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28. Juni 2019 Lukas Denzler
TEC21

«Eine Periodizität gibt es nicht»

Der Bereichsleiter Naturgefahren und Schutzbauten beim Bündner Amt für Wald und Naturgefahren, spricht über den Bergsturz von Bondo, die Herausforderungen bei der Gefahren­beurteilung und die Lehren, die man aus dem Ereignis gezogen hat.

TEC21: Herr Wilhelm, wo waren Sie am 23. August 2017? Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie vom Bergsturz in Bondo erfahren haben?
Christian Wilhelm: Ich war mit der Fachgruppe Naturgefahren im Wallis. Es war ein ungewöhnlich schöner Tag: Sonnenschein und blauer Himmel in der ganzen Schweiz. Dann vernahm ich von meinen Mitarbeitern, der Cengalo sei gekommen. Ich bin direkt nach Chur gefahren. Als ich ins Sitzungszimmer kam, liefen schon die ersten Filme. Sie zeigten einen trockenen Schuttstrom, der Bondo erreicht und die ersten Gebäude zerstört hatte. Es war unglaublich. Ich bin umgehend ins Bergell gereist, um mich mit unserem Spezialisten vor Ort abzustimmen. Am ersten Abend sprach die Kantonspolizei von 14 Vermissten. Eine Gruppe tauchte glücklicherweise am nächsten Tag in Italien auf. Acht Alpinisten werden leider heute noch vermisst.

TEC21: Hat Sie das Ereignis überrascht?
Christian Wilhelm: Vom unmittelbaren Schuttstrom und den Murgängen ohne Niederschläge waren wir alle sehr überrascht. Beim Cengalo gingen wir hingegen davon aus, dass sich ein Abbruch in den kommenden Wochen und Monaten ereignen kann. Darauf deuteten die letzten Messergebnisse zu den Felsbewegungen aus der Ferne vom Sommer 2017 hin. Zwei Tage vor dem Bergsturz ereignete sich ein Felssturz aus der Nordwestflanke. Dieser Sturz war nicht überraschend. Der Ausbruchbereich war sehr aufgelöst, und das wurde auch erkannt. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ähnlich abgelaufen wie in den Vorjahren.

TEC21: Der fatale Bergsturz löste sich dann aber aus der Nordostflanke. Ohne Vorwarnung?
Christian Wilhelm: Ja, der schlagartige Ausbruch von rund 3 Mio. m3 kam sehr überraschend. In der Regel kündigen sich grosse Bergstürze mit Vorabbrüchen an. Das war hier nicht der Fall. Wir diskutierten nachher über unseren Blick auf den Cengalo. Es war, als wäre der Berg wie ein Zug unterwegs. Wir sahen ihn über die Jahre, aber er erhöhte plötzlich sein Tempo. Von unserer Position aus und aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Informationen haben wir dies so nicht wahrgenommen.

TEC21: In neun Tagen lagerten sich in Bondo rund 500 000 m³ Material ab. Sind Ihnen ähnliche Ereignisse aus der Schweiz bekannt?
Christian Wilhelm: 2002 gab es infolge starker Unwetter im ganzen Kanton zahlreiche Murgänge. Die grössten brachten in fünf bis sieben Schüben ca. 50 000 bis 70 000 m³ Material. In Bondo sprechen wir von einer anderen Grössenordnung. Etwas Vergleichbares habe ich 2005 in Guttannen im Berner Oberland gesehen. Auch dort stiessen Kubaturen bis 500 000 m³ in den Talboden vor, allerdings nach Starkniederschlägen. Solche Erosionsgräben hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Damals habe ich realisiert, dass die Situation im Hochgebirge sensibler geworden ist.

TEC21: Was hatte in Bondo Priorität, nachdem die ersten Tage überstanden waren?
Christian Wilhelm: Zunächst ist es wichtig, dass man sich gegenseitig unterstützt und die Chaosphase gemeinsam bewältigt. Unsere Spezialisten waren vor allem mit der Gefahrenbeurteilung beauftragt. Die Bedrohung war ja immer noch da. Wir mussten die Arbeiter bei den Räumarbeiten schützen. Um längere Vorwarn­zeiten zu haben und auch während der Nacht arbeiten zu können, überwachten wir den Cengalo mit einer permanenten Radaranlage. Auch das zerstörte Frühwarnsystem musste schnell wieder auf- und ausgebaut werden.

TEC21: In welchem finanziellen Rahmen liegt das Frühwarnsystem in Bondo?
Christian Wilhelm: Das bewegt sich bei etwa 250 000 Fr. pro Jahr. 80 Prozent der Kosten tragen Bund und Kanton, den Rest teilen sich die Gemeinde und das kantonale Tiefbauamt. Wir benötigen dieses Frühwarnsystem, weil wir die entscheidenden Faktoren, die nach einem Bergsturz einen Schuttstrom auslösen – so wie in Bondo geschehen –, noch nicht kennen. Und ein erneuter Bergsturz ist nicht auszuschliessen. Zudem kann das Auffangbecken im Extremfall gar nicht das ganze Material aufnehmen.

TEC21: Wie hoch sind die Kosten der Frühwarnsysteme im ganzen Kanton im Vergleich zu den Investitionen in Schutzbauten?
Christian Wilhelm: Für klassische Bauten zum Schutz vor Lawinen, Rutschungen und Steinschlag sowie den Bachverbau investieren Bund, Kanton, Gemeinden und Nutzniesser insgesamt etwa 20 bis 22 Mio. Fr. pro Jahr. Für Wasserbauprojekte kommen noch einmal 6 bis 8 Mio. Fr. dazu. Der Unterhalt und Betrieb der Frühwarnsysteme beläuft sich auf etwa eine halbe Million Franken. Doch diese Aufwendungen nehmen eindeutig zu. Wenn moderne Technolo­gien wie Radar und Webcams zur Verfügung stehen, möchte man sie auch nutzen. Das bringt neue Möglichkeiten, schafft aber auch Abhängigkeiten.

TEC21: In Bondo sind die baulichen Schutzmassnahmen erst wieder provisorisch erstellt. Was sind die ­nächsten Schritte?
Christian Wilhelm: Das Auffangbecken ist geräumt, die Dämme wurden erhöht. Jetzt geht es darum, das definitive Schutzbautenprojekt auszuarbeiten. Die Gefahrenbeurteilung haben wir zusammen mit Ingenieur­büros durchgeführt. Für das Bauprojekt ist die Abteilung Wasserbau zuständig. Der Baubeginn ist für 2021 vorgesehen. Sobald die neuen Schutzbauten erstellt sind, werden das Frühwarnsystem angepasst und die ver­bleibende Gefährdung in Bondo durch die Gefahrenkommission neu beurteilt. Diese Abstimmung bezeichnen wir als integrales Risikomanagement.

TEC21: Welche Schwierigkeiten bereitete die Gefahren­beurteilung?
Christian Wilhelm: Für die Erstellung der Gefahrenkarte ­«Wasser» für den jetzigen Zustand waren die Eingangsgrössen teils nur schwer abschätzbar. Für die Eintretenswahrscheinlichkeit nicht periodischer Ereignisse mussten auch Annahmen getroffen werden. Zudem führten mögliche Ereignisverket­tun­gen zu einer Vielzahl von Szenarien. Bei Bergstürzen muss man Abschätzungen und Annahmen mit sehr grossen Unsicherheiten treffen. Eine Periodizität am gleichen Berg ist unwahrscheinlich. Das klassische Gefahren- und Risikokonzept stösst deshalb an Grenzen. ­Grundlegend bei diesem Konzept ist, dass ein Gefahren­prozess beziehungsweise eine bestimmte Risikokonstellation wiederkehrend auftritt und dementsprechend Häufigkeiten be­ziehungsweise Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden können.

TEC21: Seit dem Bergsturz sind fast zwei Jahre vergangen. Hat der Kanton Korrekturen vorgenommen?
Christian Wilhelm: Solche Grossereignisse liefern immer neue Erkenntnisse. Im Nachgang haben wir beispiels­weise geprüft, ob die Aufgaben richtig verteilt sind, und uns die Frage gestellt, wo wir die Gemeinden noch besser unterstützen können. Das tun wir vor allem mit der Ausbildung von lokalen Natur­gefah­ren­be­ratern. Zudem werden in den Gemeinden vermehrt Notfallplanungen erarbeitet. Dieser sogenannte organisatorische Teil ist wichtiger geworden. Sehr bewährt hat sich die Expertengruppe, die wir un­mittelbar nach dem Ereignis eingesetzt haben.

TEC21: Ist es eine Option, der Natur Raum zurückzugeben?
Christian Wilhelm: Ja, das ist ein wichtiger Teil heutiger Schutzkonzepte. In Bondo wurden einzelne Gebäude, die getroffen wurden, nicht wieder aufgebaut. Gemeinde, Gebäudeversicherung und Dienststellen von Bund und Kanton haben hier gemeinsam gute Lösungen gefunden. Somit steht mehr Raum für das Schutzbautenkonzept, aber auch für die Natur zur Verfügung.

TEC21: Die Polizei hat nach den Ereignissen in Bondo ­Ermittlungen aufgenommen. Was ist der Stand der laufenden Untersuchung?
Christian Wilhelm: Kommt es bei einem Naturgefahrenereignis zu Todesfällen, so wird von Amts wegen eine Untersuchung eingeleitet. Dies bot uns die Gelegenheit, die Arbeiten der letzten Jahre umfassend zu dokumentieren. Darin haben wir unter anderem dargelegt, was wir als kantonale Fachstelle zu welchem Zeitpunkt wussten und was nicht. Die Dokumentation ist derzeit bei der Staatsanwaltschaft. Diese entscheidet auch, ob sie ein Verfahren eröffnet oder die Untersuchung einstellt.1

TEC21: Wo zeichnen sich die nächsten Herausforderungen im Bereich Naturgefahren im Kanton ab?
Christian Wilhelm: Momentan beschäftigt uns eine Rutschung in Brienz im Albulatal sehr. Betroffen sind auch die Kantonsstrasse und die RhB-Linie zwischen Tiefencastel und Filisur. Mit Bohrungen klären wir derzeit ab, wie tief die Rutschflächen liegen. Brienz droht nicht nur abzurutschen, es ist auch durch eine ­Sackung oberhalb des Dorfs bedroht. Die Situation wird seit einiger Zeit ebenfalls permanent überwacht. Die Gemeinde und der Kanton bereiten sich auf verschiedenste Szenarien vor.

7. Juni 2019 TEC21

Ästhetik versus Nutzen

Das Viadukt Mühle Rickenbach bei Wil SG wurde 1964 nach Plänen von Christian Menn gebaut. Bis 2020 wird die Spannbetonbrücke ­instand gesetzt, verstärkt und verbreitert.

Eine Spannbetonbrücke, Korrosionsschäden, eine Instandsetzung. Nahe der Autobahnausfahrt Wil SG überquert das Viadukt Mühle Rickenbach Strassen und Gewässer. Auf den ersten Blick nichts Überraschendes, und doch fällt im Anfangssatz des technischen Berichts auf, dass der Planer der Brücke namentlich genannt ist: Das Viadukt wurde 1964 nach Plänen von Prof. Dr. Ch. Menn gebaut, heisst es dort. Es war damit eines seiner frühesten Werke.

«Die Konstruktion ist sehr schlank und elegant und zeigt die typische materialsparende Bauweise der damaligen Zeit», sagt Sandro De Luca, Projektleiter und Oberbauleiter des Kantons St. Gallen.

Tragende Teile verstärken

Eine umfangreiche Untersuchung im Jahr 2012 zeigte den schlechten Zustand der Brücke. Vor allem in die Gerbergelenke drang chloridhaltiges Wasser ein, was zu Bewehrungskorrosion und infolgedessen zu Betonabplatzungen führte. Das Viadukt muss dringend ­instand gestellt werden. Das sah auch Christian Menn so. In einem Interview mit TEC21 sagte er einmal: «Ein Eingriff in ein Bauwerk wird dann notwendig, wenn die Funktionalität nicht mehr gewährleistet ist – sei es aufgrund der Geometrie, der ungenügenden Trag­sicherheit oder von Mängeln mit Schadenfolgen.»1

Wichtigste Vorgabe bei der aktuellen Instandsetzung in Wil: Das Befahren der Brücke im Gegenverkehr – rund 21 000 Fahrzeuge täglich – muss während der Bauzeit und künftig möglich sein. Deshalb wird die Brücke beidseitig um je 70 cm auf insgesamt 12.30 m verbreitert. Eine längere Vollsperrung, Umfahrung oder sonstige Alternativen gab es nicht. Die Verbreiterung der drei Fahrspuren wird im Endzustand den Forderungen für Kantonsstrassen entsprechen.

Infolge der Mehrlast und der notwendigen Dimensionierung auf Verkehrslasten gemäss SIA 269 (2011) mussten die Längsträger verstärkt werden. Hierzu wurde an den Innenseiten der Stege jeweils ein zusätzliches Vorspannkabel eingebaut. Ausserdem wurden bereits im Herbst/Winter 2017/2018 die Stützenfundamente verbreitert und teilweise mit Mikropfählen verstärkt.

Gerbergelenke eliminieren

Die beiden hoch beanspruchten Gerbergelenke beim Einhängeträger waren in einem besonders schlechten Zustand. «Wir haben uns entschieden, den Einhängeträger monolithisch mit dem Träger zu verbinden. Bei anderen Brücken haben wir den Einhängeträger auch schon ausgetauscht. Das wäre hier aufgrund der Vorgabe ‹Bauen unter Verkehr› nicht möglich», sagt de Luca.

Die Fuge wurde ausinjiziert, die Teilstücke der Fahrbahnplatte zusammenbetoniert und die Trägerstege auf der Innen- und Aussenseite mit vorgespannten Betonscheiben ergänzt bzw. verstärkt. So wurde die Brücke zu einem Durchlaufträger über sechs Felder. Mit dem Fugenschluss wurden zudem potenzielle Schwachstellen wie Undichtigkeiten in der Gerbergelenkfuge beseitigt und die Erdbebensicherheit verstärkt. Die Dauerhaftigkeit und die Redundanz des Tragwerks werden erhöht. Allerdings verändert sich durch die monolithische Verbindung der einzelnen Tragwerkselemente nun das statische System. Die Bewegungen aus Temperaturdifferenzen sind über die ganze Brückenlänge zu berücksichtigen und müssen bei den Wider­lagern aufgenommen werden. Deshalb werden die bestehenden Fahrbahnübergänge ausgebaut und durch Gleitfingerübergänge ersetzt.

Eleganz behalten

Die Verantwortlichen sind sich bewusst, welcher berühmte Bauingenieur die Brücke entworfen hat, doch die tägliche Baustellenarbeit beeinflusst dieses Wissen nicht. Hier geht es vor allem darum, die Probleme, die die damalige Bauweise mit sich bringt, normgerecht und technisch einwandfrei zu lösen – das heisst, die geringe Bewehrungsüberdeckung zu reprofilieren oder alten Beton mit neuem möglichst kraftschlüssig zu verbinden.

Bauwerk modernisieren

Unter Denkmalschutz steht das Viadukt Mühle Rickenbach nicht. «Wir bauen aber trotzdem im Sinn der Brücke», sagt Marcel Eisenring, Projektleiter beim Kanton St. Gallen und örtlicher Bauleiter. Das ist wiederum entspricht der Vorstellung von Christian Menn, der die Meinung vertrat, man solle den Projektverfasser, falls er noch lebt, bei einer Anpassung beiziehen und seine Erfahrungen nutzen. «Aber auch wenn er tot ist, sollte ihn jemand gleichsam vertreten.»[1]

«Natürlich werden die Massnahmen der Brücke ein neues Aussehen geben», sagt Eisenring. Die Brücke werde aber auch nach Abschluss der Bauarbeiten im Sommer 2020 ein elegantes Bauwerk sein. Dann jedoch modernisiert und aktualisiert in die Gegenwart transferiert.


Anmerkung:
[01] «Gleichgewicht ist einer der schönsten Begriffe», TEC21 37/2010, espazium.ch/de/aktuelles/christian.menn

7. Juni 2019 TEC21

Neuland

Seinen Fussgängersteg im Onsernonetal bezeichnete Christian Menn als Abschluss seiner Arbeit. Mit viel Einfühlungsvermögen hat er die Holzkonstruktion in der Schlucht platziert.

Christian Menn plante über 100 Brücken aus Beton – aber nur eine aus Holz: eine kleine Fussgängerbrücke im Onsernonetal, von der er sich wünschte, dass die Menschen sie als Teil seines Werks wahrnehmen würden. Die Brücke über den Isorno bei Niva unterhalb Loco ist Teil des historischen Verkehrswegs Via delle Vose, eines alten Säumerwegs im Tessin, der heute als Wanderweg genutzt wird. Eine Steinbogenbrücke, der ehemals einzige Übergang über den Talfluss ins Onsernonetal, wurde bei einem Hochwasser 1978 zerstört. Das Militär erstellte eine Gerüstbrücke, ein Provisorium, das Jahrzehnte bestand. Auf Initiative der schweizerischen Stiftung für Landschaftsschutz und einer Privatperson wurde die Planung einer neuen Brücke schliesslich in Angriff genommen und finanziert.

Bogentragwerk an exponierter Lage

In seinem Entwurf greift Christian Menn die Bogenform der ursprünglichen Steinbrücke auf, schlägt aber vor, das Tragwerk in Holz auszuführen. Eine Kombination aus einem für einen Fussgängersteg gern gewählten Material und der für das Tessin typischen Form einer Bogenbrücke. Seit 2016 ersetzt nun eine elegante Holzkonstruktion das Provisorium. Sie besteht aus zwei Bogenrippen, die beidseitig in Betonwiderlager ein­gespannt sind. Zwischen den Brettschichtträgen aus Lärchenholz sind mit Stahlwinkeln Holzplanken als Gehwegplatten befestigt. Damit die Trägerrippen nicht kippen, sind sie unter der Gehwegplatte mit Zugstangen untereinander ausgefacht.

Der Holzbau der 20 m langen und 2.44 m breiten Brücke wurde im Werk vorgefertigt. Ein Helikopter hob das 4.5 t schwere Element an seinen Platz. Angesichts des nur zu Fuss (30 bis 45 Minuten Wanderweg) erreichbaren Brückenstandorts war eine leichte, mit dem Helikopter versetzbare Brückenkonstruktion sicher von Vorteil.

Christian Menn konnte an der Einweihung im Frühjahr 2016 aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen und die Brücke auch später nicht mehr besuchen. In einem Interview sagte er dem «Tagesanzeiger», dass sie zwar klein sei und bloss Fussgängern diene: Doch dieses Brüggli sei der Abschluss seiner Arbeit. Er habe es schrecklich gern.[1]


Anmerkung:
[01] «Der Überbrücker», «Tagesanzeiger» vom 19. 7. 2018.

24. Mai 2019 TEC21

«Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied»

Nur ein Bruchteil der Betriebs- und Sicherheitsausrüstung (BSA) ist für den Nutzer eines Strassentunnels sichtbar. Die technischen Einbauten zu koordinieren erfordert Flexibilität und Koordinationsgeschick. Markus Leipert gibt einen Einblick aus Sicht des Bau­herrenunterstützers BSA.

TEC21: Herr Leipert, Sie unterstützen das Astra bei Neubau und Instand­setzung grosser Infrastrukturanlagen. Was sind Ihre Aufgaben bei der BSA-Planung?
Markus Leipert: Ich definiere die Anforderungen an die Installationen, die den Tunnel für Benutzerinnen und Bewirtschafter sicher und funktional machen. Ein Spagat zwischen betrieb­lichen Anforderungen, fachlichen Vorgaben und baulichen Randbedingungen.

TEC21: Was heisst das konkret?
Markus Leipert: Bei der Instandsetzung eines Strassenabschnitts interessiert die Baufachleute zunächst, welche Teile erneuert werden müssen: Brücken, Stützmauern, Beläge, Kanalisationen. Daraus werden der Ablauf und die Randbedingungen definiert. BSA-seitig muss man dann entscheiden, ob es eine umfangreiche Erneuerung braucht oder ob punk­tuelle Eingriffe ausreichen. Unsere Aufgabe ist es, der Bauherrschaft einen Variantenfächer mit Lösungen aufzuzeigen.

TEC21: Das heisst, zunächst werden die baulichen Randbedingungen definiert, und erst dann kommen die BSA-Planer zum Zug?
Markus Leipert: Die BSA ist aufgrund der Kleinteiligkeit trotz der vielen Abhängigkeiten flexibler im Ablauf. Der Bau ist vergleichsweise träger. Das Bauprojekt an sich ist meist über einen exakten Perimeter abgegrenzt. Die Massnahmen der BSA sind selten in sich geschlossen. Das bedeutet, dass man über die Grenzen resp. planerischen Schnittstellen hinausschauen und dabei auch übergeordnete Systeme wie das Verkehrsleitsystem oder Transitleitungen einbeziehen muss. Die BSA macht nur 10 bis 15 % der Bausumme aus, trotzdem tangiert sie alles.

TEC21: Gibt es weitere Unterschiede?
Markus Leipert: Die Lebensdauer der Anlagen ist der grösste Unterschied. Während zum Beispiel für den baulichen Teil eines Tunnels Nutzungsdauern über 50 Jahre üblich sind, sprechen wir bei den BSA-Anlagen von einer Lebensdauer zwischen 10 und 30 Jahren. Was zur Folge hat, dass der BSA-Planer in der Regel etwa 50 % an baulichen Reserven in Hinblick auf die Erneuerung vorsieht.

TEC21: Sie sprechen von halb leeren Technik­räumen oder unvollständig belegten Kabelrohrblöcken. Wofür werden diese Reserven gebraucht?
Markus Leipert: Wenn die BSA erneuert wird, geschieht dies unter Betrieb und unter Berücksichtigung der übergeordneten Systeme. Das heisst, bevor man die alten Anlagen herausnehmen kann, müssen die neuen eingebaut werden. Obwohl Anlagen durch den technologischen Fortschritt tendenziell kleiner werden, bleiben einzelne Elemente, zum Beispiel Kabel, gleich gross und werden oft zahlreicher.

TEC21: Wie gestaltet sich die alltägliche Zusammenarbeit?
Markus Leipert: In der Ausführung setzen Bau und BSA oft andere Prioritäten. Nehmen wir das Beispiel der Erneuerung einer Rohranlage inkl. Schachtbauwerken: Fehlt bei einem Schacht noch ein kurzes Verbindungsstück – ein geringer Aufwand aus baulicher Sicht –, ist die Aufgabe für den Bau zu 99 % erfüllt. Für die BSA können dadurch aber die Arbeiten ­komplett blockiert sein, da die Kabel nicht in einen un­voll­ständigen Rohrblock eingezogen werden können. Zu Verständnisproblemen kommt es im Übrigen nicht nur zwischen BSA und Bau, auch innerhalb der BSA kommt es durchaus zu Missverständnissen. So funktioniert die Lüftungsplanung nach eigenen Regeln – ganz anders als der Bau und die Elektroplanung.

TEC21: Wie gelingt die Zusammenarbeit trotz aller Unterschiede?
Markus Leipert: Wichtig ist Verständnis für den jeweils anderen und die unterschiedlichen zu beachtenden Randbedingungen und Eckwerte. Zudem hilft es allen, sich genügend Zeit zu nehmen für gegenseitige Erklärungen. Allgemein braucht ein BSA-Planer Erfahrung, um die baulichen An­forderungen zu definieren und die Be­­dürf­nisse der BSA kommunizieren zu können. Gegenseitige Kenntnisse in den be­tei­lig­ten Disziplinen sind dabei von Vorteil. Und die lernt man nicht im Studium, sondern in der Projekt­arbeit.

24. Mai 2019 TEC21

«Frühzeitig miteinander zu reden ist zentral»

Von einem Strassentunnel wird erwartet, dass seine Nutzer sowohl im Normal- als auch im Ereignisfall sicher sind. Das zu erreichen erfordert viel Feingefühl bei der Abstimmung zwischen BSA- und Baufachleuten.

TEC21: Frau Winter, Sie betreuen Instandsetzungen von Strassentunneln. Wo sind Ihre Schnittstellen zu den Planern der Betriebs- und Sicherheitsaus­rüstung?
Angela Winter: Bei einer Instandsetzung ist die Zu­sammenarbeit mit den Fachleuten der BSA deutlich intensiver als bei einem Neubau. Wir müssen gemeinsam entscheiden, was in der jeweiligen Situa­tion baulich möglich und technisch sinnvoll ist. In einem Tunnel, der vor 30 Jahren erstellt wurde, ist oft nur wenig Platz für zusätzliche Ein- oder Umbauten.

