerung und planen stattdessen, Taucher einzusetzen. Um den Grund­ablass, die Dotieranlage und die Drosselklappen, die sich in der Wasserleitung zu den Turbinen befinden, vor Seewasser zu schützen, muss ein Deckel auf den Öffnungen der Einläufe angebracht werden. Das heisst, es wird seeseitig abgedichtet, und anschlies­send können die Arbeiten an den Anlagenteilen in An­griff genommen werden. Der Einsatz von konven­tionellen Tauchern ist aber heikel. Auf 1800 m ü. M. ist vor allem das Auftauchen gefährlich. Zudem müssten wir den See über drei Sommer sehr tief halten. Die Gefahr eines erneuten Schlammaustrags wäre relativ gross. Diese Erkenntnisse führten zur zweiten Variante: dem Sättigungstauchen. Das Ver­fahren ist aus dem Offshore-Bereich bekannt. In der Schweiz wurde es erst einmal angewendet – 2012 bei der Staumauer Hongrin VD, oberhalb von Montreux.

Wie muss man sich das Sättigungstauchen vorstellen?
Die Taucher leben während mehreren Wochen auf einem Floss. In einer Druckkammer an der Wasseroberfläche werden sie unter den Druck gesetzt, der dem entspricht, der in ihrer Arbeitstiefe herrscht. Mit der Kammer verbunden ist eine Tauchglocke, die unter demselben Druck steht. Diese kann von der Kammer getrennt und auf die Arbeitshöhe abgesenkt werden. Dort können die Taucher aussteigen und arbeiten. Die Dekompression der Taucher wird gut drei Tage dauern.

Und wie sehen die Kosten aus?
Mit diesem Verfahren können wir die Arbeiten in einem Sommer abwickeln, bei normalem See­stand. Da die Seebewirtschaftung nur wenig eingeschränkt ist, erleiden wir kaum Verluste bei der Stromproduktion. Wir haben ein geringeres Risiko hinsichtlich Schlammeintrag in den Spöl und eine höhere Arbeitssicherheit, weil der kritische Faktor des Auftauchens entfällt. Die nun geplanten Sanierungsarbeiten ­werden mit 24 Mio. Fr. bis zu 10 Mio. Fr. teurer ­veranschlagt als bei der ursprünglichen Variante.

Wurden weitere Varianten geprüft?
Ja, wegen der Mehrkosten prüften wir Alternativen. Nehmen wir einmal an, es würde gelingen, den See ohne übermässigen Schlammaustrag abzusenken und zu entleeren. Das nächste Problem ist, dass der Spöl immer mit Wasser versorgt sein muss. Die Zuflüsse bringen dieses Wasser durch den leeren See an den Fuss der Staumauer, von wo es in den Spöl gelangt. Dabei besteht das Risiko, dass die Zuflüsse grosse Mengen Sedimente aus dem See erodieren. Um dies zu verhindern, haben wir uns überlegt, an den oberen Enden der beiden Seearme provisorische Wasserfassungen zu bauen und so das Wasser der Zuflüsse über Leitungen an den Mauerfuss zu bringen. Das wäre aber nicht günstiger, im Gegenteil, die Leitungen auf dem Seegrund zu bauen wäre teurer. Zudem ist es riskant, denn wenn der Zufluss bei starken Niederschlägen grösser als die Entnahme durch die provisorische Wasserfassung wird, muss das Wasser in den See geleitet werden. Im schlimmsten Fall müssten wir die Arbeiten einstellen.

Wann kommen die Taucher zum Einsatz, und wie lang werden die Arbeiten der Taucher dauern?
Wir gehen davon aus, dass die Taucher 2016 drei bis vier Wochen arbeiten. Weil immer Rest­wasser in den Spöl fliessen muss, können wir nicht alle Einläufe gleichzeitig schliessen. Sobald der Grund­ablass und der Einlauf in die Dotieranlage verschlossen sind, soll das Restwasser über einen Anschluss bei den Drosselklappen sichergestellt werden. Sind die Arbeiten an den Anlagenteilen abgeschlossen, ist auch die Arbeit der Taucher beendet, da die Abdeckungen später von der Seeoberfläche aus entfernt werden können. Wir gehen heute davon aus, dass die Erneuerung und Instandsetzung bis September 2017 durchgeführt sein werden. 

28. März 2014 TEC21

Ein Schmetterling für Zürich-Nord

Oerlikon durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Der Bahnhof wird komplett neu gestaltet. Er wird zum Zentrum und Bindeglied zwischen den Quartieren in Zürich-Nord.

Der Kabarettist und Schriftsteller Franz Hohler beschreibt auf den ersten Seiten seines jüngsten Buchs «Gleis 4»[1] die enge Unterführung des Bahnhofs Zürich Oerlikon. Isabelle, die Protagonistin des Romans, ist auf dem Weg zum Flughafen in Kloten. «Zu spät hatte sie daran gedacht, ganz nach hinten zum Ende der Geleise zu gehen, wo es schräg ansteigende Auf- und Abgänge ohne Treppen gab, und erst als sie die Stufen vor sich sah, die ihr so steil und feindlich vorkamen wie noch nie, merkte sie, wie schwer ihr Koffer eigentlich war, und ärgerte sich, dass ein so stark frequentierter Bahnhof wie dieser immer noch nicht über Rolltreppen verfügte, sondern wie die Provinzstation behandelt wurde, die er vor hundert Jahren einmal war.» – Das Kofferschleppen über steile Treppen wird bald vorbei sein. Rolltreppen wird es im neuen Bahnhof Zürich Oerlikon zwar nicht geben. Von den Unterführungen werden aber künftig Lifte zu den Perrons führen. Franz Hohler wird es freuen. Er lebt seit 1978 in Oerlikon.

Vom Dorf zum Industriestandort

Vor 100 Jahren war Oerlikon ein kleines Dorf. 1934 wurde der Ort zusammen mit Seebach, Affoltern und Schwamendingen durch Eingemeindung zum nördlichen Teil der Stadt Zürich (Lageplan S. 23). Der am Rand des Wohngebiets gelegene Bahnhof war damals in der Tat eine Provinzstation. Auf der anderen Seite befanden sich die Industriegelände der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), der Accumulatoren Fabrik (später Accu Oerlikon) und der Schweizerischen Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon (später Oerlikon-Bührle AG). In der MFO wurden unter anderem die legendären Krokodil-Lokomotiven gebaut (Kasten S. 25). 1967 übernahm die in Baden ansässige BBC die MFO und fusionierte ihrerseits 1988 mit der schwedischen Asea zu ABB.

Wer nicht im Industriegebiet arbeitete, hatte dort, auf der anderen Seite der Gleise, keinen Zutritt. Nur die Birchstrasse, die in süd-nördlicher Richtung mitten durchs Industriequartier führte, war frei zugänglich. Christian Relly, Präsident des Quartiervereins Oerlikon, ist bei der Regensbergbrücke aufgewachsen. Er erinnert sich, wie er als Bub mit dem Velo jeweils via Birchstrasse nach Seebach fuhr. Auf der linken Seite befand sich das Areal der Oerlikon-Bührle, auf der rechten Seite dasjenige der MFO. Das Industriegebiet war ein umzäuntes, unbekanntes Land.

Auch Röbi Stolz kennt das Areal seit seiner Kindheit. Sein Vater arbeitete bei der MFO; er selber absolvierte bei der BBC die Lehre. Heute betreibt er ein Velogeschäft beim Bucheggplatz und ist Präsident des Vereins WerkStadt Oerlikon, in dem die wichtigen Oerlikoner Quartierorganisationen zusammengeschlossen sind. Manchmal wird das ehemalige Industriegebiet auch als «verbotene Stadt» bezeichnet. Der Architekturkritiker Benedikt Loderer soll diesen Begriff in Zusammenhang mit Industriebrachen populär gemacht haben. Laut Stolz kam diese Bezeichnung erst auf, als sich in den 1990er-Jahren die Öffnung des Areals abzeichnete. Für ein wirklich «verbotenes» Gebiet arbeiteten im Industrieareal schlicht zu viele Leute aus Oerlikon. Etwas geheimnisumwittert war es aber schon, vor allem das Areal der Waffenschmiede der Oerlikon-Bührle.

Der Bahnhof als Dreh- und Angelpunkt

Nach der Öffnung des Industrieareals entstanden seit der Inkraftsetzung der Sonderbauvorschriften 1998 viele Geschäfts- und Wohnhäuser nördlich des Bahnhofs. Dieser Stadtteil, man gab ihm den Namen Neu-Oerlikon, beherbergt im Endausbau rund 12 000 Arbeitsplätze und bietet Wohnraum für 5000 Einwohner. Dadurch war der Bahnhof plötzlich mittendrin. Auch östlich des Bahnhofs verläuft die Entwicklung rasant. Im Gebiet Leutschenbach, wo sich das Fernsehstudio des SRF befindet, werden viele neue Wohnungen und Bürohäuser gebaut.

Rudolf Steiner vom Tiefbauamt der Stadt Zürich sagt: «Wir möchten den Bahnhof hin zu den Quartieren öffnen und im Osten ebenerdige Fusswege zu den Bahnhofsunterführungen schaffen.» Die Anbindung der Quartiere erinnert an einen Schmetterling.

Momentan ist der Bahnhof eine grosse Baustelle. Bis die Raupe sich verpuppt und der Schmetterling endlich fliegt, haben Anwohner und Benützer des Bahnhofs noch einige Unannehmlichkeiten zu erdulden. Doch lassen sich jetzt immerhin die Konturen des neuen Bahnhofs erkennen.

2007 erfolgten wichtige Weichenstellungen. Einerseits fiel der Entscheid, in Oerlikon zwei zusätzliche Gleise zu bauen. Die damit verbundenen Anpassungen der Unterführungen bewogen die SBB, gleichzeitig den Bahnhof auszubauen. Andererseits vereinbarten Stadt und Kanton Zürich sowie die SBB, ihre Projekte zu koordinieren. Der Stadtrat beauftragte daraufhin das Tiefbauamt, eine Projektorganisation einzurichten, deren Aufgabe es ist, den Informationsfluss innerhalb der städtischen Verwaltungsstellen zu gewährleisten (Gebietsmanagement). Sie dient zudem als Anlaufstelle für den Kanton, die SBB und die Quartierorganisationen. Die SBB gaben mit den zeitlichen Vorgaben der Durchmesserlinie den Takt an. Der enge Zeitplan habe einen gewissen Druck auf die städtischen Projekte und die Bewilligungsbehörden erzeugt, sagt Steiner.

Bereits im Jahr 2000 hielt der Zürcher Stadtrat im Entwicklungsrichtplan für den Bahnhof Zürich Oerlikon fest, dass für die Quartierverbindung zwischen dem Zentrum in Oerlikon und Neu-Oerlikon keine Passerelle über den Gleisen, sondern eine zusätzliche Unterführung zu planen sei. Den Wettbewerb gewannen 2004 das Atelier 10 : 8 und Leutwyler Partner Architekten. Nach dem Entscheid der SBB, den Bahnhof auszubauen, war das Projekt anzupassen. Die neue, 16 m breite Quartierverbindung ergänzt die Personenunterführung Mitte der SBB (vgl. Abb. S. 30). Die breiten Treppen auf beiden Seiten setzen zusammen mit den laternenartigen gelben Oberlichtern ein prägnantes Zeichen und weisen auf die Quartierverbindung hin. Die Oberlichter überspannen jeweils Aufzüge, Treppen und Rampen, die in die Passage führen. Die Kosten betragen 50 Mio. Fr. Die Quartierverbindung wurde 2009 mit 78 % der Stimmen von den Zürchern angenommen.