TEC21: Von Ihnen wird eine sachgemässe Dimensionierung erwartet. Wie gehen Sie vor, um festzulegen, was gemacht wird?
Angela Winter: Die BSA-Fachleute geben uns an, welche Elemente sie nach Norm benötigen, um einen sicheren Betrieb gewährleisten zu können. Das sind einige Anlagen mehr als noch vor wenigen Jahren, und für jedes zusätzliche Kabel braucht es ein Leerrohr für einen möglichen späteren Austausch unter Betrieb. Wir prüfen dann, wie viel Platz für zusätzliche Leerrohre, Kabelblöcke etc. zur Verfügung steht. Einen Konflikt im Fahrraum kann es zum Beispiel geben, wenn wir die Fahrbahnbreite einhalten müssen, die benötigte Anzahl Kabelschutzrohre aber eine Verbreiterung des Banketts verlangt.

TEC21: Wie wird man sich in einem solchen Fall einig?
Angela Winter: Wir nähern uns in einem iterativen Prozess an und suchen nach einem Kompromiss. Den endgültigen Entscheid trifft aber die Bauherrschaft. Nicht immer kann die Norm zu 100 % eingehalten werden.

TEC21: Gibt es Beispiele, die zeigen, dass es eine gute Abstimmung braucht, obwohl die Zuständigkeiten in den Dokumenten der Bauherrschaften eigentlich umfassend geregelt sind?
Angela Winter: Es sind oft kleinere Sachen, die aber den Bau verzögern können. Allen ist zum Beispiel klar: Der Bauunternehmer öffnet den Graben, die BSA-Spezialisten verlegen die Kabel. Wer jedoch für die Hüllrohre verantwortlich ist und wann diese im Projekt­ablauf zur Verfügung stehen müssen, wird von Projekt zu Projekt unterschiedlich gehandhabt. Oft sind es die BSA-Fachleute, die flexibel auf Ände­rungen im Bauablauf reagieren. Das muss man anerkennen.

TEC21: Könnte BIM helfen, von vornherein auch an die kleinen Dinge zu denken?
Angela Winter: BIM ist kein Allheilmittel. Trotzdem ist es sicher hilfreich, eine Methode zu haben, die die Ko­­­­­­or­dination unterstützt. Heute arbeiten wir mit ver­schie­denen Plänen: je einen für die Löschwasser­leitung, die Entwässerung, die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, oft in unterschiedlichen Mass­stäben oder als Schema, sodass man sie nicht sinnvoll über­einanderlegen kann. Man hat also einen erheblichen Mehraufwand, um alle Informationen zu sammeln und kompatibel aufzubereiten. Ein digitalisierter Bestand wird in jeder Projektphase Erleichterungen bringen.

TEC21: Haben Sie schon Erfahrungen mit BIM? Wie wird sich die Arbeit verändern?
Angela Winter: Mit BIM müssen wir im Tunnelbau von der Achse ausgehen. Bisher hat man vom Querschnitt her gedacht. Das Arbeiten im 3-D-Modell ist eine Umstellung, aber dass sich Arbeitsmethoden ändern, gibt es immer wieder. Das Verständnis für die andere Dis­ziplin ist weiterhin ein entscheidender Aspekt für die Zusammenarbeit.

24. Mai 2019 TEC21

Zwischen Programmieren und Konstruieren

Ein BIM-Pilot für die Betriebs- und Sicherheitsausrüstung ­begleitet die ­konventionelle Planung des neuen Tunnels Bypass Luzern. Technisch ist die Baubranche auf gutem Weg. Bis sich BIM im ­Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch.

Es hat sich viel getan in den letzten zehn Jahren. BSA- und Baufachleute haben sich angenähert. «Das Verständnis für die jeweils andere Disziplin, für deren Anforderungen und Bedürfnisse ist in der Projektarbeit deutlich gestiegen», sagt Christian Eugster, Leiter Versorgungstechnik bei Basler & Hofmann. BIM als Motivation für eine bessere Kommunikation war also nicht der primäre Grund, ein Pilotprojekt für die Verkehrstechnik zu lancieren. Für Teile des neuen Tunnels Bypass Luzern erarbeitete Basler & Hofmann im Rahmen eines internen Pilotprojekts parallel zur konventionellen Planung ein ­BIM-Modell.[1] Christian Eugster glaubt an die BIM-Methode. «Wir müssen uns vorbereiten», sagt er. «BIM ist nicht billiger und nicht schneller, aber die Qualität steigt. Wir arbeiten mit stabilen Daten. Die Koordination zwischen den Gewerken wird einfacher, und Fehler werden insgesamt weniger.»

Luzern vom Verkehr befreien

Wie vielerorts im Schweizer Nationalstrassennetz hat auch die A2 bei Luzern ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Um die heutige Achse vom Transitverkehr zu entlasten, wird zwischen den Anschlüssen Buchrain und Hergiswil ausgebaut.[2] So soll es möglich werden, den Individualverkehr in der Stadt zu verflüssigen und den öffentlichen Verkehr zu priorisieren.

Derzeit wird das Ausführungsprojekt bearbeitet; die Projektauflage ist für Frühjahr 2020 geplant. Sobald der Genehmigungsprozess mit allen Konsequenzen abgeschlossen ist, soll rund zwölf Jahre lang gebaut werden.

Beginn wäre nach heutigem Stand frühestens 2024. Aufgeteilt ist das Projekt «Gesamtsystem Bypass Luzern» in vier Baulose sowie ein Teilprojekt Umwelt und ein Teilprojekt Betriebs- und Sicherheitsausrüstung, die beide jeweils den ganzen Perimeter umfassen. Innerhalb des Gesamtprojekts gilt der Tunnel Bypass Luzern als Kernstück. Der Neubau seiner drei Technikzentralen und Teile der Tunnelröhre werden parallel zur konventionellen Planung mit BIM modelliert. Dazu übernimmt Basler & Hofmann die Grundlagen aus der 2-D- beziehungsweise 3-D-Planung der «IG ByTuLu».

Konventionell und parametrisch

Die drei neuen Zentralen werden als statisches Modell abgebildet, d. h., die Konstruktion setzt sich aus einzelnen, informierten Elementen zusammen. Muss eine Raumaufteilung verändert werden, werden die Elemente im Modell manuell verschoben.

Bei den Tunnelabschnitten handelt es sich hingegen um ein parametrisches Modell, das sich an der Tunnelachse orientiert. Die Querschnittselemente werden mathematisch beschrieben. Die normgerechte Posi­tionierung der BSA-Elemente entlang der Achse wird pro gleichartigem Abschnitt in einer Datenbank generiert. Das heisst, alle Ausrüstungsgegenstände haben einen relativen Bezug zur Tunnelachse. Ändern sich der Tunnelquerschnitt oder die Ausrüstungselemente, wird die gesamte Anordnung neu generiert. Gegenüber der konventionellen Planung findet die Projektierung also in einer Datenbank und nicht in einem Planungsmodell mit grafischer Oberfläche statt – es wird hauptsächlich programmiert, nicht konstruiert. Die Ausgabe eines Plans (2-D oder 3-D) wird als grafische Auswertung des Datenbankmodells verstanden. Bewerkstelligt wird die BIM-Planung mit einem Revit-Modell, die Automatisierung von sich wiederholenden Arbeitsschritten (z. B. die Anordnung der Querschnittselemente) erfolgt mittels Dynamo-Script. So entsteht eine sechsdimensionale BIM-
­Planung; derzeit auf Fertigstellungsgrad LoD 200/3003.

Infrastrukturprojekte haben in der Regel eine lange Projektierungszeit. Es ist auch noch nicht klar, ob und wann der Tunnel Bypass Luzern tatsächlich gebaut wird. Können die Beteiligten trotzdem schon etwas aus dem BIM-Pilotprojekt mitnehmen? «Wir konnten Erfahrungen sammeln und die Ergebnisse nun als konzep­tionelle Grundlage für andere Projekte nutzen», sagt Christian Eugster. Am Anfang sei die Planung mit BIM sehr aufwendig und zeitintensiv gewesen.

Eine Umstellung für alle Beteiligten sei auch, dass Ent­scheidungen deutlich früher als im konventionellen Planungsprozess getroffen werden müssen. Sind diese Entscheidungen allerdings gut überlegt und fliessen sie rechtzeitig ins Modell ein, entsteht gegen Ende des ­Projekts weniger Aufwand als bisher.

Für Christian Eugster wird dennoch auch die Bauphase interessant sein. Dabei gehe es nicht nur darum, die Modelle zum Beispiel als Montageunterstützung einzusetzen, sondern auch um den umgekehrten Weg: die Informationen von der Baustelle zu erhalten und diese weiter zu nutzen. So sollte es laufend möglich sein, den aktuellen Arbeitsstand, Materialverbrauch etc. abzufragen und Fehler in der abschliessenden Doku­mentation zu vermeiden. Diese Vorteile gelten natürlich auch für die Bauherrschaften, die zum Beispiel ständig über den aktuellen Kostenstand und die Termin­einhaltung informiert sind.

Digitale Daten maximal nutzen

Auf die verschiedenen Bau- und Verkehrsphasen und oft vielen BSA-Provisorien bei grossen Infrastrukturprojekten angesprochen, erläutert Christian Eugster: «Wir fokussieren im Moment auf ein Objekt, um Schritt für Schritt herauszufinden, welche Daten wir brauchen und welches Vorgehen sinnvoll ist.» Zunächst ist es von Vorteil, wie im Fall Tunnel Bypass mit einem Neubau zu beginnen, da sonst bereits an erster Stelle die Frage steht, ob die bestehenden Elemente aufgenommen ­werden bzw. in welcher Tiefe sie im Modell abgebildet werden müssen. Ähnlich verhält es sich mit den wechselnden Bau- und Verkehrsphasen und den damit verbundenen Provisorien oder redundanten Systemen.

Weitere Punkte, die noch zu klären sind, sind die Einbindung der Modelle auf Objektebene in die übergeordneten Transitleitungen und die Übertragung der parametrisierten Projektdaten in die Erhaltungssysteme der Infrastruktureigentümer. Letztere sind hier gefordert.[4] Sie müssen herausfinden, welche Daten sie in welcher Phase benötigen. «Die Bauherrschaften sind noch nicht so weit, dass es klare Vorgaben an die Planer gibt, das heisst, es sind weder verbindliche Programme vorgeschrieben noch die Tiefe der Datenangaben definiert», sagt Christian Eugster. Die technische Umsetzung der Zielvorgaben aus der digitalen Strategie scheint für ihn machbar zu sein, wobei generell auf die Planungsbüros grössere Herausforderungen zukommen werden, da parallel zum heutigen Mitarbeiterbestand Kompetenz im Bereich der Informatik aufgebaut werden muss. Bis sich aber ein «neuer» Planungsprozess etabliert hat, dauert es wahrscheinlich noch einige Jahre.


Anmerkungen:
[01] Ein offizielles BIM-Pilotprojekt wurde vom Astra erstmals beim Gotthard-Strassentunnel ausgeschrieben. Neben der konventionell erfolgenden Gesamtplanung werden eine Zentrale sowie ein 1 km langer Muster­abschnitt des Tunnels als BIM-­Objekte geplant.
[02] www.bypasslu.ch
[03] Fertigstellungsgrade: LoD 100 konzeptionelle Darstellung, LoD 200 Dimension und Grösse massgeblicher Bauelemente, LoD 300 ausschreibungsreife Angaben mit Spezifikationen, LoD 400 fabrikationsreife Ausführungsplanung, LoD 500 Dokumentation des ausgeführten Elements.
[04] Das «BIM-Labor» des Astra führt gegenwärtig
Planungstests mit verschiedenen Plattformen und Programmen durch. Der Fokus liegt dabei auf einer 3-D-BIM-Planung mit informierten Objekten. Ziel ist, Erfahrungswerte zu sammeln und parametrisierte Projektdaten für eine spätere Übernahme in die eigenen Erhaltungssysteme zu strukturieren.

9. November 2018 TEC21

Geteilte E-Mobilität

Carsharing, Elektromobilität, Energiemanagement: Im Basler Areal Erlenmatt Ost soll in einem Pilotprojekt alles kombiniert werden. Während der Umsetzungsphase 2019 wird das Projekt wissenschaftlich begleitet, um reale Daten zum Nutzerverhalten oder zur Arealoptimierung zu erhalten.

Heute funktioniert das Laden eines Elektroautos meist noch nach dem einfachen Prinzip: Stecker in die Dose, Ladevorgang startet. Grundsätzlich eignen sich E-Fahrzeuge bzw. deren Batterien aber auch dafür, erneuerbaren Strom aus Photovoltaik oder Windkraft zwischenzuspeichern. Beim sogenannten bidirektionalen Laden wird das Elektroauto durch eine Steuerung intelligent geladen und bei Bedarf entladen (vgl. Abb.). Dadurch könnten Schwankungen im Stromnetz z. B. eines Gebäudes oder Areals ausgeglichen werden.

Hinter dem Projekt OKEE steckt genau dieser Gedanke: die Vernetzung und Optimierung der Bereiche Elektrizität, Wärmeversorgung und Verkehr, eine sogenannte Sektorkopplung zwischen den Sektoren Gebäude und Mobilität. Das Institut für Nachhaltige Entwicklung (INE) der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und novatlantis haben das Projekt auf dem Areal Erlenmatt Ost in Basel initiiert und setzen es in einem Projektkonsortium gemeinsam um. Als Partner beteiligen sich die ADEV-Energie­genossenschaft und die Stiftung Habitat. Sie alle sind an der praktischen Erprobung von Lade- und Eigenverbrauchslösungen für und mit Elektromobilität in grös­seren Arealen interessiert, sodass erstmals in der Schweiz ein komplexes Vehicle-to-Home-Pilotprojekt (V2H) mit einem Carsharing-Konzept kombiniert wird.

Derzeit gibt es noch viele technische und organisatorische Hindernisse bei der Umsetzung eines solchen ­Konzepts. Überhaupt ein geeignetes Areal zu finden war für die Projektverantwortlichen von OKEE eine grosse Herausforderung. Viele Anfragen scheiterten zum ­Beispiel an unterschiedlichen Planungshorizonten oder an ­fehlender Innovationsbereitschaft.

Glaubwürdiges Pilotprojekt

Nach intensiver Suche ergab sich der Kontakt zu den Verantwortlichen des Areals Erlenmatt Ost. Es zeigte sich, dass das Areal technisch für die Umsetzung der Sektorkopplung geeignet ist und die Schlüsselpersonen der ADEV-Energiegenossenschaft und der Stiftung Habitat grosses Interesse an diesem Pilotprojekt und der Zusammenarbeit haben. Das Areal Erlenmatt Ost wurde nach den Zielsetzungen der 2000-Watt-Gesellschaft entwickelt. Viele Gebäude entsprechen dem Standard Minergie-P-Eco, und alle sind mit PV-Anlagen auf den Dächern ausgestattet. So wird ein Grossteil des benötigten Stroms vor Ort produziert. Alle Gebäude bilden bereits heute eine Eigenverbrauchsgemeinschaft (EVG) mit ca. 400 Kunden (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»).

Die Bewohner und Bewohnerinnen verpflichten sich via Mietvertrag zur EVG. Hier gibt es klare Kri­terien bezüglich Wohnfläche, Energieverbrauch und Mobilität. Das Quartier ist autoarm, entsprechend rar sind Parkplätze auf dem Gelände oder in der Tiefgarage. Konkret heisst das, pro zehn Wohnungen gibt es einen Parkplatz. Eine gute Ausgangslage, um mit der geteilten E-Mobilität den Nutzern einen Mehrwert anzubieten.

Seit Oktober 2018 steht ein Nissan Leaf in der Tiefgarage auf einem speziell ausgewiesenen Parkplatz und wird über eine bidirektionale Ladesäule mit arealeigenem Strom versorgt. Als eines der wenigen Elektro­fahrzeuge beherrscht dieses Auto die Vehicle-to-Grid-Technologie (V2G). Das heisst, die Batterie, ein 40-kWh-­Lithium-Ionen-Akku, kann auch wieder Strom ins Netz einspeisen. Sollte die Stromeigenproduktion auf dem Areal einmal nicht ausreichen, um das Fahrzeug zu laden, wird es vom übergeordneten Netz versorgt. Der Strom in Basel-Stadt stammt ausschliesslich aus erneuerbaren Energien, was für die Glaubwürdigkeit des Pilotprojekts und die Nutzung eines E-Autos zentral ist.

Im Gegensatz zu öffentlichen Carsharing-Modellen können ausschliesslich Personen, die auf dem Areal wohnen oder arbeiten, das Fahrzeug nutzen. Das Auto zu laden ist nicht komplizierter als Kraftstoff zu tanken. Ansonsten gelten die üblichen Regeln im Umgang mit Carsharing. Selbstverständlich muss das Auto rechtzeitig – mit Zeitpuffer zum Aufladen – zurückgebracht und an der Ladestation geparkt werden. Wenn die Batterie «ganz leer» ist, dauert das Laden sechs bis acht Stunden.

Bei einer durchschnittlichen Fahrleistung von ca. 40 km pro Tag dürften Ladezeiten zwischen drei und vier Stunden täglich ausreichen. Abgerechnet wird nach Mietdauer und gefahrenen Kilometern. Ein bestehendes Buchungs- und Abrechnungssystem wurde an die speziellen Rahmenbedingungen angepasst, sodass die Berechtigten via App oder Homepage das Auto ­buchen können.

Ab Anfang 2019 können die Bewohner zusätzlich auf einen Siebensitzer bzw. Transporter, einen Nissan Evalia, zurückgreifen, der als zweites Fahrzeug in das Projekt aufgenommen wird. Welches Fahrzeug für die Bewohnerinnen den meisten Nutzen bringen würde, wurde mithilfe einer Online-Umfrage eruiert.

Richtiger Anschluss, passender Stecker?

Bisher sind keine Standardprodukte vorhanden. «Aus ähnlichen Pilotprojekten in anderen Ländern sind keine Standardprodukte hervorgegangen», sagt Anna Roschewitz, Geschäftsführerin von novatlantis und Projektleiterin von OKEE. So exisierten auch immer noch unterschiedliche Systeme bei Steckern und Ladesta­tionen. Bei Neu- und Umbauten empfiehlt es sich daher, an geeigneten Standorten Leerrohre und Fundamente und für allfällige Änderungen genügend Platzreserven einzuplanen. Für eine eventuelle grössere Fahrzeug­flotte könnte die Tiefgarage auf dem Areal Erlenmatt Ost mit weiteren bidirektionalen Lade­stationen aus­gestattet werden.

Daten aus dem Alltag

Das Pilotprojekt wird für ein Jahr wissenschaftlich begleitet. Die realen Pilotdaten stellen – anders als Daten auf Basis von Annahmen – einen Datenschatz dar, um zahlreiche technische und organisatorische Fragen zu beantworten. Offene Fragen haben die Projektpartner viele: Welche Erfahrungen ergeben sich aus der Zusammenarbeit der Beteiligten? Wie sieht das Mobilitätsverhalten der Nutzerinnen und Nutzer aus? Wann stehen die mobilen Speicher für die Arealoptimierung zur Verfügung? Wie funktioniert die technische Einbindung der beiden bidirektionalen Elektroautos in das Energiemanagementsystem der Überbauung? Wie kann durch eine smarte Ladeplanung und die Beeinflussung des Nutzerverhaltens durch ein Tarifsystem der Eigenverbrauchsanteil erhöht werden? Lassen sich durch die Integration von Elektroautos in das Energiemanagementsystem des Areals neue Geschäftsmodelle identifizieren? Und können diese Erkenntnisse auf andere Areale oder Gemeinden übertragen werden? Welchen übergeordneten Beitrag leistet das Pilotprojekt für ­weitere Anwendungen in Basel und der Schweiz?

Um die Daten breiter abzustützen und festzustellen, ob und wie sie auf andere Überbauungen übertragbar sind, suchen die Verantwortlichen weitere Areale, in denen das Konzept angewendet werden kann. «Wenn jemand Interesse hat, sind wir gern zu einem Informationsgespräch bereit», betont Anna Roschewitz. Für Arealbetreiber und Eigenverbrauchsgemeinschaften, aber auch schon für Mehrfamilienhäuser könnte die geteilte E-Mobilität durchaus ein interessantes Modell sein.


Eine Übersicht, wie sich elektrische Energie speichern lässt, findet sich in TEC21 14–15/2017.

7. September 2018 Tina Cieslik
TEC21

Risse, fein verteilt

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Das Dach des Mitte der 1960er-Jahre erstellten Mariendoms in Neviges nördlich von Wuppertal besteht aus vielen unterschiedlich geneigten Flächen, aus Spitzen, Kanten und Kehlen. Der Bau ist ein räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, ohne äussere Abdichtung und ohne Dachein­­de­ckung (vgl. «Heilsversprechen in Beton»). In den letzten Jahrzehnten stellten Exper­ten verschiedene Rissschäden im Stahlbetondach fest. ­

Betroffen sind vor allem die Kehlen, die Übergänge von Wand zu Dach, kompliziert gestaltete Eckbereiche, ­ebene Dachflächen sowie die Arbeitsfugen. Durch feine Risse dringt Wasser ins Innere der denkmalgeschützten Kirche. Ansonsten ist der Bau, der seinerzeit mit wasserundurchlässigem Beton (WU-Beton) mit hohem ­Zementanteil und grosszügiger Bewehrung erstellt ­wurde, in gutem Zustand. In erster Linie geht es bei der aktuellen In­standsetzung also darum, das Dach gegen das Eindringen von betonangreifenden oder korro­sionsfördernden Stoffen zu schützen.

Das Problem ist nicht neu: Das Dach des Ma­riendoms war von Anfang an undicht. Mitte der 1980er-Jahre brachte man eine flächige Beschichtung auf Epoxidharzbasis auf. An einigen undichten Kehlbereichen wurde der Beton gegen PCC-Mörtelplomben ausgetauscht. Das löste das Problem nur temporär, denn die starre Harzschicht machte die thermischen Ver­formungen des Dachs nicht mit und löste sich vom Untergrund. Anfang des neuen Jahrtausends war klar, dass etwas passieren musste, bevor die Bewehrung korrodieren würde.

Gegen Wasser schützen

Zunächst dachte die Bauherrschaft an eine Bleideckung, wie sie im Entwurf von Gottfried Böhm auch vorgesehen war. Dieser Ansatz wurde aber verworfen, weil der vergleichsweise hohe Aufbau von rund 10 cm in den Verschneidungen, in denen teilweise bis zu vier verschieden geneigte Schrägflächen aufeinandertreffen, zu grossen Aufbauten geführt hätte. Die Idee, lediglich die Epoxidharzschicht zu entfernen, die am schlimmsten beschädigten Stellen abzudichten und den Bau dann jährlich zu warten, war wegen der aufwendigen Einrüstung und Einhausung für die Bauherrschaft keine Option.

Das Gerüst ist auch bei den aktuellen Arbeiten die Krux und der grösste Kostentreiber. Wegen der exponierten Lage und der besonderen Bauwerksgeometrie sind aufwendige Gerüste, Zuwegungen und Transporthilfen erforderlich. Zudem finden die Arbeiten – bis auf die finale Decklage – jeweils abschnittsweise von oben nach unten statt, d. h., das Gerüst muss jeweils verschoben und neu den geneigten Flächen angepasst werden. Um die zu bearbeitenden Flächen jederzeit vor- oder nachbehandeln zu können und vor erneuter Verschmutzung während der Mörtelaufträge zu schützen, sind umfangreiche Massnahmen nötig, beispielsweise das zeitweise Beheizen des Schutzzelts bei Temperaturen unter 5 °C.

Selbstheilung durch Verfeinerung

Die wasserführenden Risse einfach mit Mörtel zu verpressen ist nicht möglich, da die Dachkonstruktion aufgrund Temperaturbeanspruchung ständig in Bewegung ist. Eine feine Rissverteilung soll Abhilfe schaffen. Es wurde ein Instandsetzungskonzept mit carbon­bewehrtem Spritzmörtel entwickelt – die Idee dazu stammte von Gottfried Böhms Sohn Peter, der die Arbeiten mit seinem Architekturbüro begleitet. Mit dieser Schutzschicht sollen die sich zyklisch öffnenden Einzelrisse in ein fein verteiltes und damit unschädliches Rissbild im Instandsetzungsmörtel überführt werden. Die Rissbreite wird reduziert und ist somit nicht mehr wasserführend.

Die an den Arbeiten beteiligten Experten des Instituts für Bauforschung der RWTH Aachen schlugen vor, eine 28 mm dicke Mörtelschutzschicht (eingebracht in drei Lagen) flächig zu applizieren und jeweils dazwischen eine textile Bewehrung aus Carbon auf den Dachaussenflächen aufzubringen. Zusammen mit der abschliessenden äusseren Decklage beträgt die Dicke des Schutzsystems ca. 35 mm. Zudem empfahlen sie, jeden Riss zunächst mit einem Enthaftungsstreifen vorzubehandeln. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Einzelriss durch die Schutzschicht fortsetzt.

Die aufgebrachte Schicht wirkt wie eine flächige Beanspruchung auf das Faltwerk. «Wir sprechen hier von zusätzlich ca. 80 kg pro m2», sagt Sergeij Rempel, der das Projekt an der RHTW Aachen begleitete. Trotz der Zunahme der ständigen Belastung bleibt das Dach gemäss der statischen Untersuchung ohne weitere Massnahmen tragfähig. Rempel geht von einer Nutzungsdauer der carbontextilbewehrten Schutzschicht von ca. 100 Jahren aus.

Keine Korrosion dank Carbontextil

Da Carbontextil nicht korrosionsanfällig ist, kann es oberflächennah angeordnet werden und eignet sich somit besonders für dünne Bauteile. Lediglich wenige Millimeter sind zur Sicherstellung der Verankerungskräfte erforderlich. Das im Projekt eingesetzte Carbontextil besteht aus haardünnen Filamenten (Durchmesser rund 7 µm). Mehrere tausend dieser Filamente werden zu Fasersträngen gebündelt und anschliessend zu netzartigen Textilien verarbeitet. Die Textilien werden im Werk mit Epoxidharz getränkt, ausgehärtet und besandet, um eine höhere Bruchspannung des Mate­rials zu erreichen und, so die Hoffnung der Experten, dadurch eine noch feinere Rissverteilung zu erreichen.

Das Institut für Bauforschung der RWTH ­Aachen testete die textile Bewehrung in Kombination mit dem ausgewählten Spritzbeton über Jahre, denn nur mit ausreichend Erfahrung konnte das Instandsetzungskonzept auf den Mariendom in Neviges adaptiert werden. Es wurden sowohl experimentelle Unter­suchungen durchgeführt, bei denen nachzuweisen war, dass die Risse fein genug bleiben, als auch theoretische Tests, um zu zeigen, dass sich die neue Schutzschicht nicht vom Altbeton löst. Weitere Versuche legen nah, dass man die Textilien und den Mörtel bei einem möglichen Rückbau trennen könnte. «Man könnte sogar das Textil anschliessend erneut verwenden», ist Sergeij Rempel überzeugt.

Probefläche instand gesetzt

Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, beauftragte die Bauherrschaft ein Unternehmen, eine Teil­fläche instand zu stellen. Gewählt wurde das Dach über der Sakramentskapelle. «Aus meiner Sicht ist das die schwierigste Stelle der Konstruktion», meint Sergeij Rempel.

Nach der Einrüstung und Einhausung der zu bearbeitenden Fläche wurde diese auf Schäden, Fehlstellen und Risse untersucht und kartiert. Zum Auftrag der carbontextilbewehrten Schutzschicht und der Enthaftungsstreifen im Bereich der Risse wurden die Betonflächen mit festem Strahlmittel tragfähig vorbereitet. Dazu wurden alle minder festen Schichten und alle trennend wirkenden Substanzen entfernt. Die vorhandene Epoxidharzbeschichtung und -spachtelung aus den 1980er-Jahren wurde abgetrennt – und erwies sich als erstaunlich hartnäckig: Obwohl sie sich stellenweise vom Untergrund gelöst hatte, liess sie sich komplett nur mit deutlich höherem Aufwand als ursprünglich gedacht entfernen. Poren und Lunker wurden geöffnet, bis das mittlere Korngefüge des Beton­untergrunds sichtbar freigelegt war.

Die markierten Bauteilrisse wurden mittig mit einem 18 cm breiten, elastifizierten, mineralischen Spachtel überdeckt, dem sogenannten Enthaftungs­streifen. Anschliessend wurden die steifen, vorab zugeschnittenen Textilien jeweils unmittelbar an die noch frische Zwischenmörtelschicht angelegt, aus­gerichtet, fixiert und mit Trockenspritzmörtel kraftschlüssig eingebettet. Darauf folgte die zweite Schicht aus Textilbewehrung, bevor die Deckschicht und die Hydrophobierung folgten.

Die verwendete Textilbewehrung lässt sich nur noch in geringem Mass verformen. Deshalb mussten für die Bewehrung der zahlreichen Kehlen, Ecken, Grate und Kanten besondere Formteile im Werk vor­gefertigt werden. In den Bereichen horizontaler oder schwach geneigter Flächen wurden die textilbewehrten Schutzmörtel analog, jedoch händisch eingebaut. Um die Ausführung beurteilen zu können, zogen die Forscher Bohrkerne aus den instand gesetzen Flächen. Dazu wurde ein Prüfstempel mit einem Durchmesser von 50 mm verwendet. Die zugehörige Bohrtiefe betrug 55 mm, sodass der Schnitt bis in den Altbeton reichte.

So wurden die Oberflächenzugfestigkeit und die Abreiss­festigkeit zwischen den Schichten ermittelt. Die mittleren Werte der Abreissfestigkeit lagen deutlich über dem geforderten Wert von 1.5 N/mm2. Die Experten der RWTH Aachen waren vor Ort und kontrollierten während des Spritzens die Schichtdicken und die Ebenflächigkeit. Zum lagegerechten Einbau der Carbonbewehrung waren lediglich Toleranzen von 3 mm zulässig. Ihren guten Eindruck der Ausführung bestätigten die gemessenen Werte, die innerhalb der Sollwerte lagen.

Was ist Original, was Interpretation?

Neben den technischen Eigenschaften der neuen Schicht lag ein Hauptaugenmerk auf deren Erscheinungs­bild: Immerhin gilt der geschützte Bau als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur, und auch sein Erschaffer, der hochbetagte Architekt Gottfried Böhm, musste mit der Ausführung einverstanden sein.

Nach der Instandsetzung sollen die horizontale originale Schalbrettstruktur und die ursprüngliche Farbe des Altbetons sichtbar sein. Um den rötlichen Farbton zu erhalten, wurden dem Ausgangsmörtel Pigmente (Eisenoxid, Titanoxid) beigemischt. Die Oberflächenstruktur erzeugten die Arbeiter manuell: mit Reibebrett und Glättkelle – ein Vorgehen, das die Denkmal­pflege nicht begrüsste, da es sich dabei nicht um Herstellungsspuren handelt, sondern um ein nachträglich appliziertes Muster. Die Bauherr­schaft konnte sich hier aber durchsetzen: Zum einen strukturiert die Schalungstextur die neu sehr hellen Flächen, zum anderen kaschiert sie leichte Unregelmässigkeiten der neuen Schicht. Die neue, 35 mm dicke Schutzschicht beeinflusst die äussere Form des Bauwerks übrigens nicht – bei Dimensionen von 50 m Höhe und 37 m Breite sowie im Kontext der bewegten Dachlandschaft fällt ihre Höhe visuell nicht ins Gewicht.

Mehr zu reden gab in diesem Zusammenhang die helle Farbe des instand gesetzten Dachs. Tatsächlich wirkt sie im Vergleich zu den noch unbehandelten Flächen sehr sauber, doch der optische Trick mit der Schalungsstruktur funktioniert, und die Pigmente sorgen für ein fast samtiges Aussehen. Ungewohnt hingegen ist die plötzliche scharfe farbliche Trennung von Dach und Wandflächen; ein Effekt, den Gottfried Böhm aller­dings ausdrücklich befürwortet und der in den Entwürfen für den Dom auch immer abgebildet wurde. Inwiefern diese Trennung die plastische Form des Baus, der sich gerade durch die Einheit von Wand und Dach auszeichnet, beeinflusst, lässt sich erst sagen, wenn das ganze Dach renoviert ist. Die Bauherrschaft geht davon aus, dass das Dach allmählich Patina ansetzen wird. Eine Dampfdrucksäuberung der Wände ist angedacht, allerdings würde auch dann ein deutlicher Farbunterschied zwischen Wand- und Deckenflächen sichtbar bleiben.

Der nächste Schritt

Seit Anfang Juni 2018 bereitet die beauftragte Unternehmung die nächste Teilfläche für die Instandsetzung vor, die «Pyramide Nähe Altar» (%%gallerylink:42482:vgl. Dachaufsicht%%) mit 800 m². Das Vorgehen des ersten Teilabschnitts wollen die Beteiligten beibehalten, auch wenn es vonseiten der Bauherrschaft Überlegungen gab, auf den Enthaftungsstreifen über den Rissen zu verzichten. Tatsächlich zeigen die Flächen der nun seit eineinhalb Jahren instand gesetzten Pyramide über der Sakramentskapelle keine der prognostizierten Haarrisse. Die Vermutung: Möglicherweise verteilen die starren Carbonmatten die Spannungen ohnehin bereits über die gesamte Fläche.

Ob diese Theorie in einem allfälligen dritten Berarbeitungsabschnitt getestet werden kann, steht derzeit noch in den Sternen: Die für die gesamte In­standsetzung vorgesehenen rund drei Mio. Euro sind aufgebraucht. Aktuell ist die Bauherrschaft auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Rund 350 Jahre nach der Marien­erscheinung braucht es in Neviges nun wohl Hand­­fes­teres als Glaube, Liebe, Hoffnung.

7. September 2018 Tina Cieslik
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

14. Juli 2017 Götz Schackenberg
TEC21

Herzstück aufgegleist

Die Planung für ein trinationales S-Bahn-System in der Metropolitanregion Basel ist einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das Projekt ­«Herzstück» wird die drei Basler Bahnhöfe verbinden, die Innenstadt und wichtige ­Entwicklungsgebiete erhalten ­zwei neue Tiefhaltestellen. Der Projektleiter und eine Fachjournalistin erörtern den Stand der Dinge.

Arbeitsreiche Monate liegen hinter den Basler Entscheidungsträgern und den beteiligten Planungsbüros, die verschiedene Varianten studierten, um die drei Basler Bahnhöfe – Bahnhof SBB, Badischer Bahnhof sowie den Bahnhof St. Johann – mit einem System von Eisenbahntunnels zu verbinden. Dieses Tunnelsystem, auch als «Herzstück» bekannt, ist das Schlüsselelement im gesamten Projektportfolio, das zur Schaffung eines erstmalig ganzheitlichen und modernen S-Bahn-Systems in der Dreiländerregion notwendig ist.

Erst diese Infrastruktur, territorial zu 100 % im Perimeter des Stadtkantons gelegen, wird es ermöglichen, die S-Bahnen als Durchmesserlinien fahren zu lassen. Durchmesserlinien bedeuten hierbei konkret, dass Durchbindungen aus allen sieben um Basel lie­genden Talschaften durch das Stadtzentrum hindurch ermöglicht werden. In der dicht besiedelten Agglomeration wird das einen überregionalen, trinationalen Nutzen entfalten – und Basel als bedeutender Verkehrsdrehscheibe angemessen gerecht werden.

Ende April 2017 wurden der zu den Arbeiten zugehörige Synthesebericht[1] abgeschlossen und die Erkenntnisse mit entsprechenden Empfehlungen der Öffentlichkeit präsentiert. Aus einem Fächer an un­tersuchten Varianten und Kombinationen hat sich «Hoch Y» als Basis- und zugleich Bestvariante herauskristallisiert. «Hoch» bedeutet, dass ein Eisenbahn­tunnelsystem unter der Stadt, ca. 6.5 km lang, jeweils ober­irdisch bzw. im heutigen Gleisniveau an den Bahnhof SBB und den Badischen Bahnhof angeschlossen wird und somit auf aufwendige Tiefbahnhöfe ver­zichtet ­werden kann. «Y» steht für einen Abzweig ab der Tiefhaltestelle Mitte, mit dem der Streckenast aus und in Richtung EuroAirport, über den Bahnhof St. Johann führend, ebenfalls an das S-Bahn-Netz angebunden werden kann. Obwohl in erster Priorität das Gesamtsystem realisiert werden soll, wäre der Y-Ast auch als Option denkbar, was eine zeitlich gestaffelte Umsetzung ermöglichen würde.

Das Ende vom Enden und Wenden

In Basel hat sich – auch aufgrund seiner Grenzlage – ein spezielles, dezentrales Bahnhofsystem entwickelt. Es gibt keinen zentralen Bahnhof in der Stadtmitte, sondern mit dem Bahnhof SBB und dem Badischer Bahnhof zwei, die eher peripher liegen und zudem von verschiedenen Ländern und Bahnunternehmen mit unter­schiedlichen Aufgabenstellungen betrieben werden. Historisch bedingt sind beide als End- bzw. Durchgangsbahnhöfe konzipiert und auch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die sogenannte Verbindungsbahn im Osten der Stadt miteinander verbunden worden.[2] Der dritte Bahnhof St. Johann hat seine historische Funktion weitgehend verloren und wird heute untergeordnet als reiner Haltepunkt durch den Regionalverkehr bedient.

Der Bahnhof SBB und der Badische Bahnhof werden durch den Regionalverkehr bzw. den in Basel gegenwärtig nur rudimentär bestehenden Mittelverteiler S-Bahn fast ausnahmslos als Kopfbahnhöfe genutzt. Die hieraus resultierenden Richtungswechsel führen zum einen dazu, dass Passagiere umsteigen und lange Wartehalte in Kauf nehmen müssen. Zum anderen ­verschlingen die notwendigen Wendemanöver ­wertvolle bahnbetriebliche Kapazitäten, womit eine organisatorisch günstigere Entflechtung von Fern- und Regionalverkehr heute nicht gegeben ist.

Mit den neuen Durchmesserlinien durch das Herzstück hindurch sowie einem insgesamt dichteren S-Bahn-Takt ab 2030/35 wird hier insgesamt Abhilfe geschaffen. Denn von einem besseren Angebot profitieren die Reisenden durch individuellere Ziel- und Routenwahl, weniger Umsteigevorgänge und auch kürzere Reisezeiten. Bei den prognostizierten Wachstumsraten im öV werden insbesondere die lokalen Feinverteiler Bus und Tram, aber auch der Fernverkehr auf den Zulaufstrecken entlastet. Auch lassen sich so die Personen­frequenzen im Stadtgebiet insgesamt besser verteilen. Insbesondere auf den Bahnhof SBB, der bereits heute zu Stosszeiten sichtbar an seine Kapazitätsgrenze gerät, wird das entlastende Auswirkungen haben. Aktuelle Berechnungen in dem für die Region massgebenden Gesamtverkehrsmodell (GVM) belegen diese Aussagen mit zugehörigen Auswertungen.

Schneller in die Stadtmitte

Mit der neuen unterirdischen Verbindung eröffnet sich auch die Möglichkeit, das Stadtzentrum und potenzielle städtische Entwicklungsgebiete direkt mit der Bahn zu erreichen. So ist eine Tiefhaltestelle Basel-Mitte im Raum Universität, Marktplatz, Universitätsspital und Schifflände sowie eine zweite im Klybeckquartier in Basels Norden vorgesehen (Karte).

Am Bahnhof SBB bietet sich zudem die Chance, einen zweiten leistungsfähigen Perronzu- bzw. -abgang zu schaffen: Im Westen des Bahnhofs wird eine neue Margarethenbrücke zu einem städtebaulich attraktiven Platz und einer verkehrstechnisch leistungsfähigen öV-Drehscheibe erweitert. Neben dem Potenzial, hier einen attraktiven Umsteigeort zu schaffen, wird der Stadt auch zu einer neuen Visitenkarte verholfen. Denn von hier eröffnet sich über die Achse Margarethenbrücke – Innere Margarethenstrasse eine zweite, direktere Anbindung an die Innenstadt als ­bisher einzig über den Centralbahnplatz und Aeschengraben. Die evaluierte Bestvariante ist somit, neben bautechnischen- und bahnbetrieblichen Aspekten, insbesondere aus der Optik des Städtebaus attraktiv, weil sie neben dem Stadtzentrum auch den grossen Entwicklungsschwerpunkt Basel Nord erschliesst (vgl. Foto­essay «Glückliche Synergie» und Interview mit Pierre de Meuron).

Der Eisenbahntunnel unter Basel

Da in Basel die Fläche sehr begrenzt ist, kann sich die Infrastruktur nicht weiter in die Breite entwickeln. Die Lösung liegt in der Tiefe, in diesem konkreten Fall als Durchmesserlinie unter der Stadt, dem Rhein und der Wiese hindurch – teilweise bis zu 30 m unter Terrain. Vorgesehen sind derzeit zwei parallel verlaufende, eingleisige Bahntunnel mit einem Innendurchmesser von 8.50 m. Der Abstand zwischen den Achsen der Röhren beträgt in der Regel 18 m; der Abstand der Fluchtstollen ca. 500 m. Die Evakuation würde über die Ausgänge der Tiefhaltestellen erfolgen. Die Abmessungen betreffend Lichtraumprofil, Längsneigung und Kurvenradien lassen die Nutzung durch gängiges Rollmaterial ohne Einschränkung zu.

Denn Infrastruktur, speziell Tunnels, werden mit einem Anlagenhorizont von bis zu 100 Jahren und damit für Generationen gebaut. Demnach ist das Betriebs-, Nutzungs- und Unterhaltsdesign so nachhaltig anzulegen, dass sich verändernde gesellschaftliche Ansprüche, speziell im Hinblick auf Mobilitäts- und Angebotswünsche, auch in Zukunft flexibel abbilden lassen. Die Bahnhöfe der SBB und DB werden in der Variante Hoch im heutigen Gleisniveau erschlossen. Der Verzicht auf Tiefbahnhöfe, die in ­anderen Varianten ebenfalls detailliert untersucht wurden, ermöglicht einen einfacheren Betrieb der Bahnhöfe, geringere Behinderungen während der Bauphase, tiefere Erstellungskosten und damit ein überzeugendes volkswirtschaftliches Nutzen-Kosten-Verhältnis für das Gesamtvorhaben.[3]

Gemäss aktueller Konzeption ist die bauliche Realisierung des Herzstücks wie folgt angedacht: Ab einem Startschacht im Bereich nördlich des Badischen Bahnhofs werden die Tunnelröhren bergmännisch mittels Tunnelvortriebsmaschine aufgefahren, unmittelbar gefolgt vom Roh- bzw. Endausbau sowie den Installationen für Bahn- und Sicherheitstechnik. Die Rampen zu den Tunnelröhren werden dagegen im Tagbau erstellt. Ebenfalls ist im Bereich Badischer Bahnhofs angedacht, die gesamte Logistik für die Abfuhr des Tunnelausbruchs sowie die Anfuhr der Baumaterialien vorzuhalten, im Idealfall rein über Bahntransporte. Untertage werden u. a. auch die zwei Ka­vernen für die neuen Tiefhaltestellen erstellt, gefolgt vom Bau/Ausbau der Mittelperrons, Verteil- und Zugangsebenen sowie Zugangsstollen in die Stadtebene hinein. Somit werden sich die baubedingten Einwirkungen im Stadtbild selbst auf ein Minimum reduzieren lassen.

Interdisziplinäres Projekt

In der ersten Phase ging es darum, die Machbarkeit des Gesamtvorhabens aus Sicht diverser integral zusammenhängender Fachgebiete zu bestätigen. Ebenfalls konnten die betriebs- und volkswirtschaftlichen Effekte positiv untermauert und plausibilisiert werden. Die Gremien der übergeordneten Bahnknotenorganisation, in der u. a. Vertreter der Kantone BS/BL, der Bahngesellschaften sowie des Bundesamts für Verkehr (BAV) eingebunden sind, werden nun darauf fokussieren, die übergeordnete Aufbau- und Ablauforganisation zu definieren sowie das gesamte Projektportfolio einzurichten. Im Schlüsselprojekt «Herzstück», das im Jahr 2014 durch die beiden Kantonsparlamente BS/BL mit einem gemeinsamen Projektierungskredit als Vorinvestition ausgestattet wurde, werden die Arbeiten ebenfalls fortgeführt. Die Beteiligten werden in den nächsten Jahren u. a. mit Fach- und Objektstudien bis hin zum eigentlichen Vorprojekt das Vorhaben vertiefen.

Mit dem Synthesebericht (Interview mit Rudolf Dieterle, Kasten unten) und dem optimierten Herzstück-Antrag haben die beiden Basel auch einen taktischen Schritt auf den Bund zu gemacht: Während es bei den meisten Bahnprojekten, die derzeit für die Aufnahme in den STEP AS 2030/35 des Bundes diskutiert werden, primär um den Abbau von Überlasten und damit um die Verbesserung bestehender Infrastrukturen geht, ist das System der tri­nationalen S-Bahn mit dem Schlüsselprojekt Herzstück vergleichbar mit einer Neuanlage, die auch die Ziele der Raumplanung sowie der Siedlungs-und Stadtentwicklung ganzheitlich berücksichtigt. Diese integrale Konzeption dürfte als Novum zu bewerten sein.


Anmerkungen:
[01] Zukunft Bahnknoten Basel, Synthesebericht, Ausgestaltung der notwendigen Infrastrukturen zur Realisierung eines trinationalen S-Bahn-Systems, Version 1.0, 18. April 2017.
[02] Vgl. Beat von Wartburg, «Vom Eiland zum Dreiland», in TEC21 42/2016.
[03] Gemäss den Ermittlungen im Synthesebericht kostet allein das Schlüsselobjekt Herzstück, ohne Zulaufstrecken, jedoch inklusive Anbindung an die Bahnhöfe, 1924 Mio. Fr. Mit dem Y-Ast (inklusive zugehörigen Ausbauten der Bahnhöfe St. Johann und EuroAirport) belaufen sich die Kosten auf 2777 Mio. Fr.

13. Mai 2016 Susanne Frank
TEC21

Das neue Quartier am Rheinhafen

Die Quartiere Kleinhüningen und Klybeck im Basler Norden sind im Umbruch. Der Druck ist enorm: Die Logistiker im Hafen brauchen Platz für den Güterumschlag, die Stadt benötigt Raum zum Wohnen und Arbeiten. Welche Chancen bietet der geplante Hafenausbau für die Stadtentwicklung?

Nur wenige Schritte trennen den historischen Kern des ehemaligen Fischerdorfs Kleinhüningen (vgl. «Ein Dorf wird Hafenstadt», S. 35) von den Hafen- und Industrieanlagen. In nur ein oder zwei Jahrzehnten wird die Stadt am Rhein hier ganz anders aussehen: Der geplante Ausbau der Hafeninfrastruktur führt dazu, dass sich die Gebiete in ­Hafennähe, auf der Westquaiinsel und entlang der Rheinufer markant verändern werden. Doch diese Entwicklung bleibt nicht auf die Quartiere Klein­hüningen und Klybeck begrenzt, vielmehr wird sich die Transformation dieses ca. 50 ha grossen Areals auf die gesamte Region im 3Land auswirken.

Der Hafen hat in seiner jetzigen Grösse die Grenzen seiner Kapazität erreicht, da der Güterverkehr weltweit stark anwächst und auch weiterhin zunehmen wird. Neben dem Umschlag von trockenen und flüssigen ­Massengütern wie Getreide und Heizöl spielt auch der Containerverkehr eine wichtige Rolle. 2015 wur­den in den Schweizerischen Rheinhäfen[1] 124  267 Con­tainer umgeschlagen (Schweizerische Rheinhäfen, Jahres­bericht 2015). Es ist davon auszugehen, dass sich der Containerverkehr in der Binnenschifffahrt ­bis 2030 verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Der ­Neubau eines dritten Hafenbeckens mit Verlagerung ­der Hafeninfrastrukturen ist daher unumgänglich – und gleichzeitig auch eine grosse Chance für den Kanton Basel-Stadt.

Motoren der Stadtentwicklung

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Hafen wurde im Mai 2008 die vierspurige Nordtangente eröffnet. Die rund 3 km lange Stadtautobahn verbindet die schweizerische mit der französischen und der deutschen Auto­bahn und verläuft zu 87 % unterirdisch. Für Basel, das an seine räumlichen Grenzen stösst, eine gute Gelegenheit, die Wohnlagen im Norden aufzuwerten; auf der Grossbaslerseite war das Quartier St. Johann zu stärken und über die Voltastrasse hinaus zu entwickeln. Die Voltastrasse hatte mit ihren rund 40 000 Fahrzeugen pro Tag eine unglaubliche Trennwirkung, fast im Sinn einer vorgezogenen Landesgrenze. Die Nordtangente brachte eine spürbare Verkehrsentlastung und war Auslöser für Investitionen in den Wohnungsbau und den öffentlichen Raum in Kleinbasel und St. Johann.