Verlängerung der SBB-Brücken

Die SBB-Brücken östlich des Bahnhofs über die Schaffhauserstrasse wurden bereits teilweise verlängert, der Neubau der Brücken für die Gleise 3 bis 6 folgt bis Ende 2015. Damit wird unter den Gleisen eine zeitgemässe Führung von Tram- und Buslinien, des Langsamverkehrs und des motorisierten Individualverkehrs möglich. Derzeit wird der Zugang zum Bahnhof von Seebach und von der Andreasstrasse aus dem Gebiet Leutschenbach erstellt. Er mündet in die Personenunterführung Ost der SBB. Die Gesamtkosten für die Quartieranbindung Ost betragen 110 Mio. Fr. Das Projekt wurde 2010 mit 71 % der Stimmen an der Urne angenommen.

Ursprünglich war in der Unterführung Schaffhauserstrasse ein grosses Umsteigezentrum des öffentlichen Verkehrs vorgesehen. «Im Lauf der Planung realisierten wir aber, dass dieses zu stark am Rand des Bahnhofs zu liegen gekommen wäre», sagt Rudolf Steiner. Zudem erwies sich der Ort für eine grosse öV-Drehscheibe als zu wenig attraktiv. Es wird deshalb weiterhin die drei Umsteigeknoten beim Bahnhofplatz Süd, beim Max-Frisch-Platz im Norden und bei der Schaffhauserstrasse im Osten geben (Plan unten).

Zwei markante Plätze

Der Oerliker Bahnhofplatz Süd wird vom Durchgangsverkehr entlastet und fussgängerfreundlich gestaltet. Er bildet künftig die Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem zentralen Marktplatz. Das denkmalgeschützte alte Bahnhofsgebäude und die ebenfalls denkmalgeschützte ehemalige Post mit dem Turm und der grossen Uhr (heute Pestalozzi-Bibliothek) bleiben erhalten. Der Kundenschalter der SBB im alten Bahnhofsgebäude und die ebenerdigen kommerziellen Nutzungen werden in die Personenunterführung Mitte verlegt.

Das Pendant zum Bahnhofplatz im Süden ist der Max-Frisch-Platz im Norden. Dieser wird ab 2015 neu gestaltet. Er umfasst die Bushaltestellen entlang dem neuen Perron von Gleis 8 und einen Aufenthaltsbereich mit Bäumen, Sitzgelegenheiten und Brunnen. Laut Steiner kann der Platz auf der Nordseite nicht abschliessend erstellt werden, weil noch nicht klar ist, was auf dem angrenzenden, lang gezogenen Grundstück, das der ABB und dem Kanton Zürich gehört, dereinst zu stehen kommt.

Die Quartierkräfte mischen sich ein

Der Wandel in Oerlikon vollzieht sich in atemberaubendem Tempo. Für die Quartiere bleibt das nicht ohne Folgen. Bereits in den 1990er-Jahren bildete sich der Verein «zürifüfzg». Engagierte Bewohner aus Zü-rich-Nord wollten den Prozess der Umnutzung des Industrieareals mitgestalten. Einer der führenden Köpfe war Martin Waser, der später in den Stadtrat gewählt wurde. Röbi Stolz erinnert sich, dass es damals gelungen sei, über die Parteigrenzen hinweg einen runden Tisch zu bilden. Auch heute ist die Meinung der Quartiervereinigungen gefragt. Laut Rudolf Steiner ist für die Stadt vor allem die WerkStadt Oerlikon eine wichtige Ansprechpartnerin. Diese umfasst den Gewerbeverein und den Quartierverein Oerlikon, aber auch einige Firmen. Neu-Oerlikon ist als Wohn- und Arbeitsquartier viel schneller gewachsen, als man in den 1990er-Jahren gedacht hatte. Hansruedi Diggelmann, Geschäftsführer der WerkStadt Oerlikon und Raumplaner, sieht einen der Gründe für die rasante Entwicklung darin, dass die Öffnung des Areals mit der Renaissance der Städte zusammenfiel. Der Wandel in Oerlikon sei grundsätzlicher Natur. Laut Diggelmann sollte man in der Planung und Quartierentwicklung deshalb etwas weiter denken; unter anderem gehe es auch darum, erkannte Defizite zu beheben. Dazu seien die Stimmen aus den Quartieren zu bündeln, wofür es ein geeignetes Gefäss brauche. Die WerkStadt Oerlikon wäre dafür prädestiniert, findet Diggelmann. Weil die meisten Personen ehrenamtlich mitarbeiteten, brauche der Verein aber mehr Unterstützung. Diggelmann verweist auf den Legislaturschwerpunkt «Stadt und Quartiere gemeinsam gestalten» der Stadtregierung. Unter diesem Titel wäre in der eben zu Ende gehenden Legislaturperiode jedoch mehr möglich gewesen, ist er überzeugt.

Für Christian Relly, Präsident des Quartiervereins, ist einer der nächsten wichtigen Punkte die Realisierung des Max-Frisch-Platzes. Dieser Ort sei für Neu-Oerlikon zentral, bei der Umsetzung dürfe es deshalb keine Abstriche geben.

Entscheidend wird sein, wie der Platz gegenüber dem Bahnhof abgeschlossen wird – doch gerade das ist derzeit die grosse Unbekannte. Gleich hinter der fraglichen Parzelle befindet sich die Ausbildungsstätte für industrielle Berufslehren Schweiz (libs). Sie ist derzeit in einem Gebäude der ABB untergebracht. Für Hansruedi Diggelmann ist die Frage, ob sie dort bleiben kann oder zumindest im Quartier einen Platz haben soll – ein gutes Beispiel dafür, worüber man im Rahmen einer ganzheitlichen Quartierentwicklung unbedingt auch nachdenken sollte. Und ganz allgemein möchte man früh informiert werden: Vom SBB-Projekt des 80 m hohen Franklin-Turms haben die Quartiervertreter erst erfahren, als es den Medien präsentiert wurde (vgl. «Kunstvoll gegliedert», S. 8).

Das alte MFO-Gebäude als Symbol

Die erfolgreiche Verschiebung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der MFO im Mai 2012 ist für viele in Oerlikon zu einem Symbol geworden.[2] Nicht nur, weil das alte und für den ehemaligen Industriestandort wichtige Gebäude erhalten werden konnte, sondern weil es aufzeigt, was möglich ist, wenn man sich gemeinsam für etwas einsetzt. Dieser Kraftakt gelang nur, weil sich die Quartierbewohner energisch für das Gebäude stark machten. Irgendwann sprang der Funken auf die Politiker über, und auch die beteiligten Firmen realisierten, dass sie einlenken mussten. Über die gelungene Aktion freut sich vor allem auch Röbi Stolz, der mit dem Gebäude auch ein Stück seiner Jugend verbindet: Als Vertreter der BBC-Lehrlinge musste er nämlich hin und wieder beim obersten Lehrlingschef der BBC antraben. Und dieser hatte sein Büro im alten MFO-Verwaltungsgebäude. Heute kann man in diesem altehrwürdigen Gebäude im Restaurant «Gleis 9» an der Bar ein Bier trinken.


Anmerkung:
[01] Franz Hohler: Gleis 4. München 2013, S. 6
[02] Das 80 m lange, 12 m breite und 6200 t schwere MFO-Gebäude von 1889 wurde in Mai 2012 um 60 m nach Westen verschoben. Ein Bautagebuch und weitere Informationen unter: www.espazium.ch/tec21/article/gebaeudeverschiebung-auf-500-stahlrollen. Zudem erscheint im März 2014 das Buch «Ein Haus geht auf Reisen», Herausgeber ist der Verein Oerlikoner Industriegeschichte(n), 34.90 Fr., ISBN 978-3-280-05548-9

14. März 2014 TEC21

Fichten in Bedrängnis

Wie stark wird sich die Klimaveränderung auf den Wald auswirken? Trockenheit und Käfer setzen den Bäumen zu. Alarmismus wie beim Waldsterben scheint nicht angebracht – dennoch bangt die Schweizer Holzwirtschaft um ihren «Brotbaum».

Dem Wald geht es ja ganz gut – diesen Eindruck erhält, wer gelegentlich einen Waldspaziergang unternimmt. Doch seit einigen Jahren mehren sich die Zeichen, dass sich im Ökosystem Wald einiges verändert. Ueli Meier, der Kantonsförster beider Basel und Präsident der Kantonsoberförsterkonferenz, denkt dabei unter anderem an die mehrwöchige Trockenheit im Frühling 2011. In seinem ganzen Berufsleben habe er so etwas noch nie erlebt. In den letzten sechs Jahren habe man ausser 2013 infolge des aussergewöhnlichen Waldbrandrisikos immer wieder über ein Feuerverbot im Freien diskutiert, und zum Teil sei ein solches auch erlassen worden. Und das jüngste Beispiel: ein Borkenkäferbefall an Fichten Anfang dieses Jahres. Seit dem Sturm «Lothar» 1999 bereite der Borkenkäfer Probleme, sagt Meier. Dass er aber bereits im Januar zuschlage, sei neu.

Wechsel der Baumarten

Derzeit ist nicht absehbar, wie dramatisch sich der Klimawandel auf die Stabilität, Vitalität und Zusammensetzung der Waldbestände auswirken wird. Doch man muss sich damit auseinandersetzen, denn Bäume wachsen langsam und werden alt. Die heutigen Keimlinge oder jungen Bäumchen müssen dem Klima auch in hundert Jahren standhalten. Für die Schweiz könnte sich bis 2100 eine mittlere Erhöhung der durchschnittlichen Jahrestemperaturen von 2 bis 5 °C gegenüber heute ergeben.[1] Bei den Niederschlägen sind die Veränderungen noch relativ unsicher; gegen Ende des 21. Jahrhunderts könnte es aber vor allem im Sommer trockener werden. Für den Wald bliebe dies nicht ohne Folgen, denn in den gemässigten Zonen ist der Wald im Sommerhalbjahr auf eine ausreichende Wasserversorgung angewiesen.

In Lugano ist die durchschnittliche Jahrestemperatur 3 °C und in Genua 6 °C höher als in Zürich. Während auf der Alpennordseite Buchen und Fichten heimisch sind, wachsen am Mittelmeer immergrüne Steineichen und am Luganersee Edelkastanien und Palmen. Letztere breiten sich im Tessin immer mehr in den siedlungsnahen Wäldern aus; ebenso der hartnäckige Götterbaum, eine invasive gebietsfremde Art, die von der Abnahme der Winterfröste profitiert.

Langfristig wird sich die Baumartenzusammensetzung verändern. In einem etwas mediterraneren Klima auf der Alpennordseite zieht sich die an ein eher kühles und feuchtes Klima angepasste Fichte tendenziell in die Berge zurück. Die Buche dürfte ebenfalls in etwas höhere Lagen wandern, während sich Stiel- und Traubeneiche in den tieferen Lagen vermehrt durchsetzen könnten. Die Ergebnisse des Landesforstinventars, das die Bäume im Schweizer Wald periodisch erfasst, zeigen diese Entwicklungen bereits deutlich auf.

Wie gross ist die Anpassungsfähigkeit?