Im Zusammenspiel mit privaten Akteuren und der Quartierbevölkerung konnte die Stadt Basel eine Vielzahl von kleinen und grossen Massnahmen umsetzen: «Mit der Stadtreparatur ProVolta, insbesondere dem Boulevard Volta und den ­begleitenden Neubauten und Stadtplätzen auf dem Nordtangententunnel, konnten wir neue, hochwertige Stadträume schaffen und die Lebensqualität in das äussere St. Johann zurückbringen», erläutert Thomas Waltert, der für die Gesamtprojektkoordination Basel Nord seitens des Kantons ­Basel-Stadt zuständig ist. Die städtebaulichen Massnahmen im Rahmen des Nordtangentenbaus versteht er als Initialzündung für weitergehende Transfor­mationen der nördlichen Wohn- und Industrieareale. «Die direkt nachfolgenden Investitionen der Stiftung Habitat in das Geviert an der Lothringerstrasse (u. a. Musikerwohnhaus, vgl. TEC21 1–2/2016) und die Planung VoltaNord bestätigen, dass der Funken übergesprungen ist», so Waltert.

Zudem verbessert die Nordtangente die Anbindung an den Flughafen, was für die Pharmaindustrie mit ihrem internationalen Publikum interessant ist. Gleichzeitig trug der Wandel mit dem Novartis Campus vom Industrie- zum Forschungsstandort dazu bei, dass die Produktion ausgelagert wurde. Der Hafen St. Johann war nun kein idealer Nachbar mehr, dennoch wurde der Standort in Basels Norden nicht aufgegeben. Mit der Verlagerung dieses Hafens wurden der Kanton Basel-Stadt sowie die Schweizerischen Rheinhäfen beauftragt, eine abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung zu erarbeiten. Parallel dazu begann eine Standortbestimmung der Schweizerischen Rheinhäfen.

Rheinschifffahrt mit dem Ausbau des Hafens stärken

Es stand die Frage im Raum, ob denn zusätzliche Kapazitäten für Containerterminals überhaupt benötigt werden. Eine vom Bundesamt für Verkehr (BAV) initiierte Mediation, an der Vertreter der ganzen Logistikbranche beteiligt waren, schloss mit einer Wachstums­prognose, die von der Branche 2014 einstimmig als realistisch verabschiedet wurde. Auf dieser Vorgabe basiert die aktuelle Planung des trimodalen Terminals, erinnert sich Sabine Villabruna, Bereichsleiterin der Schweizerischen Rheinhäfen, Areale und Hafenbahn. Die Terminallogistik wird damit zum Thema der Raumplanung. Es braucht sowohl den Hafen, um die Versorgung der Schweiz, inbesondere des Mittellands sicherzustellen, als auch den optimalen Umschlagstandort für Schiff und Bahn in Kleinhüningen.

Geplant sind ein Ausbau und die teilweise Verlagerung der Hafenanlagen auf das Gebiet des ehemaligen badischen Rangierbahnhofs; hier soll ein drittes Hafenbecken realisiert werden, es wird ein trimodales Containerterminal (Schiff-Schiene-Strasse) entstehen. Das Hafenbecken III eignet sich einzig für das Gütersegment Containerumschlag. Die Hafenbecken I und II sind in ihrer Nutzung nicht beschränkt, sie bleiben weiter für die Schifffahrt in Betrieb. Die Umnutzung des ehemaligen Gleisfelds stellt die Planer vor einige Herausforderungen, da hier zwei nationale Interessen aufeinandertreffen: auf der einen Seite die Bedeutung des Hafens als Verkehrsdrehscheibe der Stadt und des gesamtschweizerischen Güterverkehrs, auf der anderen Seite die Belange des Naturschutzes, denn viele schützenswerte Tier- und Pflanzenarten haben sich im Lauf der Jahre auf dem Gebiet niedergelassen (vgl. TEC21 48/2012). Wie und wo entsprechende Ausgleichsflächen zur Verfügung stehen, wird derzeit ausgearbeitet.

Die Projektarbeiten für die erste Realisierungsphase des Containerterminals sind so weit fortgeschritten, dass ein konsolidiertes Betriebskonzept und eine Kostenplanung vorliegen. Darin geht es um das Stras­se-Schiene-Terminal (bimodaler Betrieb) auf dem Gelände des ehemaligen Rangierbahnhofs in Basel-Nord. Die Gateway Basel Nord AG[2] hat deshalb im November 2015 das Fördergesuch für die Finanzierung der Terminalinfrastruktur beim BAV eingereicht. Das Subventionsgesuch für die Finanzierung des Hafenbeckens III soll in der ersten Hälfte 2016 von den Schweizerischen Rheinhäfen eingereicht werden; ist diese gesichert, folgt das Plangenehmigungsgesuch.

Ein inhaltliches Leitbild entwickeln

Die Optimierung der Hafeninfrastruktur sichert und stärkt den Hafenstandort Kleinhüningen, der nicht nur für die Stadt, sondern für die gesamte Schweiz eine grosse Bedeutung hat. Mit diesen Perspektiven und Investitionen eröffnet sich für den Kanton Basel-Stadt aber auch die grosse Chance, am Rhein ein neues Stadtquartier zu entwickeln und die bestehenden Quartiere, besonders Klybeck, besser an den Fluss anzubinden. Mit Ablauf der Baurechte per Ende 2029 sollen die ­Hafenaktivitäten auf der Westquaiinsel aufgegeben werden, es besteht erstmals die Möglichkeit, den Hafenbahnhof zu verlagern. Somit werden grosse Flächen am Klybeckquai weitgehend uneingeschränkt für neue Nutzungen frei. An die Rheininsel angrenzend werden weiterhin emissionsträchtige Umschlagaktivitäten im Hafenbecken I stattfinden, die Nutzung auf der Westquaiinsel wird darauf abgestimmt. Die Rahmenbedingungen sind zum heutigen Zeitpunkt aber weder für
die Hafen- noch für die Stadtentwicklung gesichert.

Da die Hafen- und Stadtentwicklung Kleinhüningen-Klybeck sowohl im Kontext der Stadt als auch der trinationalen Agglomeration zu sehen ist, hat Basel im September 2012 mit Weil am Rhein (D) und Huningue (F) eine Planungsvereinbarung unterzeichnet. Auf Basis der Entwicklungsvision 3Land soll sich der Stadtraum entlang des Rheins rund um das Dreiländereck zwischen Dreirosen- und Palmrainbrücke zu einer urbanen Teilstadt innerhalb der trinationalen Agglomeration entwickeln. Die lokalen Planungen sollen aufgrund eines trinationalen Raumkonzepts koordiniert werden. Der Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der zur ­Bearbeitung ansteht, ist in diesem Zusammenhang das lokale Planungsinstrument in Basel.[3]

Mit der voranschreitenden Planung der Hafeninfrastruktur zeichnet sich nun eine neue Etappe ab: Mit dem Grossratsbeschluss im Mai 2014 wurden die Mittel zur Verfügung gestellt, um die Vorarbeiten zu einem Entwicklungsplan, d. h. einem Stadtteilrichtplan für Kleinhüningen-Klybeck, zu beginnen. Eine wesentliche Aufgabe wird nun sein, ein inhaltliches Leitbild für das neue Stadtquartier zu entwickeln (vgl. Interview mit Kantonsbaumeister Beat Aeberhard « ‹Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen› », unten). Aus diesem Grund hat die Stadt Basel im Februar dieses Jahres eine Ausschreibung lanciert, um ein Planerteam zu beauftragen, das die Grundlagen einer «Programma­tion» für die Stadtentwicklung auf den rheinnahen ­Hafenarealen erarbeiten soll. Seit Kurzem steht fest, welches Team für diese nächste Planungsphase beauftragt werden wird. Die Stadt Basel wird in der nächsten Zeit bekannt geben, wer den Zuschlag bekommen hat. Die Ergebnisse der Bearbeitung werden zu Beginn des nächsten Jahres erwartet.


Anmerkungen:
[01] Die Schweizerischen Rheinhäfen sind eine öffentlich-rechtliche Anstalt im Eigentum der Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft, die 2008 gegründet wurde. Zuvor agierten die Rheinhäfen eigenständig und in Konkurrenz zueinander. Heute beschäftigt der «Port of Switzerland», wie sich die Schweizerischen Rhein­häfen im internationalen Kontext nennen, rund 40 Mitarbeiter. Sie sind als öffentlicher Infrastrukturbetreiber dafür verantwortlich, die Güterschifffahrt zu fördern und einen Beitrag zur Verlagerungspolitik des Bundes zu leisten. www.portof.ch
[02] Die drei Schweizer Logistik- und Transportunternehmen Contargo, SBB Cargo und Hupac haben im Juni 2015 die Gateway Basel Nord gegründet. Die Gesellschaft mit Sitz in Basel plant und realisiert das Umschlagterminal Strasse-Schiene-Wasser für den Import-Export-Verkehr in Basel Nord. http://blog.sbbcargo.com/19331/gateway-basel-nord-ag-reicht-foerdergesuch-fuer-containerterminal-ein/
[03] www.3-land.net

13. Mai 2016 Susanne Frank
TEC21

«Wir wollen diese Jahrhundertchance nutzen»

Am Basler Rheinhafen entsteht ein neues Quartier. Kantonsbaumeister Beat Aeberhard hat uns einige Fragen zum Verfahren beantwortet und erläutert seine Vorstellung für das neue Stück Stadt.

TEC21: Herr Aeberhard, für die Stadtentwicklung im Basler Norden beginnt nun eine neue wichtige Planungsphase. Was passiert aktuell?

Beat Aeberhard: Im Moment befinden wir uns in der Phase der planerischen Grundlagenarbeit. Die bisherigen städtebaulichen Überlegungen und Visionen haben zwar das Potenzial der Transformation im Basler Hafen eindrücklich aufgezeigt und mitgeholfen, die abgestimmte Hafen- und Stadtentwicklung politisch zu verankern. Gleichzeitig haben die ab­strakten Bilder aber auch einen Teil der Bevölkerung verunsichert. Die Chancen der Stadtentwicklung müssen wir den Menschen noch aufzeigen. Konkret verfügen wir erst über relativ wenige gesicherte Rahmenbedingungen. Als Nächstes wollen wir eine «Programmation» für die Entwicklungsgebiete am Rhein erarbeiten.

TEC21: Was verstehen Sie unter einer Programmation?

Beat Aeberhard: Darunter verstehe ich eine inhaltliche Leit­linie der Stadtentwicklung. Auf einer strategischen Ebene macht die Programmation Aussagen zu den Nutzungsarten, deren Verteilung, zu Akteuren, Verfahren und zur zeitlichen Dimension der Transformation. Es geht somit gegenwärtig nicht um Städtebau in seiner entwerferischen Dimension, sondern um die zukünftige Programmierung des Quartiers, das heisst um die Menschen mit ihren Bedürfnissen, die das neue Stadtquartier aufbauen und darin leben werden.

TEC21: Warum macht man eine Programmation als Grundlage für die Stadtentwicklung?

Beat Aeberhard: Stadtplanung ist hochpolitisch und bedingt das Aushandeln. In der anstehenden langen Reihe von Aushandlungsformaten ist die Programmation ein Element. Mit einem akteurbasierten Ansatz gehen wir nun die Grundlage für eine verbindliche Planung an.

TEC21: Wie geht es nach dieser Phase weiter mit der Stadt­entwicklung? Welche Schritte folgen als Nächstes?

Beat Aeberhard: Die Programmation ist ein wichtiger Baustein für den Stadtteilrichtplan Kleinhüningen-Klybeck, der als behördenverbindliches und dynamisches Ins­­­trument den langjährigen Transformationsprozess begleiten wird. Er bindet in der übergeordneten Sichtweise die verschiedenen Themen wie Hafenentwicklung, Mobilität, Frei- und Grünräume, aber auch die bestehenden Wohn- und Arbeitsquartiere zusammen, koordiniert sie und sorgt für einen transparenten Interessenausgleich. Er schafft die Basis, um den politisch notwendigen Konsens, nämlich eine sinnvolle Stadtentwicklung, herbeizuführen. Denn die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von beträchtlicher Bedeutung. Es braucht die Übereinkunft darüber, wie die Stadt weiterzubauen ist. Auf Basis des Stadtteilrichtplans können dann nutzungsplanerische Massnahmen wie Zonenänderungen und Bebauungspläne bis hin zu konkreten Projektentwicklungen in die Wege geleitet werden.

TEC21: Wie sehen Sie dieses neue Quartier am Rhein? Welche Art von Stadt soll es werden?

Beat Aeberhard: Seit den ersten planerischen Entwürfen ist die Rede von einem lebendigen, gemischt genutzten Stück Stadt, das auf den Hafenarealen entstehen soll. Es entsteht aber nicht aus dem Nichts. Man wird die Auseinandersetzung mit dem Bestand suchen müssen. Die örtlichen Identitäten sind zu berücksichtigen. Darauf aufbauend sollen diese Gegebenheiten in den neuen Quartieren spürbar werden. Auf dem Klybeckquai ist ein Bezug zum bestehenden Klybeckquartier herzustellen, damit im Gegenzug auch für die heutige Bevölkerung Qualitäten und ungeahnte Möglichkeiten resultieren. Auf dem Westquai geht es um das Miteinander von Hafen und Stadt. Die neu entstehende Stadt befindet sich unmittelbar neben einem funktionierenden Hafen. Darauf müssen wir in der Planung Rücksicht nehmen und ein «echtes» Hafenquartier entwickeln. In der Konsequenz – und da wage ich nun eine Prognose – könnte das bedeuten, dass der Schwerpunkt auf dem Klybeckquai tenden­ziell auf Wohnen und Quartierleben, auf dem ­Westquai auf Arbeiten, öffentlichen, trinationalen Nutzungen und urbanem Wohnen liegt. So oder so, die Entwicklung dieses Stadtquartiers ist eine Jahrhundert­chance, die wir nutzen wollen.


[Beat Aeberhard ist seit April 2015 Kantonsbau­­meis­­ter und leitet den Bereich Städtebau & Architektur im Kanton Basel-Stadt. Von 2008 bis 2014 war er Stadtarchitekt in Zug und bis 2014 zudem als selbstständiger Architekt tätig. Er studierte Architektur und Städtebau an der ETH Lausanne und Zürich sowie an der Columbia University, New York.]

29. April 2016 TEC21

«Wir feiern bald den Höhepunkt unserer Arbeit»

Interview mit Renzo Simoni

Der Gotthard-Basistunnel wird im Juni eröffnet. Mit Renzo Simoni, dem Vorsitzenden der AlpTransit Gotthard, haben wir über die noch zu erledigenden Aufgaben, die Zukunft der Mitarbeitenden und die Weiterverwendung des gesammelten Wissens gesprochen.

TEC21: Herr Simoni, am 1. Juni 2016 wird der ­G­otthard-­Basistunnel eröffnet. Was ist bis dahin noch alles zu tun?

Renzo Simoni: Bis Ende Mai 2016 befinden wir uns im Testbetrieb. Insgesamt werden rund 3500 Fahrten mit bis zu 275 km/h durchgeführt. Es finden sowohl dynamische als auch statische Tests statt, ­um das Zusammenspiel aller im Tunnel eingebauten Komponenten in unterschiedlichen Betriebszuständen zu prüfen. Zudem laufen Fertigstellungs- und In­standsetzungsarbeiten, ausserdem sind Mängel zu beheben. Herausfordernd ist die logistische Koor­dination der verschiedenen Aufgaben. Dabei hilft ein detaillierter Plan für den 24-Stunden-Betrieb: ­Ge­ar­beitet wird in vier Schichten zu sechs Stunden, ­die jeweils für Unterhaltsarbeiten bzw. den Testbetrieb zur Verfügung stehen. Das Ziel ist die Übergabe des betriebsbereiten Tunnels an die SBB am 1. Juni 2016.

TEC21: Und was geschieht unterdessen vor den Portalen?

Renzo Simoni: Auf den Zulaufstrecken – das heisst auf den Anschlussstrecken im Norden bis Altdorf und im Süden bis Giustizia – sind weitere Anpassungs-, Rückbau- und Rekultivierungsarbeiten fällig.

TEC21: Das sind zum Beispiel …?

Renzo Simoni: Im Kanton Uri führt die Stammlinie schon seit zwei Monaten über den Bahndamm, der neu das Nordportal des Gotthard-Basistunnels erschliesst. Die bisherige Linie nach Erstfeld kann daher vollständig rückgebaut werden; ebenso der Autobahnzubringer, der die alten Gleise bislang auf einer Brücke überquert. Diese Verbindungsstrasse wird künftig ebenerdig geführt. Derweil sind die Arbeiten ­an der offenen Bahnstrecke grösstenteils beendet. Das Rekultivieren und diverse Instandsetzungen nehmen jedoch noch einige Zeit in Anspruch.

TEC21: Und im Süden?

Renzo Simoni: Dort dauert das Ganze weniger lang, weil die Verlegung der Stammlinie zwischen Bodio und Biasca bereits erfolgt ist und der Rückbau abgeschlossen ist. Der ehemalige Installationsplatz wird nun rekultiviert. Generell dauern einzelne Pflegemassnahmen und ökologische Ausgleichsmassnahmen, im Süden und im Norden, noch Jahre. Nach der Inbetrieb­nahme der AlpTransit Gotthard sind beispielsweise Neophyten in den neu geschaffenen Biotopen zu bekämpfen, renaturierte Bachbette zu überwachen oder Ausgleichsflächen sachgerecht zu pflegen.

TEC21: Sind damit die schlaflosen Nächte vorbei?

Renzo Simoni: Es gibt durchaus Themen, bei denen wir Lösungen suchen müssen. So gibt es Bereiche im Tunnel, an denen die segmentierte Fahrleitung für den nahtlosen Übergang über einige Meter doppelt geführt wird. Ein stehender Zug kann hier einen Kurzschluss und Schäden an der Fahrleitung verursachen. Dieses Phänomen hat man im SBB-Netz erst in den letzten Jahren festgestellt. Ein Zug kann an den unmöglichsten Stellen stehen bleiben. Jetzt muss geklärt werden, wie man damit umgeht.
Zudem beschäftigt uns der reibungslose Einsatz der Software für die Bahnleittechnik. Weiter haben Messfahrten gezeigt, dass der Tunnelfunk ab gewissen Geschwindigkeiten nicht überall qualitativ gleich gut ist. Jetzt muss man baulich nachrüsten. Offene Fragen gibt es auch bei den mobilen Erhaltungstoren, die den Tunnel während der Erhaltungsschichten segmentieren, bei diversen Kühlsystemen und bei den Brandschutzklappen. Das sind alles Themen, die eigentlich hätten gelöst und erledigt sein müssen, bevor der Testbetrieb begonnen hat. Aber es läuft eben selten so wie im Schulbuch.

TEC21: Erreichen Sie den nächsten Meilenstein wie geplant?

Renzo Simoni: Es gibt diese fachlich klar erkannten Unzulänglichkeiten. Wir gehen aber davon aus, dass wir den nächsten Meilenstein erreichen. Das ist die Erteilung der Bewilligung des Probebetriebs durch das Bundesamt für Verkehr. Bis zur Übergabe müssen wir die Funktionalität und die Erfüllung der Sicherheitsanforderungen im Tunnel nachweisen. Nur so können wir am 1. Juni dem Bund und den SBB einen betriebsbereiten Tunnel übergeben. Dann beginnt der sechsmonatige Probebetrieb. In dieser Zeit sind erneut diverse Nachweise zu erbringen, damit wir im Dezember fahrplanmässig in Betrieb gehen können.

TEC21: In der Probephase ist die Federführung bei der SBB?

Renzo Simoni: Das ist so. Unsere Leute arbeiten noch mit, aber die Gesamtverantwortung haben die SBB. Deshalb ist die Übergabe in diesem Juni der Höhepunkt unserer Arbeit, und den feiern wir. Nachher sind wir – salopp gesprochen – weg vom Fenster.

TEC21: Die AlpTransit Gotthard AG wird in naher Zukunft aufgelöst. Wie ist die Stimmung im Team?

Renzo Simoni: Man muss unterscheiden: Am Gotthard haben uns viele Mitarbeitende bereits verlassen, weil sie ihren Job erfüllt haben, so etwa Personen, die am Rohbau beschäftigt waren. Die am Ceneri oder für die Bahntechnik tätigen Mitarbeitenden sind so beschäftigt, dass sie sich zurzeit nicht allzu viele Gedanken machen müssen. Sicherheit gibt jedoch allen unser Programm «Libero» (Programm für Haltemassnahmen, Unterstützung bei Frühpensionierung, Outplacement etc.). Darin sind Funktionen definiert und in einem entsprechenden Prozess den Mitarbeitenden zugeordnet. Wir überprüfen zweimal pro Jahr, wie lang die jeweilige Funktion für das Projekt noch notwendig ist. Stellen wir fest, dass die Funktion einer Person innerhalb von zwei Jahren ab dem Betrachtungszeitpunkt ausläuft, muss der Vorgesetzte ein Standortgespräch führen. In den folgenden zwei Jahren wird dann gemeinsam eine für beide Seiten möglichst gute Lösung gesucht.

TEC21: Mit welchem Inhalt?

Renzo Simoni: Gemeinsam sind diverse Möglichkeiten erarbeitet worden, abhängig vom fachlichen Hintergrund, von der Lebensphase, dem Alter, den Vorstellungen der einzelnen Person etc. Im Anschluss ver­suchen wir eine Vereinbarung zu treffen, damit diese Person so lang bleiben kann, wie sie benötigt wird. Im Gegenzug kann man etwas anbieten, wie beispielsweise eine Halteprämie oder Unterstützung bei Outplacements oder Frühpensionierungen. Bis heute haben wir rund 30 Vereinbarungen unterschied­lichen Inhalts mit Mitarbeitenden abgeschlossen.

TEC21: Für die Mitarbeitenden ist also gut gesorgt – aber was passiert mit dem gesammelten Wissen?

Renzo Simoni: Gemäss Statuten soll die AlpTransit Gotthard AG aufgelöst werden, sobald die Achse Gotthard realisiert ist. Das schliesst den Ceneri mit ein, bezieht sich aber nicht auf die zurückgestellten Elemente. Jetzt ­­ist die Frage, ob es den politischen Willen gibt, dass ­­­­man unsere Erfahrung andernorts einsetzen möchte. Dazu braucht es die Zustimmung unseres Eigners SBB, aber auch die politische Akzeptanz. Im FABI-Gesetz steht, dass der Bund die SBB oder die Umsetzungsgesellschaften mit der Planung beauftragen kann. Es wird in der Schweiz weitere Tunnelprojekte geben – auch visionäre Projekte wie «cargo sous terrain» stehen im Raum. Dazu bräuchte es Bauherrenorganisa­tionen, die entsprechendes Know-how besitzen.

TEC21: Dieses Projekt würde Sie reizen?

Renzo Simoni: Klar, das wäre visionär. Auch wenn bei diesem Projekt derzeit sowohl finanziell als auch politisch noch vieles offen ist.

TEC21: Das Know-how, das während der Realisierung des Gotthard-Basistunnels aufgebaut wurde, interessiert auch heute schon andere Organisationen. Sie sind zum Beispiel Mitglied des Beirats der Projektgesellschaft der Stuttgart-Ulm GmbH der Deutschen Bahn AG. Wie kam es dazu, und was ist Ihre Aufgabe?

Renzo Simoni: Ich wurde aufgrund meiner aktuellen Funk­tion berufen. Ich habe zum Beispiel in Stuttgart unser Risikomanagement vorgestellt, das Modell der Personalmassnahmen oder das Ausschreibungskonzept Bahntechnik – es gibt viele Themen, bei denen ­«Stuttgart 21» von unseren Erfahrungen profitieren möchte. Es freut mich, dass ich meine Erfahrung und mein Wissen von Bauherrschaft zu Bauherrschaft weitergeben kann. In den letzten Jahren wurde in Bezug auf «Stuttgart 21» vieles nicht korrekt dar­gestellt. Aus dem Projekt wird sich zudem eine einmalige städtebauliche Chance ergeben.

TEC21: Welche Erkenntnisse können Sie weitergeben?