Die Frage ist nicht, ob in einem wärmeren Klima Wald gedeihen kann, sondern wie abrupt sich der Wandel vollzieht. Bei diesem Prozess dürften vor allem auch Extremereignisse wie Dürreperioden, Stürme, Kalamitäten durch Schadorganismen und möglicherweise auch Waldbrände den Takt angeben. Der Klimawandel beschäftige auch die Waldeigentümer, bestätigt Markus Brunner, der Direktor von Waldwirtschaft Schweiz, dem Dachverband der Waldbesitzer.

Die konkreten Auswirkungen seien aber noch unsicher, entscheidend sei etwa, wie stark sich die einzelnen Baumarten anpassen könnten. Die Frage der Anpassungsfähigkeit interessiert auch Ueli Meier. So sei denkbar, dass einzelne Individuen einer Baumart mit den veränderten Klimabedingungen besser umgehen können als andere. Um eine Anpassung zu ermöglichen, sei deshalb darauf zu achten, dass die genetische Vielfalt der Baumpopulationen möglichst gross sei, sagt Meier.

Hohe Erwartungen setzt die Forstpraxis in das mehrjährige Forschungsprogramm «Wald und Klimawandel» des Bundesamts für Umwelt (Bafu) und der Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).[2] Das Programm startete 2009 und dauert noch bis 2015. Im Zentrum stehen die Fragen, wie sich der Klimawandel auf Waldprodukte und Waldleistungen auswirken wird und mit welchen Anpassungsmassnahmen sich diese Leistungen sichern lassen.

Auf der politischen Agenda

Auf politischer Ebene sollen in den nächsten Monaten bereits erste Weichen gestellt werden. Im Rahmen der Waldpolitik 2020[3] legte der Bundesrat im August 2011 die waldpolitischen Ziele fest. Zu den fünf Schwerpunkten gehört auch die Herausforderung des Klimawandels.

Der Sektor der Waldwirtschaft ist zudem im ersten Teil der Strategie des Bundesrats zur Anpassung an den Klimawandel berücksichtigt. Dabei wurden folgende Handlungsfelder definiert:

- kritische Schutzwälder: Dazu zählen Wälder mit verminderter Stabilität und einer ungenügenden Anzahl junger Bäume, die an die Stelle absterbender alter Bäume treten können (gemäss Landesforstinventar rund 68 000 ha Wald)

- Baumbestände mit hohen Nadelholzanteilen in tieferen Lagen: Solche Bestände sind empfindlich gegenüber Windwurf, Trockenheit und Borkenkäferbefall und sollten in Mischwälder überführt werden (gemäss Landesforstinventar rund 50 000 ha Wald)

- klimasensitive Waldstandorte: Dies betrifft zu Trockenheit neigende Standorte oder Standorte mit hohen Anteilen an dürrem Holz in Risikogebieten für Waldbrände (gemäss Schätzungen sind 50 000 ha Wald davon betroffen)

Um die waldpolitischen Ziele umzusetzen, schlägt der Bundesrat vor, das Waldgesetz zu ergänzen. So sollen die Massnahmen im Wald zur Anpassung an den Klimawandel vom Bund auch finanziell unterstützt werden können. Laut Rolf Manser, Chef der Abteilung Wald beim Bafu, kommt die überarbeitete Gesetzesvorlage voraussichtlich noch dieses Jahr ins Parlament. Der Vorschlag sei grundsätzlich positiv aufgenommen worden. Mit den Kantonen hätten jedoch einige Differenzen ausgeräumt werden müssen, sagt Manser. Diese befürchten, dass vor allem im Bereich der Jungwaldpflege künftig deutlich höhere Kosten auf sie zukommen. Aktuell betragen die jährlichen Bundesbeiträge für die Jungwaldpflege rund 11 Mio. Fr. und für die Schutzwaldpflege rund 60 Mio. Fr., während die Kantone Beiträge in derselben Grössenordnung beisteuern.

Den Spielraum für Nadelholz nutzen

Für kontroverse Diskussionen sorgt die in der Anpassungsstrategie des Bundes angestrebte Überführung nadelholzreicher Wälder in Mischwälder im Mittelland. Der Fichtenanteil ist dort deutlich höher, als er von Natur aus wäre. Nun schlägt das Pendel zurück, der Anteil der Fichte in den Wäldern des Schweizer Mittellandes nimmt seit Jahren ab. Mit rund einem Drittel am Holzvorrat ist die Fichte derzeit aber immer noch die häufigste Baumart im Mittelland, gefolgt von der Buche mit 25 %.[4] Die Fichte war lange der «Brotbaum» der Forstwirtschaft und ist immer noch das am meisten nachgefragte Bauholz. Angesichts dieser Entwicklungen macht sich die Holzwirtschaft zunehmend Sorgen, wie sie künftig ihren Holzbedarf decken kann.

Markus Brunner zeigt dafür Verständnis. Auch sei zu berücksichtigen, dass das Nadelholz für die Forstbetriebe wesentlich ertragreicher sei als das Laubholz. Ausgehend von einer gesamtheitlichen Ressourcensicht fordert er deshalb dreierlei: Im Mittelland sei an geeigneten Waldstandorten und in jeweils angepassten Baumartenmischungen auch weiterhin der Spielraum zugunsten des Nadelholzanbaus zu nutzen. In den Voralpen und Alpen, wo Nadelholz natürlicherweise dominiert, sich heute viele vorratsreiche, überalterte Bestände befinden und wo die Fichte auch in einem wärmeren Klima gute Wuchsbedingungen vorfindet, müsse die Erschliessung für die Holznutzung verbessert werden. Und die Option eines vermehrten Anbaus von langjährig erprobten Gastbaumarten wie der Douglasie sei ins Auge fassen, so Brunner.

Die Förster orientieren sich beim Entscheid der Baumartenwahl unter anderem an den sogenannten Waldstandortskarten. Für die einzelnen Standorte, die sich bezüglich der Wasser- und Nährstoffversorgung unterscheiden, gibt es Empfehlungen für geeignete Baumarten sowie maximale Nadelholzanteile. Diese Empfehlungen sollen nun gestützt auf aktuelle Forschungsergebnisse von den Kantonen angepasst werden. Für die Fichte wäre auch eine Verkürzung der Produktionszeit von heute über 100 Jahren auf vielleicht 80 Jahre denkbar. Dadurch würde sich das Risiko von Sturm- und Folgeschäden verringern.

Gesucht: neue Laubholzanwendungen

Dennoch wird im künftigen Schweizer Wald in tieferen Lagen deutlich mehr Laubholz wachsen als heute. Gefragt sind deshalb neue Laubholzanwendungen. Der Aktionsplan Holz des Bundes setzt hier denn auch einen Schwerpunkt (vgl. TEC21-Dossier 11/2011, «Wettbewerb Laubholz»). Der Holzbau erlebt aktuell einen Boom, doch Laubholz spielt bisher kaum eine Rolle. Bauten, bei denen Laubholz verwendet wurde, liessen sich an einer Hand abzählen, sagt Christoph Starck, der Direktor von Lignum. Angesichts der langfristigen Entwicklung des Holzangebots im Schweizer Wald bereitet ihm der Umstand einige Sorgen, dass die Holzwirtschaft heute nahezu gänzlich auf die Verarbeitung von Nadelholz ausgerichtet ist.

Doch gerade beim Buchenholz gibt es auch ermutigende Entwicklungen. In der Nordwestschweiz ist die Idee für ein Verarbeitungszentrum für Buchenholz weit gediehen. Das Projekt sieht vor, in Kombination mit einem bestehenden Sägewerk im Kanton Jura ein neues Leimholzwerk zu erstellen. Gemäss einer Projektstudie des Waldwirtschaftsverbands beider Basel sollen als Hauptprodukte grossflächige Konstruktionsplatten und Brettsperrholzplatten sowie Träger und Balken aus Brettschichtholz in Buchenholz hergestellt werden.

Für Aufsehen sorgte in den letzten Monaten ein aus Buchen hergestelltes Furnierschichtholz der deutschen Firma Pollmeier. Eben ist in Thüringen eine neue Produktionsanlage erstellt worden. Weil aus Buchenholz gefertigte Bauteile über bessere Festigkeitseigenschaften als Nadelholz verfügen, könnten solche Neuentwicklungen laut Starck vor allem im mehrgeschossigen Holzbau zum Einsatz kommen. Vielleicht gelingt dem Laubholz der Durchbruch beim Konstruktionsholz schneller, als wir denken.


Anmerkungen:
[01] Szenarien zur Klimaänderung in der Schweiz 2011; www.ch2011.ch
[02] www.wsl.ch > Die WSL > Organisation > Forschungsprogramme > Wald und Klimawandel
[03] www.bafu.admin.ch > Themen > Wald > Politik des Bundes > Waldpolitik 2020
[04] Schweizerisches Landesforstinventar, Ergebnisse der dritten Erhebung 2004–2006; www.lfi.ch

27. Dezember 2013 TEC21

Der Berner Weg zur überkommunalen Planung

Regionales Denken ist in der Raumplanung ein Gebot der Stunde. Der Kanton Bern geht voran: Er hat Regionalkonferenzen ins Leben gerufen und flächendeckend regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte erarbeitet.
So konsequent institutionalisiert kein anderer Kanton die überkommunale Zusammenarbeit. Die Anstrengung trägt erste Früchte.

Regionales Denken ist in der Raumplanung ein Gebot der Stunde. Der Kanton Bern geht voran: Er hat Regionalkonferenzen ins Leben gerufen und flächendeckend regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte erarbeitet. So konsequent institutionalisiert kein anderer Kanton die überkommunale Zusammenarbeit. Die Anstrengung trägt erste Früchte.

Der Kanton Bern ist in puncto Bevölkerung und Fläche der zweitgrösste Kanton der Schweiz. Er erstreckt sich vom Jura über das Mittelland bis zu Eiger, Mönch und Jungfrau. Der heterogene Kanton umfasst neben der Hauptstadt, einigen mittelgrossen Städten und bekannten Tourismusorten auch ländliche Gebiete wie das Emmental oder das Diemtigtal im Berner Oberland. Wie überall in der Schweiz haben die Gemeinden einen grossen Stellenwert. Das erschwert überkommunales Denken. Gelegentlich finden aber Reformen statt, die ausserhalb der betroffenen Region kaum wahrgenommen werden. Im Kanton Bern, der den Ruf eines traditionellen und wenig beweglichen eidgenössischen Standes hat, ist man derzeit daran, einen für Schweizer Verhältnisse bemerkenswert grossen Schritt vorwärts zu machen. Eine noch radikalere Gebietsreform haben in letzter Zeit nur die Glarner mit der Reduktion auf drei Gemeinden vollzogen.

Regionalkonferenzen stärken die Regionen

Das Kernstück der Berner Reform ist die Einführung von Regionalkonferenzen. Der Kanton ist in sechs Regionen eingeteilt worden (vgl. Abb. 02). In drei Regionen hat die Bevölkerung inzwischen dem Konzept zugestimmt. Den Anfang machte 2008 die Region Oberland Ost; es war die erste Regionalkonferenz der Schweiz. 2009 folgte Bern-Mittelland, 2012 das Emmental. In den Regionen Thun Oberland West und im Oberaargau hingegen scheiterten die Vorlagen. Eine Mehrheit der Stimmenden war zwar für das Regionalkonferenz-Modell, eine Mehrheit der Gemeinden lehnte es aber ab. Im Berner Jura fand noch keine Abstimmung statt, weil zuerst die Frage der Kantonszugehörigkeit zu klären war.

Eine der Aufgaben der Regionalkonferenz ist die Abstimmung der Verkehrs- und Siedlungsplanung. Sie ist zudem für die regionale Richtplanung, Kulturförderung und Energieberatung zuständig. Die Gemeinden können weitere Aufgaben aus den Bereichen Wirtschaft oder Sozialpolitik an die Regionalkonferenz übertragen. Oberstes Gremium der Regionalkonferenz ist die Regionalversammlung, die aus allen Gemeindepräsidenten besteht. Die Regionalkonferenz kann Mehrheitsentscheidungen fällen. Jede Gemeinde hat ein Stimmengewicht, das ihrer Bevölkerungszahl entspricht.

Verkehr und Siedlung aufeinander abstimmen

Das Instrument für die Abstimmung von Verkehr und Siedlung sind die Regionalen Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte (RGSK). Seit 2012 liegen diese für den ganzen Kanton vor.[1] Sie sind für die Behörden verbindlich. «In den Regionen, die bereits Regionalkonferenzen haben, waren diese für die Erarbeitung der RGSK zuständig», sagt Matthias Fischer, Projektleiter bei der Abteilung Kantonsplanung im Amt für Gemeinden und Raumordnung des Kantons Bern. In den anderen Fällen hat der Kanton zusammen mit den Planungs- regionen diese Aufgabe übernommen. Die Schaffung der Regionalkonferenzen sei als Prozess zu sehen. Damit sie funktionierten, sei ein aktives Mitwirken der lokalen Behörden und der Gemeinden zentral, erklärt Fischer. Wenn die Regionalkonferenzen Erfolg haben, ziehen die Regionen, die eine solche im ersten Ablauf ablehnten, vielleicht dereinst nach. Unbestritten ist, dass eine regionale Zusammenarbeit in irgendeiner Form stattfinden muss. Die Verkehrskonferenzen, die bisher für die Planung des öffentlichen Verkehrs zuständig waren, hatten bereits den Perimeter der aktuellen Regionen. Neu behandeln die Regionalkonferenzen aber auch den motorisierten Individualverkehr und den Langsamverkehr.

In der Siedlungsplanung stehen die neuen RGSK zwischen dem kantonalen Richtplan und den kommunalen Richtplänen beziehungsweise den kommunalen Nutzungs- und Zonenplänen. Sie konkretisieren den relativ groben kantonalen Richtplan. Die eigentümerverbindliche Nutzungsplanung liegt aber weiterhin in der Kompetenz der Gemeinden. So kam es in letzter Zeit wiederholt vor, dass aus planerischer Sicht sinnvolle Einzonungen an gut erschlossener Lage in Agglomerationsgemeinden an der Urne oder an Gemeindeversammlungen scheiterten. Im Prinzip könnte die Regionalkonferenz eine Gemeinde mit dem Erlass einer regionalen Überbauungsordnung überstimmen. In der Praxis sei das bisher aber noch nie vorgekommen, sagt Fischer. Bei grösseren Siedlungserweiterungen sei jedoch gemäss dem revidierten Raumplanungsgesetz eine regionale Abstimmung nötig.

Die sechs Berner Agglomerationsprogramme sind Bestandteile der jeweiligen RGSK. Gegenüber dem Bund ist zwar der Kanton der Ansprechpartner für die Agglomerationsprogramme, deren Erarbeitung hat er aber an die Regionen delegiert. Der Perimeter der Agglomerationen umfasst nur einen Teil der Regionen. Den Kreis grösser zu ziehen ist sinnvoll, weil die Agglomerationen in vielfältiger Weise mit den umliegenden ländlichen Gebieten verbunden sind. (Zu den Agglomerationsprogrammen vgl. TEC21 21/2011, S. 21–26.)

Regionalkonferenz Bern-Mittelland als Beispiel

Die Regionalkonferenz Bern-Mittelland besteht seit 2010. Sie umfasst Bern als Zentrum (ca. 122 700 Einwohner), die Kerngemeinden (ca. 80 000 Einwohner), die Agglomerationsgemeinden (ca. 130 000 Einwohner) sowie die ländlichen Gemeinden (ca. 50 000 Einwohner). Mit mehr als 380 000 Personen entspricht die Bevölkerung der Region Bern-Mittelland derjenigen des Kantons Luzern. Sie ist nicht mit der Hauptstadtregion im bundesrätlichen Raumkonzept Schweiz zu verwechseln, die über den Kanton hinausreicht.[2]

Die Zusammenarbeit zwischen den Agglomerationsgemeinden und den ländlichen Gemeinden funktioniere in der Regel gut, sagt Jos Aeschbacher, Leiter des Bereichs Raumplanung bei der Regionalkonferenz Bern-Mittelland. Die einzelnen Gemeinden seien zwar mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert, doch wachse das gegenseitige Verständnis. Im schweizerischen Vergleich ist die Agglomeration Bern in den letzten Jahren nur wenig gewachsen. Diesen Rückstand will man aufholen. Die Regionalkonferenz Bern lancierte im August deshalb die Informationskampagne «Boden gutmachen». Damit will man eine Diskussion über Wachstum, Bautätigkeit und regionale Entwicklung auslösen. Um ein moderates Wachstum zu ermöglichen, seien Verdichtungen bestehender Siedlungsgebiete und Einzonungen an gut erschlossenen Lagen notwendig, heisst es auf der Webseite der Regionalkonferenz.[3] Das Wachstum soll aber auf eine Weise erfolgen, die haushälterisch mit dem Boden umgeht, Zersiedlung und Pendlerverkehr eindämmt und die Qualitäten der Region bewahrt. Bei den aus planerischer Sicht sinnvollen Einzonungen in den Agglomerationsgemeinden braucht es laut Aeschbacher aber noch Überzeugungsarbeit.

Die Themen werden oft projektbezogen angegangen. Dabei bringen Fachleute und Behördenvertreter ihr Wissen ein. Moderierte Workshops sind eine gute Möglichkeit, Anliegen aus den Gemeinden aufzunehmen und zu bündeln. Ein konkretes Beispiel ist das Regionale Hochhauskonzept, das die Spielregeln für Hochhausprojekte verbindlich festlegt. Im Gebiet von Bern, Köniz, Ittigen, Ostermundigen und Wohlen sind unter anderem Gebiete festgelegt worden, die sich für Hochhäuser eignen.[4] Ein anderes Anliegen sind durchgehende Velorouten. 2012 verabschiedete die Regionalkonferenz ein Leitbild für den Langsamverkehr.

In einem nächsten Schritt wird nun die Netzplanung für den Veloverkehr an die Hand genommen.[5]

Ein «Grünes Band» um die Kernagglomeration

Wer vom Berner Hausberg Gurten über die Stadt und das umliegende Land blickt, dem fällt auf, wie stark durchgrünt die Agglomeration ist (Abb. 01). Siedlungen sind mit Kultur- und Naturlandschaften eng verzahnt. Die Regionalkonferenz Bern-Mittelland hat im Rahmen des RGSK einen Leitplan erarbeitet (Abb. 03).5 Als Zukunftsbild der Region nimmt der Leitplan eine Schlüsselstellung bei der Diskussion über die künftige Entwicklung ein. Eine besondere Bedeutung kommt dabei dem «Grünen Band» zu, das sich um die Kernagglomeration Bern zieht. Es bezeichnet einen stadtnahen Erholungsraum, der aus landwirtschaftlich genutzten und naturnahen Flächen besteht. Es ist Zäsur, gleichzeitig aber auch Bindeglied zwischen der inneren städtischen und der äusseren ländlichen Landschaft. Die Gemeinde Köniz war Vorreiterin bei der Beachtung dieses Landschaftselements, indem sie das Siedlungsgebiet vorbildlich von der offenen Landschaft abgrenzte. Im «Grünen Band» gilt kein generelles Bauverbot, bei Bauvorhaben ist aber in jedem Fall ein besonderes Augenmerk auf den speziellen Charakter und die vielfältigen Funktionen dieses Grünsystems zu legen, insbesondere auf die Vernetzung zwischen innerer und äusserer Landschaft. Im Rahmen eines Landschaftsprojekts werden derzeit die im RGSK aufgeführten Ziele konkretisiert, dabei wird das bisher noch recht allgemeine Konzept des «Grünen Bands» vertieft und auf weitere Gemeinden übertragen.

Erste Früchte

Aus den sechs RGSK haben die zuständigen Stellen des Kantons eine Synthese erstellt.

In diesem durch den Regierungsrat genehmigten Bericht werden die in den Regionen vorgeschlagenen Massnahmen beurteilt und priorisiert. Diese Vorselektion wurde auch im Hinblick auf die Agglomerationsprogramme der zweiten Generation vorgenommen, die beim Bund Mitte 2012 zur Prüfung einzureichen waren. Die ersten Signale des Bundes sind positiv: Er hat in Aussicht gestellt, rund 50 wichtige Verkehrsprojekte in den Agglomerationen Bern, Biel, Burgdorf, Langenthal und Thun mitzufinanzieren. Dazu zählen unter anderem der Ausbau des Bahnhofs Bern sowie verschiedene Projekte der Tram Region Bern. Über die Verwendung der Mittel aus dem Infrastrukturfonds wird das Eidgenössische Parlament bis Anfang 2015 definitiv entscheiden. Für Matthias Fischer fördern die RGSK das überkommunale Denken – eine Voraussetzung, um regional planen zu können. Damit könnte es gelingen, die Entwicklung an Orte zu lenken, wo sie sinnvoll und erwünscht ist. Lukas Bühlmann, der Direktor der Schweizerischen Vereinigung für Landesplanung (vgl. Interview S. 16), erachtet die Schaffung der Berner Regionalkonferenzen als bemerkenswerte Entwicklung in der helvetischen Planungslandschaft. Der Kanton habe mit dem Instrument der RGSK die Abstimmung von Siedlung und Verkehr in erstaunlich kurzer Zeit auf den Weg gebracht, findet er. Das revidierte Raumplanungsgesetz fordere, dass die Erweiterung der Siedlungsfläche regional abgestimmt werde. Mit den neu geschaffenen Strukturen sei der Kanton Bern sehr gut auf diese Aufgabe vorbereitet.

Überwindung der institutionellen Zersplitterung

Georg Tobler, ehemaliger Leiter der Agglomerationspolitik beim Bundesamt für Raumentwicklung und heute selbstständiger Raumplaner und Geschäftsführer der Hauptstadtregion Schweiz, beurteilt die Berner Regionalkonferenzen ebenfalls positiv. Mit ihnen könne die institutionelle Zersplitterung endlich überwunden werden, denn die freiwillige Zusammenarbeit der Gemeinden stosse an Grenzen. In dieser Hinsicht habe man einen grossen Schritt nach vorn gemacht. Die Organisation der Regionalkonferenzen sei zudem relativ schlank und dank Mehrheitsentscheiden auch effizient. Die Agglomerationsprogramme seien nun in die RGSK und damit in ein verbindliches Planungsinstrument eingebettet, während bei Agglomerationsprogrammen in anderen Kantonen die institutionelle Grundlage oft noch wenig gefestigt sei. In Bern sind allerdings die Voraussetzungen dafür günstig, weil die Agglomerationen nur vereinzelt über die Kantonsgrenze hinausreichen. Auch in anderen Kantonen gibt es Bestrebungen, die regionale Zusammenarbeit zu stärken. Laut Bühlmann wurde dies bisher aber nirgends so konsequent umgesetzt wie im Kanton Bern.