Renzo Simoni: Was die finanziellen Belange angeht, ist es sinnvoll, bereits ab dem Stadium Kostenschätzung ein Risikomanagement aufzuziehen. Ziel ist, sämt­liche Risiken zu erfassen und diese finanziell abzuschätzen, damit die entsprechenden Risikopuffer vorhanden sind. Das ist nicht einfach. Sobald höhere Investitionskosten absehbar sind, steigt das Risiko, dass ein Projekt politisch scheitert. Wichtig ist auch eine offene Kommunikation. Wenn es beispielsweise um eine offene Linienführung geht, müssen die Interessenspartner vor Ort von Anfang an einbezogen werden. So kann die Opposition schon in einem frühen Stadium gemindert respektive können allseits akzeptierbare Lösungen gefunden werden.

TEC21: Sie sprechen von der Linienführung im Kanton Uri?

Renzo Simoni: Genau. Der enge Lebensraum in der Urner Reussebene und der Verlauf der Anschlussstrecke wurden intensiv diskutiert und die verschiedensten Nutz- und Schutzinteressen berücksichtigt.
Die vertikale Linienführung im Bereich der Schächen­querung hat das Projekt verteuert und viel Zeit gekostet. Es gab intensive politische Auseinandersetzungen. Mit dem Ergebnis, dass man in Erstfeld im nördlichsten Los unterirdisch zwei Abzweiger gebaut hat. Dies ermöglicht eine spätere Anbindung für die Unter­fahrung des Raums Schattdorf und die direkte Verbindung zwischen Gotthard-Basistunnel und Axentunnel. Das war eine Vorinvestition, die den Bund rund 60 Millionen Franken gekostet hat.

TEC21: Vor Baubeginn gab es grosse Unsicherheiten. Wie sind die Arbeiten rückblickend verlaufen?

Renzo Simoni: Der Bau ist gut gelaufen. Im Grossen und Ganzen sind die Störungen und Hindernisse aufgetaucht, die man erwartet hat. Dazu gehören die Intschizone, das Tavetscher Zwischenmassiv, die Pioramulde oder das Unterfahren der Stauseen Val Nalps und Santa Maria. Das ist sicher auch eine Errungenschaft der intensiven Vorauserkundungen (vgl. «Signale aus dem Herzen des Gotthards», S. 34). Sie haben das Projekt be-rechenbarer gemacht, und die eigentliche Bauzeit von 16 Jahren wich im Endeffekt kaum von der Prognose ab, in der mit 12 bis 16 Jahren gerechnet worden war.

TEC21: Der Gotthard-Basistunnel wird in Kürze eröffnet. Wie ist der Stand am Ceneri?

Renzo Simoni: Im Januar dieses Jahres haben die Mineure die letzten Durchbrüche gefeiert und damit einen wichtigen Meilenstein erreicht: Die ganze Flachbahn durch die Schweizer Alpen ist durchgehend ausgebrochen. Das war ein historisches Ereignis für dieses Projekt. Die Ausbauarbeiten laufen weiter, die Planung für den Einbau der Bahntechnik hat begonnen. Die Übergabe vom Rohbau an die Bahntechnik erfolgt im Herbst 2017. Es ist vorgesehen, dass der Ceneri auf den Fahrplanwechsel Ende 2020 in Betrieb geht.

TEC21: Die meistgenannten Personen im Zusammenhang mit dem Bau des Gotthard-Scheiteltunnels sind Alfred Escher und Louis Favre. Welche Person wird später in den Geschichtsbüchern stehen, wenn es um den Gotthard-Basistunnel geht?

Renzo Simoni: Wichtig waren die erste Abstimmung zur NEAT und der damit verbundene politische Durchbruch. Dies ist verbunden mit dem damaligen Verkehrsminister Adolf Ogi. Ich nehme deshalb an, dass sein Name mit diesem Jahrhundertbauwerk in Erinnerung bleiben wird. Nicht nur für den Gotthard-Basistunnel oder die Gotthardachse, sondern stellvertretend für die gesamte NEAT, am Gotthard wie auch am Lötschberg.

29. April 2016 TEC21

Der Gotthard-Basistunnel ist …

Das Jahrhundertbauwerk

… ein Bauwerk, eine Gesamtleistung und eine Infrastrukturinvestition, wie sie wohl nur alle Jahrhunderte einmal realisiert wird. Selbst die Auswahl der Besonderheiten und wichtigsten Daten beansprucht eine ganze Seite.

… die Verbindung zwischen Erstfeld im Urner
Reusstal und Bodio in der unteren Leventina, Kanton Tessin.

… ein 57.1 km langer Tunnel mit zwei Röhren, die von der Eisenbahn, ab kommendem Dezember im Fahrplanverkehr, jeweils einspurig durchfahren werden.

… eben und geradlinig. Die Trasse verläuft mit nur gering­fügigen Steigungen und ohne enge Kurven auf einer Höhe von maximal 550 m ü. M.

… das Kernstück der Neuen Alpentransversale NEAT.
Mit Eröffnung des nachfolgenden Ceneri-Basistunnels 2020 wird die erste Flachbahn durch die Alpen Realität und die Schweiz an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen.

… nach 23 Jahren Planungs- und Bauzeit fertiggestellt. Die erste Sprengung fand am 4. November 1999 statt; im Sommer 2003 begann der Tunnelvortrieb.

… das grösste Investitionsprojekt in der Geschichte der Schweiz: 12.3 Mrd. Fr. mutmassliche Baukosten.

… ein sorgfältig gestaltetes Infrastrukturprojekt,
ein Symbol für die Verkehrsverlagerung und eine umweltverträgliche Verkehrspolitik in der Schweiz.

… ein Bauwerk, das den Waren- und Personenverkehr in Europa verändern wird.

… derzeit der längste Eisenbahntunnel der Welt, gefolgt vom Seikan-Tunnel (54 km) in Japan und vom Eurotunnel (50.5 km) unter dem Ärmelkanal. Der 64 km lange Brennertunnel (A/I) ist bereits im Bau.

… der tiefste Eisenbahntunnel der Welt mit einer Felsüberlagerung von bis zu 2300 m.

… eine weltweit beachtete Ingenieurleistung und ein Projekt mit Strahlkraft über die Schweizer Grenzen.
… ein System aus Röhren, Stollen und Schächten von insgesamt 151.84 km Länge. Querschläge alle 325 m verbinden die zwei getrennten Röhren.

… sowohl mit vier Tunnelbohrmaschinen (64 %) als auch im Sprengvortrieb (36 %) ausgebrochen worden und in fünf Teilabschnitten erstellt.

... mit mindestens 30 cm dickem Gewölbe aus Ort­beton zur Sicherung der Tragfähigkeit versehen.

… eine Herausforderung für die Bahntechnik: ­Erstmals in Europa werden Güterzüge und Hoch­geschwindigkeitszüge im Mischverkehr durch ­Einspurtunnel geführt, was einen Strombedarf ­bis 2300 A verursacht. Ebenfalls besonders sind ­Temperaturen bis 40 °C, 70 % Luftfeuchtigkeit und salzhaltige Luft, die mit der Rollenden Landstrasse eingebracht wird.


Chronologie
1947 Erste Entwürfe für einen Gotthard-Basistunnel
1963 Varianten der NEAT werden geprüft
1989 Bundesrat beschliesst NEAT-Netzvariante
1992 Volks-Ja zur NEAT
1995 Debatte über Redimensionierung und Finan­zierung (bis 1998)
1995 Definition der Linienführung
1996 Erste Vorbereitungsarbeiten in Sedrun
1998 Volksentscheid: Finanzierung der NEAT
1999 Beginn des Hauptvortriebs
2002 Erste Tunnelbohrmaschine im Einsatz
2010 Durchschlag Oströhre (15. Oktober)
2011 Durchschlag Weströhre (23. März)
2016 Eröffnung des Gotthard-Basistunnels

29. April 2016 TEC21

Signale aus dem Herzen des Gotthards

Die Geologie des Gotthard-Basistunnels

Tiefbau und Geologie kann man nicht trennen: Grosse geologische ­Herausforderungen – unterschiedlichste Gesteinsschichten und ­Störungszonen – haben den Bau des 57 km langen Gotthard-Basistunnels geprägt. Mehrmals mussten die Ingenieure darauf reagieren.

Der Gotthard-Basistunnel darf als Schweizer Jahrhundertbauwerk bezeichnet werden. Die Berechtigung bezieht sich zum einen auf den fast 70 Jahre langen politischen Weg von der ersten Projektidee bis zur Eröffnung und zum anderen auf die natürlichen und technischen Hindernisse, die das Vorhaben anfänglich als hoch riskant oder gar unmöglich erscheinen liessen. Gewarnt wurde etwa vor dem «schwimmenden Gebirge», der Pioramulde: einer nahezu unüberwindlich befürchteten Störungszone. Die geologischen Erkenntnisse im tiefen Berg fielen schliesslich positiv aus. Mit unangenehmen Überraschungen waren die Tunnelbauer dagegen in anderen Fällen konfrontiert. Wie die schwierigen geologischen Verhältnisse gemeistert werden konnten und mit welchen Massnahmen deren Beherrschung gelang, wird weiter unten erklärt. Zunächst empfiehlt sich ein Blick auf die generelle geologische Situation, um einen Eindruck von der Dimension des Gotthard-Basistunnels (GBT) zu erhalten.

Die beim Bau durchörterten Gesteinsformationen ergeben eine anschauliche Darstellung des geologischen Aufbaus der Schweizer Zentralalpen. Vom Nordportal bei Erstfeld bis zum Südportal bei Bodio bohrten oder sprengten sich die Tunnelbauer durch drei – auch historisch und kulturell bezüglich ihrer Besiedlung an der Oberfläche – grundsätzlich verschiedene Gebirgsmassive: das Aarmassiv im Norden, aufgebaut aus Gneisen und Graniten, in der Mitte das vorwiegend aus denselben Gesteinsarten, aber in anderen Modifikationen zusammengesetzte Gotthardmassiv sowie die Penninische Gneiszone im Süden. Zwischen Aar- und Gotthardmassiv ist ein kleineres, von vielen Störungen durchzogenes Massiv eingebettet, das Tavetscher Zwischenmassiv (TZM). Dieses bildet das Tal des Vorderrheins, im oberen Teil Tavetsch genannt, und ist geologisch in ein stark gestörtes, rund 1150 m mächtiges, nördliches TZM und ein südliches, bautechnisch günstigeres, mehr als 2.3 km mächtiges TZM unterteilt – die Grenze verläuft ungefähr in der Talsohle.

Die Massive der Zentralalpen sind nicht homogen, sondern bestehen aus vielen unterschiedlich dicken Gesteinsschichten mit verschiedenen kristallinen Strukturen und Eigenschaften (vgl. Grafik S. 36 / 37). Die Alpenfaltung hat die Schichten vorwiegend steil bis senkrecht aufgerichtet, mit Ausnahme des südlichen, vom Alpenhauptkamm weiter entfernten Teils der Penninischen Gneiszone, dessen Schichten in einen horizontalen Verlauf abschwenken. Aufgrund dieser unterschiedlichen Schichtung unterscheidet die Geologie im Süden des GBT zwischen den alpennahen, senkrecht stehenden Lucomagno-Gneisen und den vorwiegend horizontal gebankten Leventina-Gneisen.

Tektonisch stark beanspruchte Störungen

Sowohl die grossen Massive als auch ihre mehr oder weniger homogenen Gesteinsschichten sind in der Regel nicht scharf voneinander abgegrenzt. Infolge gegenseitiger Verschiebungen sind die Störungsbereiche durch zerschertes oder zerriebenes Gestein getrennt. Die Geologie bezeichnet diese teilweise wenig stabilen Grenzstrukturen als «tektonisch stark beansprucht». Einige dieser unterschiedlich ausgebildeten Störungszonen sind an der Erdoberfläche erkennbar und waren den Geologen schon bekannt. Andere Störungen hingegen wurden bei den Erkundungsbohrungen vor Baubeginn oder erst bei Sondierbohrungen während des Tunnelvortriebs entdeckt, was Projektanpassungen und Verzögerungen zur Folge hatte. Die Breite der Störungszonen schwankt auf GBT-Niveau zwischen einigen Dezimetern und einigen hundert Metern.

Es gibt auch Ausnahmen unter den Grenzbereichen, wie Projektgeologe Franz Keller schildert[1]: «Aus geologischer Sicht am erstaunlichsten ist die Tatsache, dass […] jene Stelle, an der zwei grosse tektonische Einheiten – nämlich das Gotthardmassiv und das Tavetscher Zwischenmassiv – aneinander stossen, aus einer messerscharfen ungestörten Fuge besteht.» Das war aber die Ausnahme, denn Konzept, Detailprojektierung und besonders die Ausführung des GBT waren in wesentlichem Ausmass von den Störungszonen und den Massnahmen zu deren Beherrschung bestimmt.

Bautechnisch eher ein Vorteil war, dass eine grosse Anzahl unterschiedlicher Gesteinsschichten und Störungszonen ungefähr im rechten Winkel angefahren und durchörtert werden musste. Dadurch waren die Störungen dank vorauseilenden Sondierbohrungen überblickbar und beim Vortrieb relativ rasch durchfahrbar. Horizontale Schichten konnten hingegen, wenn sie von horizontal verlaufenden Störungen begleitet werden, ernsthafte und langwierige Hindernisse für einen Vortrieb der Tunnelbohrmaschine (TBM) sein. Bei Baubeginn waren 48 bautechnisch relevante Störzonen prognostiziert worden, von denen einige beim Vortrieb nicht angetroffen wurden. Im Gegenzug sind diverse unerwartete geologische Störungen eingetreten, sodass die effektive Anzahl deutlich grösser als die ursprüngliche Annahme gewesen sein dürfte. Im Folgenden werden drei repräsentative Beispiele von grossen Störungen sowie ihre Bewältigung näher beschrieben.

Tavetsch: nachgiebiger schwerer Einbau

Der nördliche Teil des Tavetscher Zwischenmassivs (TZM) ist eine unregelmässige Formation aus Schiefern, Phylliten und schiefrigen Gneisen. Seine geologische Erkundung erfolgte weitgehend im Vorfeld des Tunnelbaus. Der kritische Nordabschnitt ist 1150 m lang und weist eine Überlagerung von rund 800 m auf.

Seit den ersten Vorprojekten rechnete man mit grossen bautechnischen Schwierigkeiten aufgrund schwerer Druckerscheinungen in dieser Störungszone, weshalb neben diversen anderen Sondierbohrungen bereits 1997/98 eine 1750 m lange Schrägbohrung vom Talgrund bis unter Tunnelniveau abgeteuft wurde. Die Bohrungen zeigten auf, dass das Gebirge ein kleinräumiges Gemenge von weichen, duktil brechenden Gesteinen und harten, spröd brechenden Gesteinen ist – eine tunnelbautechnisch sehr anspruchsvolle Kombination. Von Anfang an war auch klar, dass ein zweispuriger Tunnelquerschnitt in einer derartigen Formation weder realisierbar noch stabilisierbar war und dass eine solche kritische Formation von einem nahe gelegenen Zwischenangriff aus angegangen werden musste, um nicht den gesamten Bau zu hemmen. So waren die Voruntersuchungen im TZM Nord mitentscheidend für das definitive Layout des GBT: zwei separate Röhren und ein Zwischenangriff mit Schacht bei Sedrun.

Wie aber sollte die kritische, 1150 m mächtige Zone in druckhaftem, mal weichem und duktilem, mal hartem und sprödem Gestein ausgebrochen und gesichert werden? Oder: Wie soll ein Tunnel gebohrt werden, wenn der frisch ausgebohrte Querschnitt sofort enger wird?[2] Ein vergleichbares Vorhaben war in der Schweiz in diesen Dimensionen noch nie angegangen worden. Diese als Konvergenz bezeichnete Phänomene wurden bislang erst an kleineren Ausbruchquerschnitten in anderen Gesteinen beobachtet und analysiert. Die Tunnelbautechnik berücksichtigt dazu zwei Bauprinzipien: das Widerstandsprinzip, bei dem der Tunnelquerschnitt so stark ausgebaut wird, dass er durch das Gebirge nicht zusammengedrückt werden kann. Diese Bauweise ist zuletzt in den 1990er-Jahren in Italien beim Bau der Transversalen durch den Apennin angewendet worden – respektive ist aus dem Kohlebergbau seit den 1930er-Jahren als Ausweichprinzip bekannt. Das Gebirge wird zusätzlich ausgebrochen, um mehr Raum zur Ausdehnung und zum Spannungsabbau zu schaffen.

In Vorversuchen zeigte sich bald, dass die Überlagerungshöhe im TZM von 800 m kombiniert mit dem grossen Ausbruchdurchmesser bis 13 m von einem Bauprinzip allein nicht bewältigbar war. Die Lösung brachte eine Verschmelzung beider Bauweisen – ein Novum im Tunnelbau: italienische Tunnelbauweise mit schwerem Ausbau für hohen Widerstand und deutsche Bergbaumethode mit Mehrausbruch und nachgiebiger Sicherung, um dem Gebirgsdruck auszuweichen. Der technische Aufwand stieg allerdings an: Radial wurden bis 70 cm mehr ausgebrochen, um die Konvergenz aufzufangen. Zudem wurden Anker für die Ortsbrustsicherung sowie nachgiebige, deformierbare und nachstellbare Stahlbögen zur Profilsicherung eingesetzt. Als weiteres Sicherungsmittel in diesem engen Raum wurde der mehrfach bewehrte Spritzbetonausbau für die Felssicherung gewählt. So gelang es, die 1150 kritischen Meter vom Zwischenangriff Sedrun aus in Tagesschritten von über 1 m langsam, aber stetig zwischen Januar 2005 und November 2007 auszubrechen und zu sichern.

Piora: High Noon mit Happy End

Wie Aufschlüsse an der Erdoberfläche und erste tastende Sondierungen noch vor Projektierungsbeginn befürchten liessen, lauerte an der Grenze zwischen dem Gotthardmassiv und der Penninischen Gneiszone ein geologisches Ungeheuer auf die Tunnelbauer: Der einige hundert Meter mächtige Zwischenraum zwischen den Hauptformationen ist bis in eine unbekannte grosse Tiefe mit zuckerkörnigem Dolomit unter hohem Wasserdruck ausgefüllt. Die Gebirgsüberlagerung beträgt an dieser Stelle rund 1800 m. Die Befürchtung war daher, dass dies für den Tunnelbau ein fast unüberwindliches Hindernis darstellt. Um Klarheit über das effektive Gefährdungspotenzial der Pioramulde zu erhalten, wurde vor 20 Jahren ein Sondierstollen von der Lukmanierpassstrasse bis zur Mulde erstellt. Das damalige Ergebnis hätte beinahe das Aus für das GBT-Projekt bedeutet.

Der mit einer Tunnelbohrmaschine vorgetriebene, horizontal angelegte Sondierstollen mit 5 m Durchmesser lag jedoch rund 300 m höher als das Niveau des geplanten Basistunnels. Auf dieser Höhe ist die Pioramulde rund 200 m breit und tatsächlich mit zuckerkörnigen Dolomit und Wasser unter hohem Druck gefüllt. Das mussten die Tunnelbauer am 31. März 1996 schmerzhaft erfahren, als vor dem Anbohren der Mulde grosse Wasser- und Sandmengen in den Sondierstollen einbrachen. Der Einbruch konnte gestoppt werden, aber der Basistunnel schien infrage gestellt. Weil die Tunnelbauer nicht aufgeben wollten, erkundeten sie auch die tieferen Gebirgslagen in der Umgebung der Pioramulde mit vier Sondierbohrungen. Erst dadurch wurde der glückliche, unerwartete und das Projekt in der ursprünglichen Form rettende Umstand aufgedeckt: Unterhalb des Sondierstollenniveaus verengt sich die klaffende Störungszone nicht nur, sondern wird auch rund 50 m über dem GBT-Niveau mit einem sogenannten Gipshut, einer harten, wenige Meter dicken wasserdichten Schicht, verschlossen. Die Mulde erstreckt sich zwar weit unter das Niveau des Basistunnels; sie ist aber mit kompaktem, gut zu bearbeitendem Anydritgestein gefüllt und führt kein Wasser. Damit war die zeitweise zum Schreckgespenst hochstilisierte Pioramulde zum überblickbaren geotechnischen Hindernis geschrumpft. Die 26 Sondierbohrungen mit einer Gesamtlänge von rund 8300 m bis auf Tunnelniveau liessen eine rund 125 m lange Strecke erwarten, mit festem, trockenem und leicht zu bearbeitendem Dolomit-Anhydritgestein (Dolomitmarmor). Der problemlose TBM-Ausbruch dieses Abschnitts in nur zwei Wochen im Herbst 2008 konnte dies bestätigen.

MFS Faido: teure Überraschung

Vor dem Südportal verläuft der Tunnel durch wenig problematisch eingestuften Leventina-Gneis. Trotzdem sind beim Ausbruch der MFS Faido unerwartete und in ihrem Ausmass überraschende Störungszonen aufgefahren worden. Die Schichtung des Gesteins erwies sich als dermassen komplex und kleinräumig, dass die Befunde beim Ausbruch der ersten Röhre praktisch nicht auf die nachfolgende zweite Röhre im Abstand von rund 30 m übertragen werden konnten. Der Vortrieb nach dem Sprengverfahren war wegen der permanenten Gefahr von Niederbrüchen nur unter grössten Vorsichtsmassnahmen überhaupt möglich. Schliesslich wurde der widerspenstige zerklüftete Fels im Übergang vom Lucomagno- zum Leventina-Gneis, der entgegen den Prognosen genau durch die projektierte Multifunktionsstelle verlief, als zu grosses bautechnisches Risiko für den Ausbruch der Verzweigungskavernen mit bis zu 250 m² Querschnitt eingestuft. Die Lösung dieses Problems war die Verschiebung der grossen Kavernen für die Verzweigungen und Spurwechsel um rund 600 m nach Süden in den stabilen Leventina-Gneis, der keine aussergewöhnlichen Baumassnahmen erforderte.


Anmerkungen:
[01] Franz Keller in: SIA-Dokumentation D 025, AlpTransit-Tagung 2005, S. 72.
[02] In diesem druckhaften Gestein gibt es keine lineare Beziehung zwischen dem Ausbauwiderstand – der für die Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Tunnelquerschnitt und gewachsenem Gebirge erforderlich ist – und der radialen Verschiebung, d. h. der Zunahme des ausgebrochenen Querschnitts.

11. Dezember 2015 TEC21

(K)eine zweite Röhre

Der Gotthard hat seinen festen Platz im historischen und emotionalen Inventar der Schweiz. Nun steht er erneut im Fokus der Diskussion. Im Februar 2016 wird das Stimmvolk entscheiden, ob die Instandsetzung des Strassentunnels mit oder ohne den gleichzeitigen Bau einer zweiten Röhre ausgeführt werden soll.

Der Gotthard-Strassentunnel ist das Kernstück einer wichtigen Nord-Süd-Route. Im Schnitt durchfahren ihn täglich über 17 000 Fahrzeuge (vgl. Grafik zu den jährlichen Zahlen).

35 Jahre nach seiner Eröffnung muss der 16.9 km lange, nicht richtungsgetrennte Gotthard instand gesetzt werden, entschied das Bundesamt für Strassen (Astra) Anfang August 2008. Dazu muss der Tunnel gesperrt werden, das ist unbestritten. Doch was passiert währenddessen mit dem Verkehr? Um den Verkehrsfluss aufrechtzuerhalten, stehen verschiedene Varianten im Raum: Sperrung, Umleitung, Bahnverlad oder der Bau einer zweiten Röhre.

Der Bundesrat entschied sich 2012, vor der In­standsetzung der bestehenden Röhre einen zweiten Tunnel zu bauen. Dies sei die beste Lösung (vgl. «Eine verpasste Chance»). Ende September 2014 stimmte auch der Nationalrat einer Parallelröhre zu. Geplant ist deren Bau ab 2020. Sieben Jahre später soll der be­stehende Strassentunnel gesperrt und instand gesetzt werden. Ab 2030 wären dann beide Röhren einspurig, richtungsgetrennt befahrbar, die zweite Spur würde als ­Pannenstreifen dienen. Für Neubau und Instandsetzung der alten Röhre schätzt das Astra die Kosten auf rund 2.8 Milliarden Franken.