Anmerkungen:
[01] www.jgk.be.ch → Raumplanung → Regionale Raumplanung → Regionale Gesamtverkehrs- und Siedlungskonzepte
[02] Die Hauptstadtregion hat ihren Ursprung im Raumkonzept Schweiz. Sie zählt neben den drei Metropolitanräumen zu den vier grossstädtisch geprägten Handlungsräumen.
[03] www.bernmittelland.ch → Raumplanung → «Boden gutmachen»
[04] www.bernmittelland.ch → Raumplanung → Projekte → Siedlung → Regionales Hochhauskonzept
[05] Von den rund 200 identifizierten Schwachstellen in der Region sind 60 prioritäre Massnahmen abgeleitet worden. Über einen regionalen Velo-Richtplan sollen diese in die zweite Generation des RGSK einfliessen. www.bernmittelland.ch → Verkehr → Projekte → Ein Velonetzplan für die ganze Region

13. Dezember 2013 TEC21

Ein Tal – zwei Gemeinden – zehn Fraktionen

Für Städter wirkt das Avers wie eine andere Welt. Die Stille und Schönheit der Berge beeindrucken. Die Bevölkerung verdient ihr Brot noch zu einem guten Teil in der Landwirtschaft. Wie ein Besuch vor Ort zeigt, glaubt man im Hochtal an eine Zukunft mit der Berglandwirtschaft. Im tiefer gelegenen Ferrera hingegen lebt nur noch ein einziger Bauer. Hier profitiert die Gemeinde von den Einnahmen aus der Wasserkraft und investierte kürzlich in die Modernisierung der Dorfsägerei.

Kurz nach Andeer GR, bei der Ausfahrt Ferrera/Avers, beschreibt die A13 eine scharfe Kurve Richtung Rheinwald und San Bernardino. Reisende in den Süden lassen das Ferreratal und das Avers in aller Regel links liegen. Wir verlassen jedoch die Nationalstrasse in der Roflaschlucht (vgl. Karte rechts) und fahren südwärts das 23 km lange Tal hoch. Die ersten Siedlungen sind die Dörfer Ausser- und Innerferrera, die 2008 zu einer politischen Gemeinde fusionierten. Der Name weist auf die Bergbauvergangenheit im Ferreratal hin.

In der Blütezeit um 1817 beschäftigten die Gebrüder Venini & Co. 200 Mann im Eisenerzbergbau und in den Verhüttungsanlagen im Tal . Diese erfolgreiche Periode dauerte allerdings nicht lange, denn schon bald waren die Wälder vollständig abgeholzt. Wer den üppigen Wald im Ferreratal heute sieht, kann kaum glauben, dass die Hänge vor nicht einmal 200 Jahren kahl geschlagen waren.

Nach Innerferrera verengt sich das Tal. An der Grenze zu Italien führt die Strasse über eine Betonbrücke, die durch zwei Tunnels eingerahmt wird. Die spektakuläre Lage und die Eleganz der Brücke eröffnen sich einem nur, wenn man zu Fuss auf der alten Averserstrasse wandert. Die alte Brücke über den Reno di Lei liegt direkt unter der modernen Betonbrücke (Abb. 03, S. 23). Auf der alten Talstrasse verkehrten bis 1960 noch Postautos. Beim Bau der neuen Strasse wurde sie mit Schutt überdeckt, und erst seit 2007 ist sie zu Fuss wieder begehbar (vgl. «Die alte Averserstrasse», S. 26). Anschliessend öffnet sich das Tal wieder, und das Avers beginnt. Noch vor Campsut, der ersten Fraktion der Gemeinde Avers, zweigt die Strasse ins Valle di Lei ab. Hinter der Bergkette verbirgt sich mit einem Speichervolumen von knapp 200 Millionen Kubikmetern Wasser der fünftgrösste Stausee der Schweiz. Ganz korrekt ist das zwar nicht, denn der Lago di Lei liegt fast komplett auf italienischem Staatsgebiet. Nur die Staumauer steht – dank einem staatlichen Landabtausch – auf Schweizer Gebiet. Die Stromproduktion erfolgt auf Schweizer Boden.

Das Avers ist eine typische Walsersiedlung, die aus acht Fraktionen und einzelnen Höfen besteht. Der bekannteste Ort ist Juf, die am höchsten gelegene ganzjährig bewohnte Siedlung der Alpen. Die zentrale Siedlung mit Kirche, Schule und Gemeindehaus ist Cresta.

Lange Winter – kurze, arbeitsreiche Sommer

In Cröt biegen wir von der Kantonsstrasse ab und fahren ins Madristal. Am Ende der öffentlichen Strasse wohnt Kurt Patzen, der Gemeindepräsident von Avers. Mit seiner Familie bewirtschaftet er einen Bauernhof mit 45 Hektaren landwirtschaftlicher Nutzfläche. Das Madristal war in den späten 1980er-Jahren einer der Schauplätze der Kämpfe zwischen Gegnern und Befürwortern eines weiteren Ausbaus der Wasserkraft. Geplant war ein Pumpspeicherkraftwerk. «Wir verhielten uns damals passiv», sagt Kurt Patzen. «Aber natürlich sind wir froh, dass das Projekt nicht realisiert wurde.» Passiv sei man gewesen, weil das Tal der Wasserkraft viel verdanke. Mit dem Kraftwerksbau ab 1957 sei die Infrastruktur im Tal stark verbessert worden; die zuvor ausgeprägte Abwanderung habe gestoppt werden können. Wäre das Kraftwerk nicht gebaut worden, wäre das Avers heute wohl nicht mehr besiedelt, vermutet Patzen. Aktuell zählt die Gemeinde Avers 174 Einwohner. Die Bevölkerung ist stabil. Schulpflichtige Kinder hat es aber nur wenige – aktuell besuchen acht Kinder die Schule in Cresta. An der eigenen Primarschule will man so lange wie möglich festhalten.

«Die Walser sind ein spezielles Volk», erzählt Patzen. Doch man werde nicht als Walser geboren. Das raue Klima sei es, das die Menschen hier oben zu Walsern forme. Die Winter sind lang und schneereich, die Sommer kurz und arbeitsintensiv. Böse Zungen behaupten, im Avers herrschten neun Monate Winter – und die restlichen drei Monate sei es kalt. Die erste urkundliche Erwähnung der Walser geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Das Hochtal hatte stets enge Verbindungen nach Süden, in erster Linie zu Bivio, Soglio und Chiavenna. Die erste Strasse vom nördlich gelegenen Schams ins Avers baute der Kanton erst Ende des 19. Jahrhunderts, und die Averser mussten dafür kämpfen, dass die Strasse bis nach Cresta gebaut wurde. Das Avers bildete schon früh eine eigene Gerichtsgemeinde und ist heute noch ein eigener politischer Kreis. «Das bringt Vorteile, denn so haben wir mindestens einen Vertreter im Grossen Rat», sagt Patzen. Dieser könne im Kantonsparlament die Sichtweise und spezifischen Probleme der Region einbringen. Als Beispiel nennt er die Abwasserbehandlung. Der Kanton fordert für Bauzonen eine aerobe biologische Abwasserreinigung. Aufgrund der weitläufigen Siedlungsstruktur mit den verstreuten Fraktionen ist diese Vorgabe für die Gemeinde eine kostspielige Angelegenheit (vgl. Kasten).

Zur Walser Eigenart gehört wohl auch, dass das Avers dem Naturpark Beverin, der 2012 die Anerkennung als regionaler Naturpark von nationaler Bedeutung erhalten hat, nicht angehört. Die Einheimischen sind skeptisch und befürchten, dass die Parkregeln später durch den Bund verschärft werden könnten.

Am Rand des Randes

Beim Thema Randregion bleibt der Gemeindepräsident gelassen. Das Avers sei eine Randgemeinde in einem Randgebiet in einem Randkanton. «Der Druck kommt in erster Linie von der Politik und den sogenannten Denkfabriken», sagt Kurt Patzen. Die Schweizer Bevölkerung habe jedoch Verständnis für die Anliegen der Berggebiete und lasse diese nicht einfach fallen. Als Beispiel nennt er Seuzach. Die Gemeinde im Kanton Zürich ist seit zwei Jahren eine Patengemeinde von Avers. Die Partnerschaft zwischen den beiden Gemeinden sei auf Initiative von Seuzach entstanden und habe sich dank gegenseitiger Besuche sehr erfreulich entwickelt.

Im Avers wirtschaften aktuell 16 Bauernfamilien. Ohne massive staatliche Unterstützung in Form von Direktzahlungen könnte die Landwirtschaft nicht überleben. Überspitzt formuliert: Die Bergbauern pflegen den Erholungsraum der Städter. Im Avers glaubt man an eine Zukunft mit der Berglandwirtschaft, sonst hätte man vor fünf Jahren nicht eine Gesamtmelioration eingeleitet. Die Bewirtschaftung der Wiesen und Weiden wird durch kleine Parzellen behindert. Eine Güterzusammenlegung soll die gegenwärtige Zahl von rund 1500 Parzellen deutlich reduzieren; gleichzeitig werden Güterwege und Zufahrten zu den Höfen verbessert oder neu gebaut. Das Projekt wird voraussichtlich 25 Jahre dauern und kostet insgesamt 21 Millionen Franken. 83 % der Kosten tragen Bund und Kanton. An die restlichen Kosten leistet die Gemeinde einen Beitrag von 30 %, für den Rest kommen die Grundeigentümer auf.

Neue Güterstrassen

Derzeit wird im Avers an vielen Güterstrassen gebaut. Für eine zeitgemässe Bewirtschaftung ist die Verbesserung des Wegenetzes zweifellos wichtig. Als Besucher kann man sich des ersten Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass hier etwas mit der grossen Kelle angerichtet wird. Der Landschaftsschutz drohte vor drei Jahren denn auch mit Einsprachen. Im Gespräch habe man sich aber einigen können, sagt Wieland Grass, der Präsident der Meliorationskommission. «Auf Wunsch der Landschaftsschützer haben wir die Linienführung einer neuen Strasse angepasst, und wir konnten überzeugend darlegen, dass diese Güterstrassen einfach nötig sind, wenn das Avers weiterhin bewirtschaftet werden soll.» Dass die artenreichen Wiesen auch künftig gemäht würden, sei gerade auch ein Anliegen des Naturschutzes, erklärt Grass.

Moderne Hilfsmittel halten auch im Avers Einzug. So lösen beim Heuen immer mehr Heubläser die Rechen ab. Ähnlich den Laubbläsern lässt sich mit ihnen die Arbeit leichter bewältigen; angeblich ersetzt ein Heubläser drei gute Recher. Doch ihr Einsatz verursacht Lärm – das führt zu Konflikten mit dem Tourismus, dem anderen wichtigen Erwerbszweig im Avers. Dessen wichtigstes Kapital ist neben der Landschaft und der Natur nämlich die Ruhe. Ihretwegen schätzen die Gäste das abgelegene Hochtal. Auf den ersten Blick wirkt das Avers noch recht ursprünglich. Das Tal ist aber stark durch den Menschen geprägt worden. Der bedeutendste Eingriff geschah zweifellos zwischen 1956 und 1963, als die Kraftwerke Hinterrhein AG (KHR) die grösste Kraftkwerkskombination in Graubünden erstellte.

Das Avers steuert einen wichtigen Teil des Wassers bei. Es wird in Juppa gefasst ( und Abb. 06), in einem Stollen ins Madristal und von dort in einem weiteren Stollen in den Lago di Lei geleitet.

Vom Bergbauerndorf zur finanzstarken Wasserkraftgemeinde

Ferrera, auf dessen Gemeindegebiet die Staumauer im Val di Lei steht, ist noch ausgeprägter als das Avers eine Wasserkraftgemeinde. Dank den Einnahmen aus Wasserzinsen, Unternehmens- und Liegenschaftssteuern ist Ferrera eine der finanzstärksten Gemeinden im Kanton Graubünden. Um 1950 lebten in Ferrera noch mehrheitlich Bauern; heute wirtschaftet hier nur noch einer. Mit dem Kraftwerk kamen etwa 15 Familien neu ins Dorf. Die KHR schuf in Ferrera und im Valle di Lei 16 Arbeitsstellen. Nach der Pensionierung zogen einige wieder weg, und die heutigen Angestellten der KHR wohnen nicht mehr zwingend in Ferrera. Das Dorf droht zu überaltern; die Schule musste bereits 1990 schliessen. Das Schulhaus wird derzeit von der Gemeindekanzlei und dem Forstamt genutzt. Die 87 Einwohner zählende Gemeinde gibt Gegensteuer, indem sie möglichst viele Arbeitsplätze im Dorf zu erhalten versucht. «Zurzeit beschäftigen wir neun Personen, zwei davon sind Lernende», sagt Gemeindepräsident Fritz Bräsecke.

Noch kann sich Ferrera das leisten. Am Horizont ziehen jedoch düstere Wolken auf. Die Einnahmen aus der Wasserkraft gehen nämlich zurück. Die Wasserzinsen wurden in der Vergangenheit zwar mehrere Male angehoben, die von den Elektrizitätsunternehmen bezahlten Steuern nahmen aber deutlich ab. Besonders hart könnte Ferrera zudem die Reform des kantonalen Finanzausgleichs treffen. Laut Bräsecke könnten diese Zahlungen von heute jährlich 140 000 Franken ab 2015 auf das Dreifache steigen. Zumindest einen Teil der künftig fehlenden Gelder soll ein neues Kleinwasserkraftwerk generieren. Die Gemeindeversammlung hat im Sommer die Konzession für die Realisierung mit deutlicher Mehrheit erteilt.

Das Gesuch liegt nun beim Kanton, und wenn alles rund läuft, liegt Mitte 2014 die Bewilligung vor (vgl. Kasten links). Ob die Rechnung wirklich aufgeht, wird sich zeigen. Möglicherweise stellen die jungen Menschen, die seit einigen Jahren in Scharen nach Ausserferrera strömen, um ihrem Hobby, dem Felsblockklettern – auch Bouldering genannt – zu frönen, das grössere Entwicklungspotenzial für die Gemeinde dar (vgl. Kasten S. 20).

Moderner Forstbetrieb mit eigener Sägerei

Die finanziell gute Situation von Ferrera widerspiegelt sich auch im Forstbetrieb. Er verfügt über einen modernen Maschinenpark. Dazu zählt auch ein Seilkran, mit dem sich das Holz aus dem Wald transportieren lässt. Im steilen Gelände kann man praktisch an keiner Stelle mit Maschinen in den Wald hineinfahren. «Auf 90 % der Fläche kommt der Seilkran zum Einsatz», sagt Thomas Voneschen, der Leiter des Forstbetriebs in Ferrera. Im Forstrevier Ferrera/Avers wachsen Fichten (65 %), Arven (22 %), Lärchen (10 %) und Föhren (3 %). Eine besondere Bedeutung hat der Wald, der die Verkehrswege vor Naturgefahren schützt; die Kantonsstrasse ist der Lebensnerv für das ganze Tal. Ein beträchtlicher Teil des Walds sei überaltert, sagt Voneschen. Den Schutzwald zu pflegen sei deshalb gut investiertes Geld.

Der Forstbetrieb führt auch Arbeiten für die Gemeinde aus. Die Jahreszeiten geben den Takt vor: Das meiste Holz wird im Winter geschlagen. Wenn es schneit und die Arbeit im Wald nicht möglich ist, werden die Strassen geräumt. Weitere Aufgaben sind die Betreuung der Kläranlage und der Strassenbeleuchtung sowie der Unterhalt von Wanderwegen und Brücken. Seit drei Jahren kooperieren die fünf Forstbetriebe im Schams, Ferrera und Rheinwald. Die lose Zusammenarbeit habe sich bewährt, erklärt Voneschen. So könnten etwa die Maschinen besser ausgelastet werden.

Nachdem die Grosssägerei in Domat/Ems GR 2010 ihren Betrieb einstellte, ist es in Graubünden schwieriger geworden, das Holz zu einem guten Preis zu vermarkten. Der überwiegende Teil des Bündner Holzes wird nun nach Österreich verkauft. Holz wird auch in der eigenen Gemeindesägerei in Innerferrera eingeschnitten. Die Gemeinde investierte kürzlich 400 000 Franken in die Modernisierung der Anlage. Mit der alten Säge, deren Betrieb sehr arbeitsintensiv war, sei das Defizit immer grösser geworden, sagt Voneschen. Die Dorfsägerei aufgeben wollte man jedoch nicht. Die diesen Sommer neu eingebaute horizontale Blockbandsäge stammt aus einem Betrieb, der schliessen musste. Verarbeitet werden vor allem Lärchen-, Fichten- und Arvenstämme aus dem Tal und der Region. Balken, Latten und Bretter werden auf Bestellung hergestellt. Zu den Kunden zählen Zimmereien, Dachdecker und Schreinereien.

Ein Gegenpol zu den hektischen Städten

Beim Verlassen des Tals begleiten uns die Eindrücke einer doch ziemlich anderen Welt. Solche abgeschiedenen und und ruhigen Täler bereichern die Schweiz enorm. Es ist gut, dass es diese andere Welt noch gibt – als Gegenpol zu den hektischen und hyperventilierenden Städten in den Metropolräumen. Der Schweiz sollte es etwas wert sein, auch ihren abgelegenen Bergtälern eine Zukunftsperspektive zu bieten.

28. Juni 2013 TEC21

Folgenreiche Initiative

Die Annahme der Rothenthurm-Initiative 1987 markiert einen Wendepunkt im schweizerischen Moorschutz. Seither sind Moore und Moorlandschaften von gesamtschweizerischer Bedeutung durch die Bundesverfassung geschützt. Anders als bei Eingriffen in andere Landschaften lassen die gesetzlichen Bestimmungen bei den Moorlandschaften keine Interessenabwägung zu.

Der Moorschutz in der Schweiz ist untrennbar mit einem Ort in der Innerschweiz verbunden: mit Rothenthurm. Im Hochtal zwischen Biberbrugg und Rothenthurm wollte die Schweizer Armee in den 1980er-Jahren einen Waffenplatz mit Kaserne mitten in eine Moorlandschaft stellen. Die Bauern wehrten sich; sie hätten ihr Land verloren. Besonders aktiv war der Bauer vom Nesseli; sein Hof wäre dem geplanten Zielhang zum Opfer gefallen. Die Naturschützer waren natürlich auch dagegen, denn die Armee hätte die grösste zusammenhängende Moorfläche des Alpenvorlands in Beschlag genommen. Die Unterschriften für die Volksinitiative «Zum Schutz der Moore – Rothenthurm-Initiative» kamen in nur sechs Monaten zusammen – und am 6. Dezember 1987 hiess die Bevölkerung die Initiative mit fast 58 % der Stimmen bei einer Stimmbeteiligung von mehr als 47 % gut. Die Sensation war perfekt; das Militärdepartement musste die Baumaschinen wieder abziehen.

Mit der Initiative wurde aber nicht nur der Bau des Waffenplatzes verhindert. Die Schweizer Bevölkerung befürwortete damit den Schutz sämtlicher Moore in der Schweiz – und zwar auf Verfassungsstufe. Seither dürfen in Mooren weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden.

Moorinventare von nationaler Bedeutung

Nach Annahme der Initiative erstellte der Bund verschiedene Moorinventare von nationaler Bedeutung. Das Inventar der Hochmoore trat 1991 in Kraft, dasjenige für die Flachmoore folgte 1994. Die Hochmoore umfassen 0.04 % und die Flachmoore 0.5 % der Landesfläche (vgl. Karte S. 20). Laut dem Verfassungsartikel waren auch Moorlandschaften zu schützen; dies geschah 1996 mit einem eigenen Inventar. Die Moorlandschaften umfassen zusätzlich zu den Mooren auch beträchtliche Nicht-Moorflächen. Die moorfreien Teile stehen allerdings in enger ökologischer, visueller, kultureller oder geschichtlicher Beziehung zu den Mooren. Die insgesamt 89 Moorlandschaften umfassen gemäss dem Bundesinventar der Moorlandschaften 874 km2 (2.1 % der Fläche der Schweiz).

Mit Mooren und Moorlandschaften besonders gesegnet ist das Entlebuch im Kanton Luzern. Als man dort realisierte, wie viel Fläche plötzlich mit Nutzungsbeschränkungen belegt war, entschied man sich für eine Vorwärtsstrategie und schuf ein Biosphärenreservat nach den Richtlinien der Unesco. Moorlandschaften belegen mehr als ein Viertel der Fläche der knapp 400 km2 grossen Unesco-Biosphäre Entlebuch (UBE). Sie sind das landschaftliche Kapital des Entlebuchs, das man zusammen mit dem Unesco-Label touristisch in Wert setzen möchte. Hochmoore umfassen 1.25 % und Flachmoore 15.2 % der Fläche der UBE.[1] Es ist keineswegs selbstverständlich, dass die Gründung des Biosphärenreservats gelungen ist. Nach der Annahme der Rothenthurm-Initiative gab es bei der Unterschutzstellung der Moorflächen nämlich grosse Auseinandersetzungen mit den Landnutzern.[2] Aber auch im Entlebuch wurde die Initiative mit 69 % der Stimmen deutlich angenommen. Vielen Stimmberechtigten dürfte indes nicht bewusst gewesen sein, welche Konsequenzen dieser Entscheid für ihre Region haben würde.

Die Moorlandschaften sind als einziger Landschaftstyp auf Verfassungsstufe geschützt. Doch wie strikt ist ihr Schutz wirklich? Im Rahmen der Erfolgskontrolle Moorschutz liess das Bundesamt für Umwelt unter anderem auch die Entwicklung der Moorlandschaften untersuchen. Die 2007 – also 20 Jahre nach Annahme der Rothenthurm-Initiative – präsentierten Ergebnisse lassen aufhorchen: So wurde über die Hälfte aller neu erstellten Gebäude in den Moorlandschaften durch die Experten als schutzzielwidrig eingestuft. Bei den neu gebauten Strassen und Wegen trifft dies sogar für zwei Drittel zu. Auch die Qualität der Schutzverfügungen und Schutzpläne für die einzelnen Moorlandschaften wurde in vielen Fällen als noch nicht ausreichend beurteilt.[3] Offensichtlich stellt die Umsetzung des Moorlandschaftsschutzes für die Kantone eine Herausforderung dar.