Angeführt vom Verkehrs-Club Schweiz und vom Verein Alpen-Initiative wurde gegen diesen Beschluss das Referendum ergriffen und kam im Februar 2015 mit 75 872 gültigen Unterschriften zustande. Die Volksabstimmung findet am 28. Februar 2016 statt. Nach 1994 (Alpenschutzinitiative) und 2004 (Gegenvorschlag zur Avanti-Initiative) kann das Volk zum dritten Mal über den Bau eines zweiten Strassentunnels durch den Gotthard entscheiden. Bisher sagte es Nein.

Vor zehn Jahren war der Bau damit begründet worden, dass man die Verkehrskapazität erhöhen ­wolle. Das schliesst der Bund diesmal explizit aus (vgl. «‹Alle rationalen Argumente sprechen für unser Konzept›»). Befürworter und Gegner diskutieren nicht nur über Kapazitäten, sondern auch über Tunnelsicherheit, Investitionen und das Tessin.

Bei einem Ja im Februar wäre die Marschrichtung klar, die Politik hat sich entschieden, die Planungsbüros stehen in den Startlöchern. Um die Sanierungsarbeiten am Gotthardtunnel ohne eine zweite Röhre durchzuführen, müssen die Last- und Personenwagen auf die Bahn verladen werden. Dafür kann die bestehende Verkehrsinfrastruktur genutzt werden (vgl. «Die Lösung liegt auf der Schiene»).

Die Bedeutung des Gotthards in der Schweizer (Verkehrs-)Geschichte mag ein Grund sein, warum diese Fragen emotionaler diskutiert werden als üblich.

11. Dezember 2015 TEC21

«Alle rationalen Argumente sprechen für unser Konzept»

Der Direktor des Bundesamts für Strassen, Jürg Röthlisberger, gehört zu den vehementesten Befürwortern einer Parallelröhre für den Gotthard-Strassentunnel. TEC21 hat sich mit ihm über die Abstimmung im Februar, die Tunnelsicherheit, die Instandsetzung und den Neubau unterhalten.

TEC21: Herr Röthlisberger, der Gotthard-Strassen­tunnel wurde 1980 eröffnet. Instandsetzungs­massnahmen sind unumgänglich. In Kürze: Welche sind das?
Jürg Röthlisberger: Einerseits geht es ganz klassisch um die Erhaltung der bestehenden Bausubstanz. Vor allem die Tunneldecke, der Belag und die elektromechanischen Anlagen müssen ersetzt werden. Andererseits geht es darum, den Tunnel an die heute geltenden Sicherheits- und Umweltnormen anzu­passen. Ein Beispiel ist die Beherrschung der Längsströmung. Heute können wir diese im Gotthard kaum beeinflussen. Das möchten wir mit der Instandsetzung ändern, um im Brandfall die Luft, die sich schnell ausbreitet und toxisch ist, lokal absaugen zu können.

TEC21: Die Norm sieht für Neubauprojekte eine Höhe des verkehrstechnischen Nutzraums von 5.20 m vor. Im Gotthard soll die Zwischendecke angehoben werden, um eine Höhe von 4.80 m zu erreichen. Genügt das?
Jürg Röthlisberger: Wenn wir bei den Massnahmen zur Erhöhung der Sicherheit in allen unseren 239 Tunnels die Neubaunorm anwenden würden, müssten wir fast jedes Mal neu bauen. Deshalb wird jeder Tunnel risikotechnisch analysiert, um zu sehen, wie weit man von der Norm abweichen kann. Am Gotthard gehen wir mit 4.80 m kein zusätzliches Risiko ein. Die Höhe erfordert lediglich etwas komplexere Systeme für die Überkopfsignalisation, aber das ist sicherheits­technisch machbar.

TEC21: Wann müsste die Instandsetzung spätestens umgesetzt sein, damit der Tunnel sicher betrieben werden kann?
Jürg Röthlisberger: Bis 2025. Wenn wir die Anlage entsprechend unterhalten und sogenannte Überbrückungs­massnahmen umsetzen, können wir das Bauwerk in extremis bis 2035 sicher betreiben.

TEC21: Was meinen Sie mit Überbrückungsmassnahmen?
Jürg Röthlisberger: Als wir vor sieben Jahren mit der Projektierung der Instandsetzung angefangen haben, gingen wir zum Beispiel davon aus, dass wir die bereits heute teilweise schadhafte und statisch unterdimensionierte Zwischendecke komplett austauschen müssen, dazu eine Vollsperrung nötig ist und die Kosten bei rund 250 Millionen Franken liegen. Inzwischen haben wir das Bauwerk weiter untersucht und mit der Empa materialtechnologische Versuche gefahren. Heute sind wir überzeugt, dass die Überbrückungsarbeiten während der Sperrnächte zwischen Frühling und Herbst auszuführen sind, wenn der Pass offen ist – immer noch für rund 250 Millionen Franken. Wir können den heutigen Zustand mit materialtechnologischen Massnahmen bis maximal 2035 konsolidieren. Ein einfaches Beispiel: Indem man die Decke speziell beschichtet, werden die Chlorideinträge reduziert.

TEC21: Überbrückungsmassnahmen allein genügen nicht. Um umfassend instand setzen zu können, schlägt das Astra vor, eine zweite Röhre zu bauen. Was spricht dafür?
Jürg Röthlisberger: Die rationalen Argumente. Wer sich auf die Ratio einlässt, kommt um das Konzept von Bundesrat und Parlament nicht herum. Weil es das einzige ist, das einen bleibenden Mehrwert schafft. Die nächste Instandsetzung wird in rund 30 Jahren fällig sein. Die Unterhaltszyklen werden sogar eher kürzer.

TEC21: Wie begründen Sie das?
Jürg Röthlisberger: Wir haben heute eine Richtungstrennung von Hamburg bis Göschenen und von Airolo bis Savona, aber nicht im längsten Alpentunnel der Welt. Der zweite Grund ist: In rund 30 Jahren muss erneut instand gesetzt werden, wobei die Unterhaltszyklen eher kürzer werden, da die Tunnelanlage nicht jünger wird. So gesehen ist die Investition in eine zweite Röhre auch eine Investition in künftige Generationen. Wenn wir eine Ersatzinfrastruktur für den Bahn­verlad erstellen, müssen wir wiederkehrend alle 30 Jahre temporäre Anlagen bauen und brauchen dafür das Geld und die Flächen. Zum Dritten geht es darum, den Verkehr während der wiederkehrenden Realisierungszeiten zu organisieren. Wir bauen für viel Geld die Neat und wollen die Güter auch auf dieses Förderband bringen. Es gilt aber zu bedenken, dass das Verlagerungsziel am Gotthard bei rund 500 000 Lastwagen pro Jahr zu 100 % erreicht ist. Das entspricht rund 60 % des heutigen Verkehrs.
Das heisst nicht nur, dass die vom Volk beschlossene Verlagerung ohne Wenn und Aber umgesetzt werden soll, sondern auch, dass alle kommenden Generationen das Verkehrsproblem während der Gotthard-Instandsetzungen lösen müssen.

TEC21: Um die Sicherheit im Tunnel zu erhöhen …
Jürg Röthlisberger: … Ein Wort noch zur Sicherheit. Unter den Gegnern einer zweiten Röhre sind viele Vertreter des öffentlichen Verkehrs, der öV war und ist das Verkehrssystem, bei dem die Sicherheit unverhandelbar ist. Dafür habe ich Verständnis, aber ich finde es intellektuell nicht redlich und gegenüber unserer Kundschaft eine Zumutung, dass man der Strasse eine Richtungstrennung im Gotthard nicht auch zugesteht. Einem Verkehrssystem, das per se unsicherer ist. Nach Aussagen des BAV würde es heute ein Projekt im Gegenverkehr aus Sicherheitsgründen nicht genehmigen – und das bei einem spurtreuen Fahrsystem. Aber bei der Strasse hält man das für zumutbar. Das nehme ich den Gegnern unserer Lösung übel. Allerdings ist das der einzige Punkt, bei allem anderen kann man geteilter Meinung sein, sofern man die Emotio höher gewichtet als die Ratio.

TEC21: Die Richtungstrennung, die Instandsetzung, die kürzer werdenden Unterhaltszyklen und eine misinterpretierte Verlagerung sind für Sie wichtige Gründe. Gibt es weitere?
Jürg Röthlisberger: Nicht zu vernachlässigen sind politische und gesellschaftliche Gründe. Ein ganzer Landesteil, eine Sprach- und Kulturregion würde einfach abgehängt. Und wenn das kein Abhängen ist, müsste man sich fragen, wieso man dann früher überhaupt einen Tunnel gebaut hat. Das Tessin pocht zurecht darauf, nicht nur ein Ferienland zu sein, sondern auch eine Wirtschaftsregion.

TEC21: Spielen in diesem Zusammenhang die übergeordneten Transitkorridore eine Rolle?
Jürg Röthlisberger: Selbstverständlich sind die Korridore sowohl innerschweizerisch als auch europäisch bedeutend. Und sie bleiben es auch, wenn die Verlagerung zu 100 % umgesetzt ist. Zudem sind wir durch das Landesverkehrsabkommen verpflichtet, diese Achse offen zu halten. Kapazität haben wir mehr als genug, sie reicht nur bei der absoluten Spitzenbelastung nicht aus. Aber auch andere Verkehrsinfrastrukturen in der Schweiz sind nicht auf die Spitzenbelastung ausgelegt. Wenn die nächste Generation eine dritte oder vierte Röhre bauen wird, ist das ihr Recht.

TEC21: Welche Elemente einer zweiten Röhre wären nach dem Bau an der Oberfläche sichtbar?
Jürg Röthlisberger: Landschaftlich sind die Eingriffe minim. Heute haben wir sechs Lüftungskamine in recht gutem Zustand. Sie müssen erst in ca. 30 Jahren unterhalten werden. Die zweite Röhre würde diese mitbenutzen, weil der Verkehr ja nicht zunimmt. Von aussen betrachtet, gäbe es nach dem Bau keine Änderung gegenüber heute. Nach der Sanierung wird der Verkehr in beiden Richtungen einspurig und richtungsgetrennt geführt werden und die heutigen Portale nutzen.

TEC21: Sie sind überzeugt, dass der Verkehr im Tunnel nicht zunimmt? Eine nächste Generation könnte das aber ändern.
Jürg Röthlisberger: Genau. In der direkten Demokratie hat jede Generation das Recht, das zu tun, was ihr unter dem jeweiligen Eindruck der Rahmenbedingungen und der Werte richtig erscheint, bis hin zur Anpassung der Bundesverfassung. Mein Eindruck ist, die Gegner der zweiten Röhre beanspruchen für sich, dass ihr Gedanke, der vor 30 Jahren richtig war und auch heute richtig ist, noch in 100 Jahren richtig ist. Keine Generation hat aber das Recht, die Welt so zu ge­stalten, dass nächste Generationen keine Hand­lungs­optionen mehr haben. Wir wollen so investieren, dass die kommende ­Generation etwas davon hat. Und wenn sie eine dritte oder eine vierte Röhre am Gotthard bauen wird oder umgekehrt alle Röhren am Gotthard schliessen wird, ist das ihr Recht.

TEC21: Ein Argument, das die Gegner anführen, ist die Macht des Faktischen.
Jürg Röthlisberger: Das ist ein ernst zu nehmendes Argument: Ich habe vier Spuren, also nutze ich sie auch. Aber im übertragenen Sinn gilt das für viele Lebensbereiche. Ein Beispiel: Es gibt in Bern viele Tempo-30-Zonen, mein Auto kann aber 180 km/h fahren, darf ich dann dort nicht durchfahren?
Es gibt nicht den geringsten Grund, dass man ausgerechnet in der Schweiz davon ausgehen sollte, dass das, was in der Verfassung steht – und jetzt neu noch mit dem Tropfenzählersystem auf Gesetzesstufe bestätigt wird – irgendwo auf einer niederen Beamten­ebene umgangen wird. Das ist schlicht ausgeschlossen. Wahrscheinlich gibt es kein anderes so gut beobachtetes Objekt wie den Gotthard.

TEC21: Wie geht es bei einem Ja für das Astra weiter?
Jürg Röthlisberger: Zunächst würde es mich persönlich freuen, wenn sich die rationalen Gedanken durchsetzten und es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind. Natürlich wäre es auch ein Auftrag, eine Verantwortung und der Druck, zu beweisen, dass die Projekte realisierbar sind, und zwar in der geplanten Zeit und im prognostizierten Kostenrahmen.
Fatal wäre, wenn die Kosten aus dem Ruder laufen würden. Aber ich bin überzeugt, dass die 2.8 Milliarden Franken ausreichen. Was ich bei den Verladeanlagen nicht unbedingt so sehe, das mag tendenziös tönen, ist aber eine ehrliche Aussage. Es würde mich freuen, wenn es am Gotthard eine Abstimmung gäbe, bei der nicht die Emotionen ausschlaggebend sind.

TEC21: Und die Realisierungszeit?
Jürg Röthlisberger: Wir möchten vor 2035 eine zweite Röhre gebaut und die Instandsetzung abgeschlossen haben. Das ist herausfordernd, aber lösbar. Zeitlich kritisch sind die Auflageverfahren. Wir müssen ein Projekt vorlegen, das mit den Regionen gut abgestimmt ist. Beim Gotthard-Basistunnel waren auch vergaberechtliche Gründe für eine Verzögerung verantwortlich. Daraus haben wir gelernt und werden alles tun, damit uns das nicht passiert.

TEC21: Was würde ein Nein für Sie bedeuten?
Jürg Röthlisberger: Dann nehmen wir das sportlich, aber es würde mir grosse Sorgen machen. Nicht die Instandsetzung, aber der Bau der Verladeanlagen. Die Kantone Uri und Tessin wollen keine Verladeanlagen. Niemand möchte diese Flächen, die in ihrer Auslegung ein Abbild derjenigen von Dover und Folkestone sind. Dann bräuchte es Enteignungen, grundsätzlich dürfen wir das als Bund, aber es ist demokratisch heikel und braucht Zeit. Der Super-GAU wäre, wenn wir den Tunnel schliessen müssten, ohne ein Ersatz­angebot machen zu können.

TEC21: Was machen Sie dann?
Jürg Röthlisberger: Das weiss ich auch nicht. Klar kann man versuchen, einen Teil der Güter zusätzlich durch den Gotthard-Basistunnel zu schicken, aber das verzögert den Passagierverkehr, und auch die Lang-RoLa bräuchte irgendwo zusätzliche Verladeflächen. Die Kurz-RoLa würde die Verlagerung sogar konkurrenzieren, denn Verlagerung heisst nicht von Airolo nach Göschenen, sondern von Grenze zu Grenze. Die Rückfallebene, sprich der Bahnverlad, kämpft mit den gleichen Risiken wie die zweite Röhre, nur ausgeprägter: Kostensicherheit und Realisierbarkeit. Hinzu kommt, dass diese Rückfallebene landschaftlich hässlich ist.

TEC21: Die Stimmbürger können nur zwischen einer ­Instandhaltung mit einer zweiten Röhre und einer Instandhaltung ohne den Bau einer zweiten Röhre wählen. Andere Alternativen gibt es nicht?
Jürg Röthlisberger: Nichts zu machen ist keine Option. Denn die Achse muss man allein aus wirtschaftlichen Gründen offen halten. Wenn nicht, würde das zu einer starken Verdrängung auf die anderen Achsen führen, auf die San-Bernardino- oder die Simplon-Route und den Grossen St. Bernhard. Diese Strecken sind noch unsicherer, ausserdem ist es energetisch unsinnig, 40-Tonner auf 2000 m zu jagen. Unser Auftrag von Parlament und Bundesrat lautet: Während der Dauer der Schliessung des bestehenden Tunnels müssen wir ein Ersatzangebot organisieren. Eine Variante ohne Ersatzangebot ist nie ernsthaft diskutiert worden, denn die Auswirkungen wären katastrophal – innerschweizerisch und international.

TEC21: Warum ist die Situation gerade am Gotthard so emotional?
Jürg Röthlisberger: Neben dem Mythos Gotthard, der hier sicher mitschwingt, werden die Themen vermischt. Die Instandsetzung des Gotthard-Strassentunnels ist eine Konkurrenz im Sanierungsportfolio. Das ist richtig. Sie steht aber nicht in Konkurrenz zu Projekten der Engpassbeseitigung. Es ist unsere Aufgabe, zu priorisieren und das Netz ganzheitlich gesund zu halten.

6. November 2015 TEC21

Vom Wohnzimmer ins Fahrzeug

Die Anforderungen an die öffentlichen Verkehrsmittel sind enorm gestiegen. Der zunehmenden Komplexität steht die lange Lebensdauer der Fahrzeuge gegenüber – Gestalter und Ingenieure müssen Trends und technische Entwicklungen über mehrere Jahrzehnte antizipieren.

Beim Einsteigen zählt der erste Ein­druck. Jeder Fahrgast entscheidet individuell, ob er sich wohlfühlt oder nicht, abhängig vom Reiseziel oder vom bisher Erlebten, aber auch davon, was er in der jeweiligen Situation sieht, riecht oder hört. Unangenehmer Geruch oder störende Geräusche wiegen dabei schwerer als zum Beispiel unbequemes Sitzen. Dieses subjektive Empfinden, ge­paart mit den langen Lebenszyklen der Fahrzeuge (25 bis 40 Jahre), macht es für die Gestalter schwer, den ästhetischen und funktionalen Zeitgeist zu treffen. Das betrifft zum Beispiel die Ergonomie der Sitze, die Materialwahl, die Farbgebung oder die Art und Weise, Informationen zu transportieren. Dabei gilt: Ästhetik ist gewünscht, wird sich aber nicht durchsetzen, wenn sie zu teuer ist.

Sicherheit und Komfort für Passagiere und Chauffeure

Bezogen auf den Fahrgast geht es in erster Linie um Sicherheit, Komfort und die Konkurrenz zum eigenen Auto. Die Nachteile des motorisierten Individual­ verkehrs im urbanen Raum sind bekannt, trotzdem sind die Strassen voll. Mit einem wachsenden Verkehrs­ aufkommen ist damit zu rechnen, dass auch das Bedürfnis nach Privatsphäre im öffentlichen Verkehr steigen wird. Die Designer versuchen, den Raum in den öffentlichen Verkehrsmitteln so anzubieten, dass eine Personalisierung gelingt. «Die Wertvorstellung der Nutzer kommt aus ihrem alltäglichen Privat­ und Arbeitsumfeld.

Elemente und Funktionen aus diesen Bereichen möchten sie auch in den Fahrzeugen wieder nden», sagt Andrea Lipp, Studiendekanin Transportation Interior Design an der Hochschule Reutlingen[1].

Ein Beispiel ist die Wiederentdeckung von Holz. Diese Renaissance hängt nicht mit der früher gängigen Holzklasse zusammen, sondern damit, dass die Leitbil­ der der Innenarchitektur auf die Fahrzeuge übertragen werden. In der heutigen Form, also sphärisch verformt und ergonomisch angepasst, sind Holzsitze im Kommen. Das zeigen die Umfragen für die neue Tramgeneration in Zürich und die neuen Fahrzeuge in Basel (vgl. «Neue Drämmli» S. 30).

Bei Fahrzeugen, die sich im städtischen Umfeld bewegen, geht der Trend dahin, den Fahrer abzukapseln und ihm mehr eigenen Raum zu geben – auch um ihn vor Übergriffen zu schützen. Umgekehrt verlangt dies Gestaltungskonzepte, die der «sozialen Kontrolle» mehr Gewicht beimessen.

Die Hemmschwelle, etwas im Fahr­zeug zu zerstören oder jemanden anzugreifen, ist grund­ sätzlich höher, wenn man gesehen werden könnte. Das Fahrzeuginnere ist deshalb oft transparent gestaltet, verspiegelte Panoramafenster erlauben den Blick nach draussen, schützen aber umgekehrt vor Blicken.

Nicht zuletzt um das subjektive Sicherheitsgefühl von Fahr­gästen und Personal zu befriedigen, werden zunehmend Überwachungskameras installiert.

Gewicht, Kosten und Flexibilität sind elementar für den Betreiber

Für die Betreiber ist der Zusammenhang höheres Ge­wicht gleich höherer Kraftstoffverbrauch gleich höhere Kosten zentral. Auf innerstädtischen Linien werden Gepäckablagen immer seltener gebraucht.

Die Digita­lisierung führt zu leichterem Gepäck. Und die Fläche für die Gepäckabstellplätze füllen die Betreiber lieber mit Sitzplätzen – und damit zahlenden Kunden – als mit Stauraum. Die heutigen Sitze sind in der Regel modular aufgebaut, sodass sie sich problemlos ausbauen lassen und der Raum anders genutzt werden kann.

Ein viel diskutiertes Thema sind die Sitzbezüge in den Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs. Die Theorie, dass Sitze mit bunten Mustern seltener zerstört werden, bestätigt Andrea Lipp: «Es ist einfach nicht reizvoll, auf den bunten Mustern etwas zu malen oder zu schreiben.» Grundsätzlich könne man feststellen, dass Hochwertiges seltener zerstört werde. Oft werden die Ober ächen wegen des Vandalismus beschichtet oder mit Folien beklebt – dies ist zwar in der Anschaffung teurer, wirkt sich aber positiv auf den Unterhalt aus.

Für den Betreiber geht es beim Design in erster Linie um seinen Wiedererkennungswert, sein Image und das Erscheinungsbild. Er wird versuchen herauszufin­den, welche Farben und welche Formgebung seine Ziel­ gruppe mit welchen Eigenschaften verbindet. Die Her­ ausforderung für die Gestalter liegt zudem darin, die Fahrzeuge so zuzuschneiden, dass sie bezahlbar sind, um wettbewerbsfähig zu sein.

Möglicherweise geht ein Betreiber noch auf den kulturellen Hintergrund des Landes ein. Dies äussert sich in der Farbgebung oder der Anordnung der Sitze. Hat sich ein Betreiber entschie­ den, wird dieses Layout genutzt und über die Masse kostengünstig produziert. «Öffentliche Verkehrssysteme werden seit den 1960er­Jahren auf Massenleistungs­ fähigkeit und Wirtschaftlichkeit, aber nicht auf Reise­erlebnisse hin optimiert», sagt Lipp. Dennoch sind die Vorgaben der Verkehrsbetriebe für die Gestalter wahrscheinlich die geringste Einschränkung. Schwerer wie­gen die Vorgaben zu Material (schwer entflammbar, rutschsicher, abwaschbar, resistent gegen Feuchtigkeit), Massen (Durchgangsbreite, Kopfhöhe, Sitzabstand, Bar­rierefreiheit) oder Farbgebung (Kontrastfarben).

Vorausdenken ist entscheidend

Wegen der langen Lebenszyklen der Fahrzeuge im öf­ fentlichen Verkehr orientiert man sich bei der Gestaltung gern an ästhetischen Ideen, die sich lang gehalten haben: z. B. optische Leichtigkeit, die Hochwertigkeit suggeriert. Laut Lipp kommen auch Naturmaterialien, recyceltes Material oder insgesamt die Wiederverwertbarkeit der Materialien gut an. «Ein leichter Sitz deutet darauf hin, dass der Aufwand für die Herstellung nicht zu gross war», sagt sie.

Die künftigen Nutzer sind die heutigen Kinder­gartenkinder. In dieser Generation werden Infotainment und Digitalisierung wichtiger Bestandteil der Ausstat­tung sein. «Die Ausstattung entwickelt sich weg vom Material als Dekoration, hin zu interaktiven Materia­lien. Beispielsweise modernen Ledersitzen, die die Tem­peratur des Passagiers erfühlen und sich entsprechend erwärmen oder abkühlen.» Für neue Gestaltungsideen braucht man allerdings Platz im Fahrzeug. «Heute haben alle Fahrzeuge ihre Energiespeicher dabei oder sind dadurch in irgendeiner Form limitiert. Sobald sich die Form des Antriebs ändert, wird es wieder mehr Raum für Gestaltung geben», ist Andrea Lipp überzeugt.


Anmerkung:
[01] Die Hochschule Reutlingen (D) bietet einen Studiengang Transportation Interior Design (TID). Die Bachelor und Masterprogramme basieren auf den Themenbereichen Textiltechnologie, Textilmanagement, Textilhandel, Textildesign, Modedesign, Fahrzeuginnendesign und Künstlerische Konzeption. Die Studierenden erwerben fachübergreifend die nötige Kompetenz zur Gestaltung von Innenräumen für Verkehrsmittel aller Art – von der Konzeption bis zur praxisnahen Umsetzung. Wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist neben dem dreidimensionalen Styling des Innenraums und seiner Komponenten der richtige Umgang und Einsatz von Materialien. Weitere Informationen: www.td.reutlingenuniversity.de

30. Oktober 2015 TEC21

Besinnlichkeit mitten im Leben

Bestattungsort und Erholungsraum, Arboretum und Feinstaubalter, Parkanlage und Tierrefugium – die Friedhöfe hierzulande werden heute vielfältig genutzt. Der beschaulichen Atmosphäre beim Besuch der Anlagen stand der nüchterne Blick der Fachleute gegenüber.