Das Bundesgericht bestätigt den strikten Moorschutz

Für Aufsehen sorgte jüngst der Fall des von Peter Zumthor entworfenen Sommerrestaurants für das Kloster Einsiedeln auf der Insel Ufenau im Zürichsee. Die Insel bildet zusammen mit den am Ufer von Pfäffikon SZ liegenden Flachmooren die Moorlandschaft «Frauenwinkel». Auf der Insel selber befindet sich ein geschütztes Flachmoor, das aber vom Neubau nicht tangiert worden wäre. Bei der Überarbeitung des ersten Projekts, das auf Kritik gestossen war, wirkten auch der Schweizer Heimatschutz und die Stiftung Landschaftsschutz mit. Beide Organisationen hatten schliesslich nichts mehr gegen das Projekt einzuwenden.[4]

Der Umweltschutzverband Aqua Viva erhob jedoch Beschwerde vor Bundesgericht, und die Richter aus Lausanne lehnten Ende 2011 den Neubau aus Gründen des Moorlandschaftsschutzes ab.[5] Wenige Monate später scheiterte auch das Projekt der Verbindung der Zürcher-Oberland-Autobahn bei Wetzikon an den Vorgaben des Moorlandschaftsschutzes. Im gesamten Perimeter gilt praktisch ein absolutes Bauverbot. Ausgenommen seien nur Einrichtungen, die dem Schutz oder der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung der Moore und Moorlandschaften dienten, hielt das Bundesgericht in seinem Entscheid fest.6 Der Kanton Zürich pokerte sehr hoch und verlor. Er muss nun nach einer neuen Linienführung suchen.

Das Urteil zur Zürcher-Oberland-Autobahn ist aus einem weiteren Grund bemerkenswert. Das Bundesgericht befand nämlich, dass die Abgrenzung der Moorlandschaft durch den Bundesrat nicht korrekt erfolgt sei. Abgesehen von den Interessen des Strassenbauprojekts seien keine sachlichen Gründe für den Perimeterverlauf ersichtlich. Der Schutz von Moorlandschaften lasse aber keine Interessenabwägung zu, so das Bundesgericht.

Umstrittene Erhöhung der Grimsel-Staumauer

Die Frage der Abgrenzung des Moorlandschaftsperimeters dürfte auch bei der geplanten Erhöhung der Staumauer am Grimsel entscheidend sein. Die Kraftwerke Oberhasli wollen mit einer um 23 m höheren Staumauer die Speicherkapazität von heute 95 auf 170 Mio. m3 erhöhen.[7] Im September 2012 hatte das Berner Kantonsparlament die hierfür nötige Konzession mit 139 zu 14 Stimmen genehmigt. Gegen den Entscheid reichten die Umweltverbände beim Berner Verwaltungsgericht Beschwerde ein.[8] Sie sind überzeugt, dass eine höhere Grimsel-Staumauer den durch die Verfassung garantierten Schutz der Moorlandschaften verletzt. Das Vorhaben sei ein Präzedenzfall: Werde das Projekt akzeptiert, könnte das den Moorschutz auch in der übrigen Schweiz aushebeln. Auf dem Papier tangiert ein um 23 Meter angehobener Seespiegel die geschützte Moorlandschaft zwar nicht. Nach Ansicht der Umweltverbände ist dies aber nur der Fall, weil der Bundesrat auf Antrag der Berner Regierung 2004 den Perimeter der Moorlandschaft 27 Meter über dem aktuellen Seespiegel festgelegt hat – damit die Vergrösserung des Stausees realisiert werden kann.

Wird der aktuelle Perimeter der Moorlandschaft (der ein Höherstauen ermöglichte) von den Gerichten als zulässig erachtet, sind weitere knifflige Probleme zu lösen. Das Grimselgebiet liegt nämlich in einer geschützten Landschaft von nationaler Bedeutung (BLN-Objekt), und die Passstrasse ist im Inventar der historischen Verkehrswege (IVS) aufgeführt. Ein höherer Seespiegel würde zudem das geschützte Gletschervorfeld und etwa 50 Arven am Seeufer überfluten. Wie stark die Beeinträchtigung der Landschaft und die Zerstörung der Ökosysteme bei einer gerichtlichen Überprüfung ins Gewicht fallen würde, ist schwer zu sagen. Die Rodung der 50 Arven dürfte auf jeden Fall aber eine untergeordnete Rolle spielen. Werden die Arven gerodet, so ist dafür ein entsprechender Realersatz geplant (vgl. Kasten).

Die Beispiele verdeutlichen, dass nicht nur der Schutz der eigentlichen Moore, sondern auch der Moorlandschaftsschutz sehr strikt ist. Ein Abweichen von den Schutzinteressen kommt nur in Ausnahmefällen infrage, etwa beim Schutz vor Naturgefahren. Die strittigen Einzelfälle ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich. Vielleicht zu viel. Denn wir sollten nicht vergessen, dass es sich bei den meisten Mooren um Kulturlandschaften handelt, die nur aufgrund der früheren landwirtschaftlichen Streunutzung existieren. Die entscheidende Frage bei der Erhaltung der Moore lautet deshalb vielmehr, ob wir nach dem Verschwinden der traditionellen Nutzung bereit sind, diese Lebensräume dauerhaft zu pflegen.


Anmerkungen:
[01] Thomas Hammer, M. Leng: «Wie lassen sich naturnahe Kulturlandschaften erhalten? Vorschläge für innovatives Handeln am Beispiel der Moorlandschaften der Schweiz» in: GAIA 20/4, S. 265–271. 2011
[02] Urs Müller: «Regionalisierung – Fallbeispiel Biosphäre Entlebuch» in: N. Bachkaus und U. Müller-Böker (Hg.): Gesellschaft und Raum. Zürich 2006, S. 53–71.
[03] Bundesamt für Umwelt: Zustand und Entwicklung der Moore in der Schweiz. Faktenblatt 1 vom 22. November 2007.
[04] Medienmitteilung des Schweizer Heimatschutzes vom 8. September 2009.
[05] Bundesgerichtsentscheid 1C_231/2011 vom 16. Dezember 2011.
[06] Bundesgerichtsentscheid 1C_71/2011 vom 12. Juni 2012.
[07] Vgl. www.grimselstrom.ch
[08] Gemeinsame Medienmitteilung der Umweltverbände vom 25. März 2013.

2. November 2012 TEC21

Solarstrom: Fördern und fordern

In die Photovoltaik werden grosse Hoffnungen gesetzt. Die Kosten für Solarstrom sind in den letzten vier Jahren massiv gesunken. Derzeit stammen etwas mehr als 0.3 TW h Strom aus Photovoltaikanlagen (0.5 % des Stromendverbrauchs). In seiner Energiestrategie 2050 hält der Bundesrat bis 2050 eine jährliche Produktion von mehr als 11 TW h Solarstrom für möglich. Das entspräche 19 % des heutigen Stromendverbrauchs. Wie rasch die Photovoltaik ausgebaut und wie sie gefördert werden soll, dazu gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten.

«It always seems impossible until it’s done.» An der Klimakonferenz im südafrikanischen Durban im Dezember 2011 war das Zitat von Nelson Mandela oft zu hören. Es könnte aber auch als Sinnbild für die angestrebte Energiewende dienen. Die Schweiz will mittelfristig aus der Atomenergie aussteigen; die dadurch entstehende Lücke soll mit mehr Energieeffizienz und viel Strom aus erneuerbaren Energien ausgeglichen werden. Ende September präsentierte der Bundesrat mit der Energiestrategie 2050 nun eine Vorlage und zeigte damit auf, wie er die Energiewende angehen will.[1] Der Ausbau der Photovoltaik spielt dabei eine zentrale Rolle. In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob Parlament und Bevölkerung diesen Weg einschlagen wollen.

Was heute schon ist

Gemäss der schweizerischen Statistik der erneuerbaren Energien betrug 2011 der Anteil der Photovoltaik an der Elektrizitätsproduktion 0.25 %. Aufgrund einer Umfrage bei den wichtigsten Anbietern von Photovoltaikanlagen rechnet Swissolar, der Fachverband für Sonnenenergie, 2012 mit einem Marktwachstum von mindestens 50 % gegenüber dem Vorjahr. Bis Ende Jahr steigt die Jahresproduktion somit auf mindestens 330 GWh an, was etwas mehr als 0.5 % des Stromendverbrauch entspricht. Trotz dieser Steigerung liegt die Schweiz immer noch weit hinter Deutschland zurück, das schon heute einen Solarstromanteil von etwa 5 % hat.

Deutschland führte im Jahr 2000 das Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) ein. Es garantiert für die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Quellen feste Einspeisevergütungen. In der Schweiz wurde erst 2009 mit der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) ein analoges Fördersystem eingeführt. Die KEV garantiert je nach Technologie während 20 bis 25 Jahren einen festen Preis, der den Produktionskosten entspricht. Dem Beispiel Deutschlands folgend haben inzwischen weltweit über 60 Länder solche Fördersysteme eingeführt.

Zögerliche Schweizer Förderpolitik

Finanziert wird die KEV über einen Zuschlag auf den Strompreis. Damit trägt jeder Endverbraucher zur Förderung der erneuerbaren Energien bei. Derzeit beträgt in der Schweiz der Zuschlag 0.35 Rp./kWh.[2] In Deutschland ist die entsprechende Förderabgabe viel höher.

2011 betrug die sogenannte EEG-Umlage 3.53 ct/kWh (etwa 4.24 Rp./kWh).[3] Dieses Jahr ist sie leicht gestiegen, und für 2013 wird mit einem massiven Anstieg auf 5.3 ct/kWh (etwa 6.4 Rp./kWh) gerechnet.[4] Daher wurde die Kritik am EEG in den letzten Monaten immer lauter, und die Mittel für den weiteren Photovoltaikausbau wurden begrenzt. Mit seiner ehrgeizigen Förderpolitik hat Deutschland jedoch wesentlich dazu beigetragen, dass die Stromgestehungskosten bei den erneuerbaren Energien in den vergangenen Jahren deutlich gesunken sind.

In der Schweiz herrscht derzeit eine paradoxe Situation. Für die KEV könnte anstelle von 0.35 Rp./kWh bei Bedarf nämlich schon heute ein Zuschlag von 0.6 Rp./kWh erhoben werden (ergäbe eine Fördersumme von 320 Mio. Franken pro Jahr). Dieser Zuschlag kann gemäss Parlamentsbeschluss vom Juni 2010 ab 2013 bedarfsgerecht sogar auf maximal 0.9 Rp./kWh erhöht werden (das ergäbe etwa 500 Mio. Franken pro Jahr). Doch diese Mittel können momentan gar nicht ausgeschöpft werden, weil viele Wasser- und Windkraftwerke, die KEV-Beiträge zugesprochen erhalten haben, wegen Einsprachen noch in Bewilligungsverfahren blockiert sind. Bei der Photovoltaik werden die Fördergelder hingegen voll ausgeschöpft. Ihr Ausbau ist gemäss Energiegesetz jedoch begrenzt; die Kontingente werden vom Bundesrat jedes Jahr festgelegt. Dieser sogenannte Deckel soll verhindern, dass zu viele Mittel in eine schnell realisierbare, aber noch teure Technologie fliessen.[5] Ohne diese Bestimmung wäre die Einführung der KEV im Parlament nicht mehrheitsfähig gewesen.

Die Begrenzung des Solarstroms führte zu einer langen Warteliste bei der KEV für Photovoltaikanlagen.

Eine parlamentarische Initiative will nun Abhilfe schaffen. Ein erster Entwurf der dafür zuständigen Kommission des Nationalrats (UREK-N) möchte den KEV-Zuschlag auf 1.4 Rp./kWh erhöhen, wobei energieintensive Betriebe entlastet werden sollen. Damit stünden insgesamt mehr Mittel für die erneuerbaren Energien zur Verfügung. Ziel ist es, die Warteliste von insgesamt rund 21 000 Projekten abzubauen. Im Bericht der UREK-N heisst es, mit der Aufstockung der für die KEV zur Verfügung stehenden Mittel könnten im besten Fall die Hälfte der bis April 2012 angemeldeten Photovoltaikprojekte freigegeben werden. Ob das Parlament diesem Vorschlag folgt, wird sich zeigen.