Wenn heute von einem Friedhof gesprochen wird, überwiegt die Vorstellung: sauber, aufgeräumt und akkurat aufgereihte Gräber. Streifzüge durch verschiedene Schweizer Anlagen zeigen ein anderes Bild. Sie gleichen Parkanlagen, es gibt zahlreiche nicht aktiv genutzte Flächen, auf denen das Gras hoch wachsen darf. Der Friedhofsbesucher trifft auf anonyme Gemeinschaftsgräber, lange Urnenwände, historische Familiengräber oder eben die bekannten Gräberreihen. Er begegnet Menschen im Zwiegespräch mit verstorbenen Angehörigen, Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder solchen, die dort ihre Mittagspause verbringen. Menschen, die die besondere Atmosphäre schätzen. Ein Ort, der ruhig bleibt, obwohl im Hintergrund Geräusche einer hektischen und lauten Umgebung zu hören sind.

Die Friedhöfe sind abwechslungsreicher geworden und werden vielfältiger genutzt. Der Anteil der Feuerbestattungen[1] liegt heute schweizweit bei rund 85%.[2]

Dennoch wird sich die Kremation als Bestattungsform bei etwa 75% stabilisieren, dass der Anteil der Bevölkerung, der religiöse Bestattungsvorschriften kennt, zunehmen wird. Die jüdischen und die islamischen Riten gestatten es den Gläubigen nicht, die Verstorbenen einzuäschern. Darauf haben die Verantwortlichen in einigen Städten reagiert und islamische Grabfelder errichtet (vgl. «Den Toten eine Heimat», S. 28). Die jüdische Bevölkerung nutzt oft eigenständig betriebene israelitische Friedhöfe.

«Das hat einen historischen Hintergrund. Vor 100 Jahren hat man so auf die verschiedenen Religionen reagiert. Heute versuchen wir alle Religionen zu vereinen», sagt Christoph Schärer, Leiter von Stadtgrün Bern.

Stätten des Gedenkens und des Friedens

Von den eingeäscherten Verstorbenen werden heute rund 40% in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt.

Für Ein- wohner von Basel-Stadt werden pro Jahr rund 380 Bewilligungen für eine Beisetzung der Asche ausserhalb des Friedhofs erteilt. Obwohl die Anzahl in den letzten Jahren zugenommen hat, bleibt der Friedhof für die Menschen ein Ort des Abschieds, der Erinnerung und des Trosts. Für Emanuel Trueb, den Leiter der Stadtgärtnerei in Basel, ist der Gedanke absurd, dass eine Friedhofsanlage wie der Basler Zentralfriedhof Hörnli einst nicht mehr gebraucht werden könnte, weil der überwiegende Teil der Verstorbenen ausserhalb beigesetzt wird. «Das entbehrt jeder realistischen Grundlage», meint er.

«Die Angehörigen und Hinterbliebenen brauchen einen Ort, der ihnen ermöglicht, ihre Verstorbenen zu betrauern. Aber auch einen Ort, an dem sie ihre Trauer zurücklassen können, um dann ins Leben zurückzukehren. Wer eine Urne im Garten beisetzt oder zu Hause aufstellt, kann nicht loslassen», so die persönliche Einschätzung von Schärer. Es hat sich gezeigt, dass bei anonymen Bestattungen Hinterbliebene darunter leiden, nicht zu wissen, wo ihre Angehörigen bestattet wurden. Der Friedhof bietet die Möglichkeiten einer Begegnung mit den Verstorbenen und den Lebenden sowie einer Auseinandersetzung mit den Fragen von Leben und Tod. Für Trueb sind die Friedhöfe auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung gegenüber den Toten. Den Friedhof sieht er als am Ende alles zusammenführende Stätte für die Gesellschaft; als Stätte des Gedenkens, der Zusammengehörigkeit und des Friedens.

Platz ist kein Problem

Heute gibt es fast schon unübersichtlich viele Möglichkeiten einer Beisetzung. Während Familiengräber und Reihengräber für Särge oder Urnen an Bedeutung verlieren, werden Gemeinschaftsgräber immer beliebter. «Heute leben Familien oft geografisch weit verstreut. Viele Menschen können oder wollen das Grab ihrer Angehörigen nicht mehr regelmässig besuchen und pflegen», erklärt Rolf Steinmann vom Bestattungs- und Friedhofamt der Stadt Zürich. Auch der umgekehrte Fall ist häufig: Menschen, die sich mit ihrem Tod und ihrer Beisetzung befassen, entscheiden sich für ein Gemeinschaftsgrab, um niemandem zur Last zu fallen oder weil ihnen die standardisierte Anordnung der Reihengräber nicht gefällt. Doch es gibt ein Aber. «Wir haben festgestellt, dass das Gemeinschaftsgrab seine Schwächen hat», sagt Schärer. «Der Wunsch der Angehörigen, zu wissen, wo der Verstorbene bestattet ist, ist nicht zu übersehen.» Auf den Friedhöfen in Bern hat man deshalb die drei Urnenthemenfelder Rosen, Wald, Blumenblüten (vgl. Abb. S. 25 unten) vorbereitet. Dort ist es möglich, eine Tafel mit Namen und Daten aufzustellen und das Grabmal mit kleinen individuellen Zeichen zu bestücken. Die Pflege der Anlage übernehmen die Friedhofsgärtner.

Alternative Bestattungsarten werden ebenfalls immer beliebter, seien dies ein Wald für Aschebeisetzung, eine Luft- oder eine Wasserbestattung. Diese Entwicklungen führen dazu, dass die Friedhöfe trotz steigender Bevölkerungszahlen ausreichend Platz bieten. «Sofern sich die Bestattungsgewohnheiten nicht radikal ändern, reicht der Platz auf unserem Zentralfriedhof noch Jahrzehnte», sagt Trueb über den Basler Friedhof Hörnli. Platzmangel ist also nicht das Problem – im Gegenteil, denn die neuen Bestattungsformen beanspruchen deutlich weniger Raum.[4]

Familiengräber werden in der Regel nach 40 Jahren, die übrigen Gräber nach 20 Jahren Ruhezeit aufgehoben.[5] Werden sie nicht wieder belegt, entstehen Lücken in den Gräberreihen. Mancherorts wirken die Grabmale regelrecht vereinsamt. Bei Gemeinschaftsgräbern, unabhängig ob für Urne oder Sarg, liegt es in der Natur der Sache, dass sie leer wirken, obwohl Tausende auf diesen Flächen beigesetzt sind. Doch auch sie müssen unterhalten werden. Allein aus Kostengründen gibt es also ein Bestreben, attraktive und neuartige Angebote zu offerieren, um die Verstorbenen auf den Friedhöfen beisetzen zu können.

Obstgarten statt Gottesacker

Der Ökologie kommen solche Überlegungen entgegen. Der Unterhalt wird aus Kostengründen und aus ökologischen Aspekten zurückgefahren. Man rechnet mit einer Trauerphase von ein bis zwei Jahren, in dieser Zeit werden die Gräber häu g besucht und diese Abteilungen entsprechend intensiv gepflegt. Areale, wo die Toten bereits zehn Jahre oder länger bestattet sind, sind weitaus weniger frequentiert und werden dementsprechend seltener gemäht. Abgeräumte Flächen liegen drei oder vier Jahre brach, dort entwickeln sich wertvolle Flächen für Fauna und Flora. Die Artenvielfalt auf Friedhöfen ist enorm und wird durch den Anbau von Wildhecken oder, wie im Fall des Bremgartenfriedhofs in Bern, alten Apfel- und Birnensorten aktiv gefördert.[6] Wertvolle alte Baumbestände tun ihr Übriges. Den heutigen Anlagen kann ein gewisser Versuchscharakter nicht abgesprochen werden.

Schützenswerte Grabmale

Ein weiteres Experimentierfeld ist der Umgang mit den schützenswerten Grabmalen. Auf dem Wolfsgottesacker in Basel be nden sich die Familiengräber einiger Grössen der Chemie. Die Anlage steht unter Denkmalschutz; das beinhaltet die Bauwerke, den Garten und die Umfassung, nicht aber einzelne Gräber. Grabmale, die zu erhalten sind, bleiben im Besitz der Stadt und werden von der Stadtgärtnerei gepflegt. Des Weiteren gibt es Gräber, die mit Auflagen verkauft werden, zum Beispiel kann das heissen, nur die Tafel am Grabstein darf ersetzt werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Familiengrab nach der Totenruhe aufgehoben wird.

Auf Zürichs Friedhöfen kann man den Einfluss der Industrialisierung an den Familiengräbern sehen. Allein auf dem Friedhof Sihlfeld befinden sich 350 historische Gräber verschiedener Epochen. Es wird unterschieden zwischen Grabsteinen, die unter Denkmalschutz stehen, und schützenswerten Grabmalen, die handwerklich nicht unbedingt überzeugen, bei denen aber das Ensemble und die Harmonie Grund sind, dass sie nicht aufgehoben werden. Auch hier besteht die Möglichkeit, ein historisches Grab zu mieten.

In Bern gibt es ebenfalls bemerkens- und erhaltenswerte Grabmäler. Hier haben sich die Verantwortlichen gegen eine Weiterverwendung entschieden. Die Gräber werden zwar nicht abgeräumt, aber auch nicht verkauft,nurminimalunterhaltenundweitgehenddem natürlichen Verfall überlassen.

Multikulturalität auf den Friedhöfen

Damit alle Religionen ihre Verstorbenen nach ihren Gebräuchen auf Schweizer Friedhöfen bestatten könnten, brauche es manchmal einen Kompromiss, sagt Schärer. «Wir haben das Grabfeld für die Muslime so eingerichtet, dass die Ausrichtung stimmt und der Kopf nach Mekka geneigt werden kann, auch wenn diese Anordnung nicht dem vorgesehenen Raster der ursprünglichen Anlage entspricht. Die Bestattung muss aber zwingend in einem Sarg erfolgen.» Das ist aufgrund der Hygienevorschriften wichtig. In den Ursprungsländern werden die Leichname meist in Tüchern eingewickelt beigesetzt.

Der Wunsch nach einem eigenen Grabfeld von muslimischen Einwohnern ist relativ jung. Die ersten Bestattungen stammen aus den frühen 2000er-Jahren. Die vorhergehenden Generationen wurden oft noch ins Heimatland überführt. Ganz untypisch für die muslimischen Gep ogenheiten ist der Grabschmuck, den man oft antrifft. Schärer sieht darin ein Zeichen für eine gelungene Integration.

Eine Herausforderung für die Friedhofsverwaltung in Bern ist die Au age, dass es auf künftigen muslimischen Grabfeldern zuvor keine Urnenbestattung geben durfte. «Wir haben noch solche Flächen auf den Friedhöfen», erklärt Schärer. «Zudem gibt es ausserhalb Reserveflächen, die wir mobilisieren könnten. Zurzeit befindet sich auf dieser Fläche eine Sportanlage.»

Powernap und Totenruhe

Der Friedhof als Ort für kulturelle Anlässe: Ausstellungen, Theateraufführungen, Lesungen oder Führungen zu prominenten Persönlichkeiten sind für Rolf Steinmann Möglichkeiten, auf die Themen Tod und Friedhof aufmerksam zu machen. Es sind Themen, die man gern von sich wegschiebt. «Wir möchten mit unseren Angeboten den Menschen helfen, einen Zugang zum Umgang mit dem Tod zu finden, und darüber hinaus den Räumlichkeiten einen Wert geben, wie dem alten Krematorium.»[7]

Er gibt aber auch zu, dass man sich in einem Spannungsfeld bewegt, wenn der Friedhof zum Park wird.

Insgesamt halten sich die Besucher an die Regeln und verhalten sich entsprechend, z.B. durch Vermeidung von Geschrei oder lautem Lachen. Dennoch sind die Grenzen subjektiv: Für manche ist das Sonnen oder der Konsum von Nahrungsmitteln bereits ein Tabu. Deshalb ist es wichtig, in gutem Kontakt mit der Bevölkerung zu stehen und auch über Werte zu diskutieren. «Ich möchte möglichst wenig verbieten und möglichst viel ermöglichen», sagt Steinmann. Dies biete auch die Chance, den Friedhof positiv wahrzunehmen. Ihm gehe es darum, Altbewährtes zu erhalten, ohne sich Neuem zu verschliessen.

Auf dem Bremgartenfriedhof möchte man aktiv einen ersten Schritt machen und Teile der Anlage als öffentlichen Park nutzen. Ein Bereich ist dabei für ruhige Freizeitnutzungen wie Lesen oder Sonnenbaden vorgesehen. Er liegt in unmittelbarer Nähe zu den aktiv genutzten Urnenthemenfeldern und soll baulich nicht abgegrenzt werden. Auf dem angrenzenden Areal – der ehemaligen Friedhofsgärtnerei – darf es auch mal lauter werden. Der entstehende Park dient künftig als Reserve äche und wird deshalb nicht verkauft oder gar überbaut. Man müsse den Friedhof als Ganzes sehen; es würde die Ruhe auf der Anlage erheblich beeinträchtigen, wenn Teile abgetrennt würden, sagt Christoph Schärer. Auf diese Art kann man all jenen, die einen besinnlichen Ort mitten im Leben suchen, entgegenkommen. Schärer gibt weiter zu bedenken: «Wir planen bei Friedhöfen in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. Die Entwicklung auf Jahrzehnte vorauszusehen ist schlicht nicht möglich. Derzeit ist glücklicherweise kein grosser Druck für eine Umnutzung vorhanden.»

Emanuel Trueb meint: «Sollte der Druck zu gross werden und müsste man den Zentralfriedhof Hörnli aufgeben und zum Beispiel als Bauland nutzen, wäre das aus Sicht der Trauernden kein Problem. Die Umnutzung von Friedhöfen hat in Basel, wie auch in anderen Grossstädten, Tradition.» An Plätzen, wo einst die Toten ruhten, rauscht heute der Verkehr, stellen Cafés ihre Tische nach draussen oder gastieren wie in Basel Zirkusse und die Herbstmesse. Aus alten Friedhöfen wurden meist Parkanlagen, viel seltener wurden sie überbaut. Aufgrund des explosionsartigen Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert wurde es auf den vorhandenen Friedhöfen eng. Auch die Aussicht, durch Feuerbestattungen Platz zu sparen, half nicht, und viele Städte eröffneten neue Anlagen – oft auf der grünen Wiese. Dass die heutigen Friedhöfe umgenutzt werden, ist aus vielen Gründen unwahrscheinlich, aber, wie die Geschichte zeigt, nicht unmöglich. Trotzdem wäre es wünschenswert, dass Friedhöfe in Zukunft keine Grünflächen unter anderen sind, sondern dass den Menschen ihre Sonderstellung aus kultureller und ökologischer Sicht wichtig bleiben wird.


Anmerkungen:
[01] Grundsätzlich gibt es nur zwei Bestattungsarten, die Erd- und die Feuerbestattung. Aus deren Wahl ergeben sich dann verschiedene Möglichkeiten einer Beisetzung.
[02] Statistik «Kremationen in der Schweiz», Schweizeri- scher Verband für Feuerbestattung SVFB, 1889–2014.
[03] Peter Gabriel, Franz Osswald (Hrsg.): Am Ende des Weges blüht der Garten der Ewigkeit, 75 Jahre Friedhof am Hörnli, Bestattungskultur im Kanton Basel-Stadt, 2007, S. 303.
[04] Laut Friedhofsverwaltung braucht ein Reihengrab für Urnen rund ein Drittel weniger Fläche als ein Reihengrab für eine Erdbestattung, die Aufbewah- rung in einer Urnennische spart noch mehr Platz und das Gemeinschaftsgrab oder die Gruft sowieso. Auf wenigen Quadratmetern werden Tausende Verstorbene beigesetzt.
[05] Seit 1846 gilt in der Schweiz eine Totenruhe, das heisst ein Turnus der Wiederbelegung von Gräbern, von 20 Jahren. Auf dem Friedhof Hörnli in Basel wird rund ein Drittel der Urnen, die herausgenommen werden, wieder beigesetzt.
[06] Stadtgrün Bern: Der Bremgartenfriedhof, Ein Spaziergang mit Geschichten, 2015.
[07] Christine Süssmann, Daniel Müller: Kremation, Vom Verbrennen der Toten in Zürich, 2013.

5. Juni 2015 TEC21

Tagbautunnel gegen den Lärm

Die A1 soll zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel umhüllt werden. Für die Autofahrer entsteht ein Tunnelbauwerk, für die Quartierbewohner ein Grün- und Freiraum auf dessen Dach.

Der Streckenabschnitt zwischen dem Autobahnkreuz Aubrugg und dem Schöneichtunnel zählt zu den meistbefahrenen Verkehrsachsen in Zürich. Mehr als 110 000 Fahrzeuge benutzen die A1 in diesem Bereich täglich. Sie gilt als die wichtigste nördliche Einfahrachse in der Agglomeration Zürich. Lärm- und Feinstaubbelastungen liegen hier regelmässig über den zulässigen Grenzwerten, teilweise über den Alarmwerten.

1980 wurde erstmals in Lärmschutzmassnahmen wie Schallschutzglas und Schutzmauern investiert, doch der Lärmpegel sank nur punktuell. Als Eigen­tümer ist das Bundesamt für Strassen (Astra) jedoch gemäss Umweltschutzgesetz und der seit 1987 geltenden Lärmschutzverordnung verpflichtet, Stras­senabschnitte zu sanieren, die übermässigen Lärm verursachen. Seit einigen Jahren verfolgen der Bund, der Kanton und die Stadt Zürich deshalb die Idee, die Nationalstrasse mit einem Tagbautunnel zu umschliessen. Die Geneh­migung des Projekts durch das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunika­tion (Uvek) steht bevor.

Die Lage der Autobahn bleibt im Wesentlichen bestehen, die Fahrspuren werden weiterhin richtungsgetrennt geführt. Die Einhausung schliesst in Richtung Stadtzentrum direkt an den bestehenden Schöneichtunnel an. Gemäss den Richtlinien des Bundes ist diese Kombination als zusammenhängende Tunnelanlage zu betrachten. Dadurch wird der Schöneichtunnel erheblich länger und muss lüftungs- und sicherheitstechnisch besser ausgerüstet werden. Zudem werden die Rasterdecke Waldgarten geschlossen und beim Westportal Tierspital ein neues Lüftungsbauwerk mit Abluftkamin erstellt. Die Einhausung und das Lüftungsbauwerk sollen die Luftqualität auf der Strecke zwischen den Portalen Aubrugg und Tierspital verbessern. Auf der Überdeckung entsteht ein Hochpark. Durch Treppen, Lifte, Rampen sowie die Auf­weitung und Neugestaltung der Unterführung ­Saat­lenstrasse soll die innere Verbindung des von der Natio­nalstrasse durchschnittenen Wohnquartiers gestärkt werden (vgl. «Vom Manko zum Plus», S. 29).

Statt Lärmschutzwand

Bis sich die Idee der Einhausung etablierte, hat es 20 Jahre gedauert. Noch 1995 entschied sich der Kanton für eine konventionelle Sanierung.[1] Vorgesehen waren 3 m hohe Lärmschutzwände, eine Geschwindigkeitsreduktion und Fenstersanierungen. 1999 kam die kantonale Volksinitative «Einhausung der Autobahn Schwamendingen» zustande. Der Regierungsrat lehnte den Vorschlag der Bevölkerung ab und legte dem Kantonsrat am 9. Juli 2001 eine Motion mit einem möglichen Finanzierungsschlüssel zwischen Bund, Kanton und Stadt vor. Um die städtebauliche Einordnung eines ­weitergehenden Lärmschutzes (z. B. bezüglich Materia­lisierung und Kon­struktion) beurteilen zu können, ­prüften die Architekturbüros Hotz, Diener & Diener und agps.architecture, unterstützt von weiteren Fachleuten, im Rahmen eines Studienauftrags 2003/2004 drei ­Varianten: eine Einhausung, eine Brücke und einen Tunnel. Ein Tunnel wurde aus finanziellen und technischen Gründen nicht weiterverfolgt, die beiden ande­ren Varianten vertieft.

Schliesslich gaben finanzielle und städtebauliche Überlegungen den Ausschlag dafür, aufgrund des Vorschlags von agps.architecture eine Einhausung zur Kreditvorlage auszuarbeiten. Sie wurde am 24. September 2006 vom Stimmvolk angenommen.

Zunächst war eine mit Erdreich überdeckte ­Betoneinhausung mit einem Park auf dem Dach und begrünten Böschungen angedacht. Im aktuellen Projekt sind die Böschungen aus Platzgründen und wegen der mangelnden Tragfähigkeit des Untergrunds nicht enthalten: Aufgrund der bestehenden Querstrassen hätte man die Hügelzüge immer wieder unterbrechen und viele Gebäude entlang der Autobahn rückbauen müssen. Zudem hätten Anschüttungen dieser Dimension zu grossräumigen Setzungen geführt. Stattdessen sind nun sieben Meter hohe Betonwände vorgesehen.

Die Einhausung soll das Quartier sowohl von Abgasen als auch von Lärm entlasten. Die Messungen auf der Überlandstrasse zeigen heute eine Lärmbelastung von 72 dB(A).[2] Das Astra schätzt, dass der verbleibende Grundlärm nach dem Bau der Einhausung bei 42 dB(A) liegen wird. Das Lärmproblem ist damit zwar weitgehend gelöst, es stellt sich aber die Frage, wie das neue Bauwerk städtebaulich sinnvoll ins Quartier eingebunden werden kann (vgl. «Transformation der Gartenstadt»).

Innen Tunnel, oben Park

Die Einhausung und ihre Sicherheitsinfrastruktur werden vom Astra unterhalten. Sie wird innen behandelt wie ein Tunnel, d. h., die Anforderungen an Lüftung, Entrauchung oder Signalisation unterscheiden sich nicht von anderen Nationalstrassentunnels. Da sich der Baugrund als setzungsempfindlich herausgestellt hat, wurde als Fundament eine aufgelöste Pfahlwand gewählt. Im Bereich des unter der Autobahn verlaufenden Tramtunnels bis zur Station Schörlistrasse wird die Decke des Tagbautunnels mit Fertigteilträgern ausgebildet, der Bereich von der Tramstation Schörlistrasse bis zum Portal Aubrugg mit einer Ortbetondecke. Grös­se und Komplexität des Projekts bedingen eine aufwendige Logistik. Der Bedarf an Installations-, Bewegungs-, Logistik- und Rettungsflächen mitten im Wohnquartier ist zeitlich und örtlich gross. Zahlreiche freie Flächen im Quartier werden temporär genutzt. Die Bauarbeiten sind so projektiert, dass die Autobahn unter Wahrung der Verkehrs- und Arbeitssicherheit vierspurig befahrbar bleibt. Auch der Tramtunnel mit seinen Stationen und Zugängen bleibt immer in Betrieb. Umleitungen über die Quartierstrassen sind nicht vorgesehen. Für bestimmte Arbeiten wird die Autobahn nachts gesperrt. Hierfür wurden im Zusammenarbeit mit der Dienst­abteilung Verkehr der Polizei grossräumige Umleitungskonzepte entwickelt. Zudem orientiert das Astra die Auto­fahrer mit einer begleitenden Informationskam­pagne frühzeitig über Alternativen.


Anmerkungen:
[01] Vor der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) waren für die Nationalstrassen noch die Kantone verantwortlich. [02] Das Gebiet entlang der Autobahn ist punkto Lärm­empfindichkeit vor allem in die Empfindlichkeits­stufen ES II und vereinzelt ES III klassiert. In diesen gelten tagsüber ein Immissionsgrenzwert (IGW) von 60 bzw. 65 dB(A) und ein Alarmwert (AW) von 70 dB(A).

22. Februar 2015 Katharina Möschinger
TEC21

«Die Antwort schmerzt: Ich bin es»

Mit der Philosophin Eva Schiffer und dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi sprachen wir über Verkehr und Mobilität im weiteren Sinn. Das Experiment eines interdisziplinären Dialogs hat
Überlegungen hervorgebracht, die weit über technische Lösungsansätze hinausgehen und nachdenklich stimmen.