Halbierung der Kosten für Solarstrom

Zurzeit ist Photovoltaik immer noch die teuerste Produktionsart der erneuerbaren Energien. In den letzten Monaten sanken die Kosten jedoch in einem Ausmass, wie es kaum jemand vorausgesehen hatte. Die Kostenreduktion wurde möglich dank der technischen Entwicklungen bei der Herstellung der Module sowie der Massenproduktion. Zudem ist der Konkurrenzdruck gestiegen, weil in Asien immer mehr Solarzellen kostengünstig produziert werden. Inzwischen ist China weltweit der grösste Produzent von Solarzellen. Unter Druck gekommen ist wegen der Überkapazitäten vor allem die europäische Solarindustrie, aber auch diejenige der USA. Der Preisverfall spiegelt sich auch in den fallenden Vergütungsansätzen für Solarstrom (Abb. 03, S. 31) wider. In der Energieverordnung (EnV) ist bei der Photovoltaik eine jährliche, automatische Absenkung der KEV-Vergütung um 8 % vorgesehen. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) reduzierte die Vergütungsansätze zusätzlich per 1. März 2012 um durchschnittlich 10 % und per 1. Oktober 2012 um weitere 15 %. Damit sank der durchschnittliche KEV-Vergütungssatz für Neuanlagen auf 31 Rp./kWh. 2009 hatte er noch 63 Rp./kWh betragen. Somit haben sich die Kosten für Solarstrom in den letzten vier Jahren ungefähr halbiert.

Für die Zukunft rechnet David Stickelberger von Swissolar zwar mit weiteren Kostenreduktionen bei den Solarmodulen, aber nicht mehr im Ausmass der vergangenen Jahre. Damit rückt die sogenannte Netzparität immer näher. Diese ist erreicht, wenn Solarstrom den gleichen Preis hat, wie ihn die privaten Haushalte für den Strom aus dem Netz zu bezahlen haben. Die Solarbranche glaubt, dass dies ab 2015 der Fall sein wird. Die Gestehungskosten bei Grossanlagen der neuesten Generation liegen bereits heute bei 20 Rp./kWh. Nicht berücksichtigt in dieser Rechnung sind allerdings die Netzkosten, die vom durchschnittlichen Strompreis von 20 bis 25 Rp./kWh ungefähr die Hälfte ausmachen. Und momentan sind die Haushalte noch auf einen Netzanschluss angewiesen, damit sie den überschüssigen Solarstrom ins Netz einspeisen und während der Nacht Strom aus diesem beziehen können. Je genauer die eigene Stromproduktion mit dem eigenen Bedarf übereinstimmt, desto weniger wird das Netz beansprucht.

Ehrgeizige Ziele 2050

Laut dem «Erläuternden Bericht zur Energiestrategie 2050»[6], der vom UVEK Ende September mit der Gesetzesvorlage in die Vernehmlassung geschickt wurde, liegt das nachhaltig nutzbare Potenzial der erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) bis 2050 bei geschätzten 24.22 TWh. Auf die Photovoltaik entfällt dabei der Löwenanteil von 11.12 TWh (das entspricht knapp einem Fünftel des aktuellen Stromendverbrauchs von 59 TWh). Die Basis für diese Schätzung bildeten die technischen Potenziale, die zwischen 2004 und 2006 im Rahmen der breit abgestützten Energieperspektiven 2035 erarbeitet worden waren. Die Energieperspektiven 2035 wurden für die Energiestrategie 2050 vom Bundesamt für Energie (BFE) aktualisiert.

In der im Herbst 2011 veröffentlichten Studie «Energiezukunft Schweiz» der ETH Zürich sind ähnliche oder sogar leicht höhere Photovoltaikpotenziale aufgeführt.[7] Die Autoren gehen bis 2050 von 10 bis 20 TWh Solarstrom aus; der realistische Wert wird mit 14 TWh angegeben. Bis 2020 wird mit 1.4 TWh Solarstrom gerechnet. Bei den Zwischenzielen ergeben sich somit Unterschiede, denn laut der nun vorgeschlagenen Gesetzesvorlage strebt das UVEK für 2020 einen Richtwert von lediglich 0.6 TWh an. Das entspräche nur etwa 1 % des heutigen Stromendverbrauchs. Nach den Vorstellungen des UVEK soll der Zubau der Photovoltaik im Unterschied zu den anderen erneuerbaren Energien weiterhin mit Kontingenten beschränkt werden. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung der Branche, eines kontinuierlichen Zubaus der Kapazität und einer Begrenzung der Gesamtkosten sei es nicht angezeigt, unbeschränkt finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, so die Begründung des UVEK. Bei Anlagen mit einer Leistung von weniger als 10 kWh sollen zudem keine KEV-Beiträge mehr gezahlt werden; an ihre Stelle sollen einmalige Investitionshilfen treten (vgl. Kasten). Gar nicht zufrieden mit dem vom Bund angeschlagenen Tempo bei der Photovoltaik ist Swisssolar. «Damit riskiert man, die dynamische Entwicklung der Branche abzuwürgen», sagt David Stickelberger. Swisssolar möchte bis 2025 einen Anteil vom 20 % Solarstrom erreichen. Das wären 12 TWh, also etwas mehr, als das BFE erst für 2050 erwartet.

Gibt es genügend geeignete Flächen?

Swissolar schätzte auch die Kosten und den Flächenbedarf.[10] Basierend auf dem heutigen Fördermodell würde der KEV-Zuschlag auf 1.4 bis maximal 2.4 Rp./kWh steigen. Für die Produktion von 12 TWh Solarstrom wäre eine Fläche von 90 km2 nötig. Das entspricht 12 m² pro Einwohner. Um das 20 %-Ziel zu erreichen, müsste bis 2025 jährlich eine Fläche von durchschnittlich 7 km2 mit Solarmodulen bestückt werden. Das ist nicht unmöglich. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz gehen von über 400 km2 Dachflächen in der Schweiz aus. Von diesen dürften sich 100 bis 150 km2 für Photovoltaikanlagen eignen.[11]

Doch wie lassen sich geeignete Flächen mobilisieren? Peter Franken, Leiter des Geschäftsbereichs Energieverteilung bei den Elektrizitätswerken des Kantons Zürich (EKZ), sagte an einer kürzlich von seiner Firma organisierten Tagung, es sei gar nicht so einfach, geeignete Flächen zu finden. Industriebetriebe seien nämlich sehr zurückhaltend, ihre Dächer für 20 bis 30 Jahre zur Verfügung zu stellen. Hier müssen praktikable Lösungen gefunden werden. Mancherorts werden auch Photovoltaikanlagen im Freiland ins Auge gefasst. Die EKZ prüfen etwa den Bau einer grossen Anlage in einem Steinbruch am Walensee. Das Planungsgebiet liegt jedoch im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Auf Grundlage der heutigen Gesetzgebung ist das Projekt kaum realisierbar. Das Gleiche gilt auch für das Vorhaben der Centralschweizerischen Kraftwerke AG, im luzernischen Inwil auf einem einst für ein AKW vorgesehenen Gelände eine Photovoltaikanlage auf 15 ha Kulturland zu bauen. Allerdings will der Bundesrat im neuen Energiegesetz festlegen lassen, dass die Nutzung erneuerbarer Energien und ihr Ausbau in der Regel von nationalem Interesse sind, das gleich- oder höherwertig als Umwelt- und Landschaftsschutz zu gewichten ist.

Zukünftige Herausforderungen

Neben den raumplanerischen Konflikten, die sorgfältige Güterabwägungen erfordern[12], gilt es weitere Herausforderungen zu meistern. Bei steigenden Solarstromanteilen wird die Netzintegration immer wichtiger (vgl. TEC21 38 / 2012). Die Schweiz befindet sich dank der stark ausgebauten Wasserkraft mit flexiblen Speicherseen und Pumpspeicherwerken in einer recht komfortablen Lage. Nach Einschätzung von Experten sollte die Integration von 10 % Solarstrom keine grösseren Probleme verursachen. Bei höheren Anteilen sind Anpassungen und Ausbauten der Netzinfrastruktur sowie zusätzliche Speichermöglichkeiten nötig. Fachleuten zufolge werden wahrscheinlich nicht die Kosten für die Erzeugung von Solarstrom dessen Anteil begrenzen, sondern die Netzintegration. Es ist eine anspruchsvolle Aufabe, das bisherige Elektrizitätsversorgungssystem auf eine zunehmend dezentrale Stromeinspeisung umzustellen (vgl. TEC21 12 / 2011). Das künftige Stromnetz wird nicht mehr nur im Einbahnverkehr betrieben, sondern muss sinnbildlich für Gegenverkehr gewappnet sein. Dieses komplexe System mit unterschiedlichsten Stromerzeugungsarten zuverlässig zu steuern und zu koordinieren, wird die neue grosse Aufgabe der Elektrizitätsunternehmen sein.

Ein Problem, das ebenfalls noch zu lösen sein wird, stellt die Versorgung im Winter dar, wenn der Strombedarf hoch ist, der Ertrag aus der Photovoltaik aber geringer ausfällt als im Sommer. Eine Möglichkeit, diese Differenz zu verringern, wäre, mehr Anlagen in den Alpen zu bauen. Im Unterschied zum Mittelland, wo im Sommer 70 % und im Winter 30 % des Solarstroms anfallen, ist das Verhältnis im alpinen Raum deutlich ausgeglichener.

Eine weitere Herausforderung betrifft die Integration der Photovoltaikmodule in die Bausubstanz. Es wird Fälle geben, in denen aus Gründen des Denkmal- oder Ortsbildschutzes darauf zu verzichten ist. Entscheidend für den Umbau des Energieversorgungssystems wird jedoch der Wille der Gesellschaft sein. Die Energiewende ist kein Selbstläufer. Soll es vorwärts gehen, muss die Politik die Weichen stellen und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen.


Anmerkungen:
[01] www.energiestrategie2050.ch
[02] Nicht eingerechnet ist hier der Zuschlag für den Gewässerschutz, der maximal 0.1 Rp. / kWh beträgt.
[03] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Erneuerbare Energien in Zahlen, Juli 2012
[04] Pressemitteilung der deutschen Übertragungsnetzbetreiber vom 15. Oktober 2012
[05] Bei Einführung der KEV 2009 durften nur 5 % der Fördermittel in die Photovoltaik fliessen; heute könnte der Anteil infolge der gesunkenen Gestehungskosten für Solarstrom auch höher sein (max. 30 %).
[06] Erläuternder Bericht zur Energiestrategie 2050 (Vernehmlassungsvorlage), UVEK
[07] G. Anderson, K. Boulouchos, L. Bretschger: Energiezukunft Schweiz. ETH Zürich, 2011
[08] Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW): Wie soll Strom aus erneuerbaren Energien gefördert werden?, 2012
[09] Trends in Photovoltaic Applications, IEA-PVPS, 2012
[10] Swissolar: Hintergrundpapier, 10. Nationale Photovoltaik-Tagung vom 22. u. 23. März 2012 in Baden
[11] Akademien der Wissenschaften Schweiz: Zukunft Stromversorgung Schweiz, 2012
[12] Akademien der Wissenschaften Schweiz: Lösungsansätze für die Schweiz im Konfliktfeld erneuerbaren Energien und Raumnutzung, 2012
[13] Vgl. Fussnote 11; Akademien der Technischen Wissenschaften (SATW): Erneuerbare Energien – Herausforderungen auf dem Weg zur Vollversorgung, 2011