TEC21: Was bedeutet Fortschritt im Zusammenhang mit Mobilität?
Marcel Hänggi: Fortschritt ist ein grosses Wort. Ich wäre schon froh, wenn es keinen Rückschritt mehr gäbe. Es wird oft behauptet, unsere Gesellschaft werde mobiler. Ich behaupte das Gegenteil.

Wie kommen Sie zu dieser These?
Hänggi: Verkehr und Mobilität – oder sagen wir Mittel und Zweck – werden oft verwechselt. Der Verkehr nimmt natürlich zu, mit allen negativen Folgen. Kinder haben motorische Defizite, die Krankheiten infolge von Bewegungsmangel nehmen zu. Mir geht es um die Möglichkeit, meine Mobilitätsbedürfnisse im umfassenden Sinn befriedigen zu können. Unsere Mobilität, verstanden als Fähigkeit, das Bedürfnis nach Ortsveränderung zu befriedigen, unterscheidet sich nicht wesentlich von jener der Menschen vor 100 Jahren. Das gilt auch für die «Unterwegszeit»: Schnellere Verkehrsinfrastrukturen führen nicht zu Zeitersparnissen, sondern dazu, dass wir längere Wege zurücklegen. Die Mobilität ist konstant geblieben, der Mobilitätsaufwand – Kosten, Umweltverschleiss usw. – hingegen hat sich vervielfacht. Deshalb ist auch die Behauptung falsch, Mobilität sei zu billig. Heute gibt ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt 8 % seines Budgets für Mobilität aus, mehr als für Lebensmittel. Vor 50 Jahren war es ein Bruchteil dessen.

Frau Schiffer, Sie haben einmal geschrieben, wir müssen zuerst den Stau im Kopf überwinden, um alles wieder in Fluss zu bringen (vgl. Kasten S. 32).
Eva Schiffer: Aus philosophischer Sicht müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns fragen, wie wir als Gesellschaft in eine bestimmte Situation geraten sind.

Wir alle hetzen ständig hinter etwas her. Kay Axhausen schreibt in seinem Beitrag «Die Fahrzeit ist entscheidend» (vgl. S. 26) von einer «Befriedigung der Ungeduld, die ein Ergebnis des wachsenden Wohlstands ist».
Hänggi: Das ist offensichtlich.
Schiffer: Dieser frenetische Aktivismus ist etwas Entsetzliches. Jeder kennt das: diese Atemlosigkeit, die Unfähigkeit zu verweilen ... In der Geisteswissenschaft kann diese Entwicklung wunderbar nachvollzogen werden. Die christliche Heilsvorstellung verweist von hier nach dort. Und der Fortschrittsgedanke zur Zeit der Aufklärung, dass es «künftig» besser sein wird, knüpft an diese Vorstellung an. Diese Muster sind tief in uns verankert. In der vorchristlichen Zeit war das noch nicht so. Das griechische Wort für Bewegung, «Kinesis», bedeutet nicht die Verschiebung von Körpern im Raum, sondern bezeichnet «das, was uns bewegt». Hier muss niemand «weiterkommen».

Nun steht die Verkehrsplanerin, der Verkehrsplaner im Alltag vor der Aufgabe, ganz konkret die Infrastruktur so zu bauen, wie sie gewollt ist. Aber was wollen denn die Menschen wirklich? Herr Hänggi, Sie haben in Ihrem Referat am Berner Verkehrstag 2013 gesagt: Der Trend zur Verkehrszunahme wird gemacht. Was heisst das?
Hänggi: Wollen ist vielschichtig. Es gibt auch Dinge, die ich nur meine zu wollen. Ich glaube, in der Verkehrsdebatte hat vieles mit Fehlwahrnehmungen zu tun, mit der Verwechslung von Mittel und Zweck. Jede neue Verkehrsinfrastruktur schafft Zwänge. Was meist übersehen wird – und das finde ich psychologisch erklärbar –, ist, dass jede neue Strasse oder Bahnstrecke mir zwar grundsätzlich die Möglichkeit gibt, sie zu benutzen – also mir die Freiheit dazu schafft –, mich aber auch zu einem gewissen Grad dazu zwingt. Es ist ein mittelbarer Zwang, beispielsweise für mich als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt, wenn ich dieselben Chancen wie meine Mitkonkurrenten haben will. Oder wenn ich mir nicht mehr leisten kann, an einem Ort zu wohnen, weil eine neue S-Bahn-Linie die Mieten steigen lässt. In den USA gibt es die Diskussion um den «urban sprawl». Es wird behauptet, die Zersiedelung sei Ausdruck für den Willen der Menschen, immer weiter ausserhalb zu wohnen. Dabei ist die Suburbanisierung unter anderem eine Folge gezielter Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Zurückkehrende Veteranen bekamen Land in den Vororten. In der Boomzeit nach dem Krieg hat man in den Levittowns sogar bewusst fussgängerfeindlich gebaut, denn mit Fussgängern assoziierte man die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren.
Schiffer: Der Fussgänger ist ein gutes Beispiel. Wenn vor meinen Augen das Bild eines «Herumlungernden» entsteht, möchte ich kein Fussgänger sein. Der japanische Dichter Takiguchi zeichnet ein anderes Bild des Fussgängers: Sein Körper und sein Geist sind leicht, deshalb vermag er unterschiedliche Dinge wahrzunehmen. Da erscheint der Fussgänger als freier Mensch. Es ist wichtig, dass wir über die Bilder, die uns ergreifen, nachdenken und uns nicht nur mit technischen Lösungsvorschlägen befassen. Bis zu einem gewissen Grad sind wir selbst für die Wirkung von Bildern auf uns zuständig.
Hänggi: Vieles von dem, was Sie sagen, ist sicher mehrheitsfähig. Es gibt viele Menschen, die kein Interesse daran haben, ständig herumzurennen oder in der verstopften S-Bahn bzw. im Stau zu sitzen. Aber gleichzeitig sind wir infrastrukturellen Zwängen ausgeliefert. Ein Autofahrverbot würde die Freiheit der Menschen einschränken, die ein Auto benutzen. Sie haben sich ihr Leben so eingerichtet, dass sie es brauchen – auch wenn sie meine Einschätzung der Verkehrssituation teilen. Was aber viel mittelbarer ist: Das Fahrzeug befriedigt Bedürfnisse, die die Menschen nicht hätten, wenn es das Auto nicht gäbe. Würden die Autos von heute auf morgen abgeschafft, wäre der Verlust mittelfristig verhältnismässig klein. Aber der Gedanke ist zunächst erschreckend. Was ich damit sagen will: Bei einer Verkehrsreduktion wird die Einschränkung der Freiheit unmittelbarer erfahren als der Zugewinn von Freiheit, der daraus resultiert. Das erklärt ein Stück weit diese Diskrepanz, dass viele Leute durchaus lieber eine Welt hätten, in der weniger gehetzt wird ...
Schiffer: Es geht doch um die differenzierte Selbstwahrnehmung. Wenn ich als Autofahrerin mit dem Auto von A nach B will und mich auf diesem
Weg etwas begrenzt, dann nervt mich das – aber ich bin ja nicht nur Autofahrerin. Bin ich frei genug, über meine Autofahrerinnenwünsche hinauszudenken? Mich beispielsweise zu fragen, wozu ich da eigentlich herumfahre? Für den Philosophen Peter Bieri ist Freiheit ein Handwerk – eine Kunst, die wir ständig üben müssen. Es ist schwierig, sich von etwas zu befreien; noch schwieriger jedoch ist die Reflexion der Frage, wozu wir denn nun frei sind. Sind wir imstande, Freiheit in Sinn zu verwandeln? Im Übrigen ist das Gegenteil eines Übels nicht schon per se das Gute, so einfach ist es nicht. Wichtig ist der Wille zur Nachdenklichkeit des Einzelnen. Es ist für mündige Bürger keine Lösung, die Verkehrsprobleme den Planern auf den Tisch zu legen.

Was kann ein Auslöser sein, sich solche grundsätzlichen Fragen zu stellen? Braucht es die Erfahrung der staatlich verordneten Begrenzung, die doch wiederum ein Eingriff in die individuelle Freiheit ist?
Hänggi: Ich erlebe häufig in Debatten, dass Personen, die sich als liberal bezeichnen, staatliche Eingriffe befürworten, wenn es um Massnahmen zur Verkehrsreduktion geht und die Leute «gezwungen» werden sollen, weniger zu fahren. Aber die ganze Verkehrspolitik ist doch interventionistisch! Privatverkehr ist nur zur Hälfte privat, die Strassen gehören dem Staat. Es ist auch der Staat, der sie baut. Und es ist der Staat, der mich durch seinen Strassenbau zwingt, meine Kinder in ihrer Freiheit einzuschränken, damit sie nicht überfahren werden. Das Recht des Kinds, sich im öffentlichen Raum wie ein Kind zu bewegen, ist aber ein existenzielleres Recht, als mit 50 durchs Quartier zu rasen. Von daher geht es nicht um staatliche Intervention ja oder nein, sondern wenn schon, um die Form der staatlichen Intervention.
Schiffer: Unser ethisches Empfinden ist zutiefst von der Vorstellung einer Morallehre geprägt, bei der es nur um Verbote und Gebote geht. Was uns fehlt, ist eine zeitgemässe Strebens-, Glücks- und Wertethik – die ernsthafte Reflexion dessen, was uns wirklich wichtig ist. Auch ein kluger Techniker ist nicht nur Techniker, der technische Lösungen austüftelt, sondern zudem ein reflexiver Mensch, der über Sachfragen hinaus über grössere Zusammenhänge nachdenkt.
Hänggi: Ein realpolitischer Faktor, der in der Schweiz zum extremen Verkehrskonsum beiträgt, ist das gegenseitige Hochschaukeln von Schiene und Strasse. Im Bahnland Schweiz legen die Leute viel mehr Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück als im Autoland Deutschland. Aber die Schweizer fahren deswegen nicht weniger Auto – sondern gleich viel wie die Deutschen! Wir tun also beides exzessiv. Unser öV löst das Auto nicht ab, sondern produziert hauptsächlich Mehrverkehr. Beispielsweise kann ich dank der S-Bahn in Winterthur leben und in Baden arbeiten. Trotzdem nehme ich abends das Auto für die Freizeit. Da liegt der Verdacht nah, dass die S-Bahn kontraproduktiv war.

Je besser die Verkehrsinfrastruktur ist, umso selbstverständlicher wird der Anspruch auf Erreichbarkeit.
Schiffer: Wer produziert denn den ganzen Verkehr? Die Antwort schmerzt: Ich bin es. Die
Entscheidung, ob ich abends noch das Auto für die Freizeit nutze, liegt bei mir. Wir sollten über den realpolitischen Diskurs hinaus über uns selbst nachdenken, um zu verstehen, wie wir überhaupt hierher gekommen sind. Wie wollen wir unsere Probleme lösen, wenn wir nicht einmal die Problemstellungen selbst genauer in den Blick nehmen? Die «Lösungen», die wir produzieren, bleiben immer auf der Ebene von «Schiene oder Strasse», «längeren
oder kürzeren Verkehrswegen» usw. Die eigentliche Frage – was wir uns unter einem guten menschlichen Leben vorstellen – berühren wir nicht einmal.

Zum Schluss eine Frage zu einem technischen Lösungsansatz. Um den Verkehr zu steuern, wird Mobility Pricing in verschiedenen Varianten diskutiert. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Hänggi: Ich finde diesen Ansatz gefährlich. Betrachtet man Mobilität als das, was die Ökonomie als Gemeingut ansieht, geht der Wert verloren, wenn Einzelne das Gemeingut übernutzen. Die klassische Antwort der Ökonomie ist, dass man das Gut handelbar macht. Mobility Pricing ist genau das. Die Leute übernutzen die Verkehrsinfrastrukturen, also muss man sie verteuern. Aus ökonomischer Sicht wird es meist positiv bewertet, aber die Schwächsten kommen unter die Räder. Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Mit Mobility Pricing spart derjenige Zeit, der es sich leisten kann. Das ist gesellschaftlich von einer unglaublichen Tragweite. Wenn ein Mensch, der mehr Geld zur Verfügung hat, mich dazu zwingen kann, Zeit zu verlieren, ist das für eine egalitäre Gesellschaft inakzeptabel. Ich bin durchaus der Meinung, dass der Verkehr weit davon entfernt ist, seine Infrastrukturen zu finanzieren, und dass das korrigiert werden muss, aber mit Mobility Pricing führen wir soziale Probleme ein.
Schiffer: Soziale Probleme, von denen wir glauben, sie überwunden zu haben, und die einer liberalen Gesellschaft unwürdig sind. Bei dem amerikanischen Philosophen Michael Sandel bin ich in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Argument gestossen: Klimaabgaben und Mobility Pricing würden zur Annahme verführen, es gebe ein Recht auf Emissionen und beschleunigte Mobilität, und dieses sei käuflich. Zudem entstehe die Illusion, ständig herumzufliegen oder mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs zu sein seien Werte an sich, schliesslich habe man dafür bezahlt, und wofür man bezahle, sei wertvoll. Worum es einer zeitgemässen philosophischen Ethik geht, ist die Reflexion und der Dialog über das, was wir wirklich wertvoll finden. Können wir uns überhaupt ein anderes, weniger gnadenlos beschleunigtes menschliches Zusammenleben vorstellen als das gegenwärtige?

11. Januar 2015 TEC21

Vom Wellenreiten und Wellenbauen

Wenn es zum Surfen an die Küste zu weit ist, muss die Welle eben ins Landesinnere geholt werden. Flusssurfen ist in. Ein junger Sport mit vielen begeisterten Wellenreitern, aber zu wenigen Sportstätten.

Der Geburtsort des Wellenreitens ist Hawaii, der des Flusssurfens München. Statt barfuss im Sand stehen die Surfer zu dieser Jahreszeit mit Neoprenschuhen am Ufer des Eisbachs im Schnee. Flusssurfen ist eine Abwandlung des klassischen Wellenreitens. Das Bewegungsschema wird dabei von einer sich bewegenden Welle auf eine stehende Welle übertragen. Anders als in einer Brandungswelle bewegt sich der Surfer nicht vorwärts, sondern fährt sozusagen «auf der Stelle». Das zum ­Wellenkamm hochfliessende Wasser schiebt ihn nach oben, und die Schwerkraft lässt ihn gleichzeitig zum Wellental gleiten.[1] Das Ziel ist jedoch nicht nur, auf der Stelle zu stehen, sondern sich mit dem Brett quer zur Welle zu bewegen. Dazu braucht der Surfer genügend Platz auf der Welle, denn je breiter sie ist, desto mehr Geschwindigkeit kann er aufbauen.[2]

Vom Nischen- zum Trendsport

Bereits in den 1980er-Jahren begannen einige Individualisten an verschiedenen Spots in München mit dem Flusssurfen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr Sportler mit dem Virus infiziert. Am bekanntesten ist wahrscheinlich der Eisbach, der im Süden des Englischen Gartens an die Oberfläche tritt und dort die Eisbachwelle bildet. Erzeugt wird sie durch Störkörper aus Beton, die direkt hinter der Welle in der Sohle des Bachs zur Energiedissipation verankert sind. Zunächst war sie noch nicht konstant surfbar. Doch Ende der 1990er-Jahre fixierte ein Eisbach-Vete­ran einige Dutzend Eisenbahnbohlen neben der Welle im Wasser – ohne Genehmigung. Eine technische Meisterleistung: Die Holzbohlen verhindern, dass zurückfliessendes Kehrwasser vorn wieder in die Welle läuft. So entsteht eine schaumfreie und glatte Welle. Bei einem Wasserdurchfluss von 25 m³/s wird hier nun zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit gesurft – seit 2010 auch legal.[3]

Eine Anfänger- und Familienwelle befindet sich in Thalkirchen, im Süden von München: Die Flosslände bildet eine sanfte und glatt geformte Welle ohne gefährliche Steine dahinter. Und auch zu diesem Spot gibt es Anekdoten: Stefan Hornung, Drehbuchautor, Regisseur und Surfer, ärgerte sich, dass er immer wieder zur Flosslände fuhr, nur um festzustellen, dass er nicht surfen konnte, weil die Welle nicht lief. Er begann zu tüfteln, zunächst in der Duschwanne an einem einfachen Modell. Um dieses zu testen, hängte er einen 10 m langen Schlauch ins Wasser neben die Welle. Er sollte sich füllen und durch seine Masse das fliessende Wasser umlenken. Mit dieser Erfindung wollte Hornung den Durchfluss im Kanal verengen, damit den Wasserstand erhöhen und eine surfbare Welle erzeugen. Der Schlauch riss allerdings nach dem vierten Versuch, und das Experiment war fehlgeschlagen.[3]

Seit einigen Jahren bekommt ein Wasserkraftwerk oberhalb der Flosslände so viel Wasser, dass der Pegel im Kanal nicht mehr ausreicht, um die Welle zum Laufen zu bringen. Nur selten kommt noch genug ­Wasser, um dort surfen zu können. Dann sind schnell bis zu 30 Surfer vor Ort, die lang anstehen müssen, ehe sie loslegen können. Für die «Interessengemeinschaft Surfen in München» Grund genug, für den Erhalt dieser Welle zu kämpfen.

Wenn Wellen fehlen

Europaweit wurden in den letzten Jahren immer mehr Initiativen gegründet, um den Flusssurfern zu mehr Sportstätten zu verhelfen (vgl. Kasten «Schweizer Wellenprojekte», S. 28). Um das Surfen fernab der Meere zu ermöglichen und konstante Bedingungen zu schaffen, versuchen sie, selbst surfbare und sichere Wellen zu erzeugen (vgl. «Surfbare Wechselsprünge», S. 29). Auch wenn man im ersten Moment gut besuchte Surfspots am Meer oder gigantische Flusswellen wie die Pororoca in Brasilien vor Augen hat – es geht bei den angedachten Projekten um verhältnismässig kleine Anlagen.

Flusswellen sportlich zu gebrauchen birgt auch Ge­fahren, etwa Strömungen, Wellensog, Treibgut und Steine – vor allem bei Hochwasser. Kommt es an den Gewässerstrecken zu Unfällen, tauchen oft Fragen der Haftung auf. Solange der Fluss nicht angetastet wurde, sind die Surfer selbst haftbar. Doch sobald der Fluss baulich verändert wird, gibt es auch einen Verantwortlichen. In besonderem Mass gilt dies für regulierfähige Organe, z. B. für Hochwasserentlastungen an Stauanlagen. Irgendwann stellt sich die Frage, ob der Aufwand für Unterhalt und Haftung gerechtfertigt ist.

Wechselsprung und Sheet Flow

Die Erzeugung stehender Wellen in natürlichen Fliessgewässern ist schwierig, weil das Wellenbild sehr ­sensibel auf kleinste Änderungen des Wasserstands reagiert. Die Pioniere des Flusssurfens haben beobachtet, modelliert und ihre Ideen in die Tat umgesetzt – mehr oder weniger erfolgreich. Auch heute modellieren Ingenieure und Hydrauliker Wellen, berechnen geometrische und hydraulische Randbedingungen oder simulieren die geplanten Anlagen am Computer. Inzwischen hat man auch erste Erfahrungen gesammelt – Pilot­projekte sind dennoch Mangelware.

Grundsätzlich gibt es zwei unterschiedliche Ansätze, surfbare Wellen zu generieren. Zum einen mit einem Wechselsprung, der beim Fliessübergang vom schiessenden zum strömenden Abfluss entsteht – wobei der dazu notwendige schiessende Abfluss auf unterschiedliche Art erzeugt werden kann, zum Beispiel in Querschnittsverengungen, über Gefällewechsel wie durch eine Sohl- oder Blockrampe oder nach der Unterströmung eines Verschlussorgans (vgl. «Surfbare Wechselsprünge», S. 29). Beispiele für diesen Ansatz sind die beschriebene Eisbachwelle oder die Welle im Almkanal. Dieses Projekt wurde 2011 von der Stadt Salzburg umgesetzt. Dazu wurde eine Reihe numerischer Simulationen durchgeführt. Im Ergebnis konnte der Wechselsprung mit einer verstellbaren Klappe so eingestellt werden, dass sich eine stehende Welle ausbildet. Die Welle ist trotz ihrer geringen Grösse stark frequentiert.4 Die zweite Variante wird Sheet Flow genannt. Die Welle entsteht, indem das Wasser über eine entsprechend geformte Bodengeometrie strömt. Das beste Beispiel dafür ist die Surfwelle in Bratislava. Dort wird mittels einer gegenläufigen Rampe eine stehende Welle erzeugt. Die Sportler surfen auf einem recht dünnen Wasserfilm. Die Welle ist glatt, steil und schnell. Die Schwächen einer Anlage wie in Cunovo sind ein erhöhtes Verletzungsrisiko, viele abgebrochene Finnen und beschädigte Surfboards.[4] (Vgl. «Von Cunovo lernen», S. 34)

Künstlich erzeugte stehende Wellen findet man zunehmend auch in Hallen oder bei Grossveranstaltungen in speziellen Becken. Dort werden die Wellen durch aufwendige Maschinentechnik generiert.

Unterschiedliche Interessen im Fluss

Heute wird keine wasserbauliche Massnahme geplant oder umgesetzt, ohne dass zuvor ihre ökologische ­Dimension bedacht wurde. Aus dem Rückbau von Querbauwerken wie Wehren oder Sohlschwellen, die fischdurchgängig gemacht werden, kann sich die Chance ergeben, ein Flusswellenprojekt zu initiieren. Damit der Surfwunsch nicht mit den geltenden Naturschutzvorgaben kollidiert, muss im Fluss die gefahrlose Durchgängigkeit für aquatische Organismen in beide Richtungen gegeben sein. So kann es möglich sein, eine Anlage zu entwickeln, bei der Surfer und Fische(r) an einem Strang ziehen – wenngleich mit unterschiedlichen Zielen (vgl. «Sicher in der Töss», S. 32).

Für Wellen, die sich direkt in Flüssen befinden, ist der Einfluss des Feststofftransports und der Gewässermorphologie ein wesentlicher Parameter für den ökologischen Zustand und somit auch aus rechtlicher Sicht zu berücksichtigen. Flüsse verändern sich laufend morphologisch – dies können langsam ablaufende oder bei Hochwasser schlagartig auftretende Prozesse sein. Damit eine Welle im Fluss nachhaltig funktioniert, sind diese Prozesse in der Planung zu beachten. Eine fest institutionierte Freizeitnutzung, die eine stehende Welle verlangt, kann also mit mit sonstigen Interessen kollidieren und aus Sicht von Wassernutzung und Ökologie a priori unerwünscht sein. «Eine solche Welle verlangt oft entweder feste Einbauten wie Schwellen, Rampen, Blöcke in die Sohle mit den entsprechenden ökologischen Auswirkungen oder ein gewisses Abflussregime, was wiederum zu einer Einschränkung zum Beispiel der Wasserkraftnutzung führt», sagt Dr. Peter Billeter (IUB Engineering AG, Bern).

«Hinsichtlich Flussbau und ­Wassernutzung besteht deshalb keine Veranlassung, stehende Wellen zu installieren.»

Aus ökologischer Sicht sind, wie bei jeder Freizeitanlage, auch das zu erwartende Verkehrsaufkommen und die notwendige Infrastruktur zu bedenken. Freizeitanlagen wie Kletterhallen oder Skateparks schiessen wie Pilze aus dem Boden. Die Flusssurfer haben es zurzeit noch schwer. Doch wer hätte vor drei Jahrzehnten gedacht, dass Snowboarden jemals olympisch werden würde?


Anmerkungen:
[01] Der Teil der Welle, der oberhalb des Ruhewasserspiegels liegt, wird als Wellenberg bezeichnet. Die Position der höchsten Auslenkung ist der Wellenkamm. Der Teil der Welle, der unterhalb des Ruhewasserspiegels liegt, ist das Wellental.
[02] Spektakuläree Surfaufnahmen und ausgefallene Lebensentwürfe zeigt der Film von Björn Richie Lob: keep surfing, abrufbar auf www.espazium.ch
[03] Dieter Deventer, river surfing, Flusswellen von München bis zum Amazonas, München 2011, ISBN 978-3-7243-1034-1
[04] Benjamin Di-Qual, Gerry Schlegl, Markus Aufleger, Erzeugung stehender Flusswellen für den Surfsport, Deutsches Ingenieurblatt, Ausgabe 6/2014

11. Januar 2015 TEC21

Surfbare Wechselsprünge

Zu den Spielplätzen von Surfern und Kajakfahrern gehören auch stehende Flusswellen. In der Natur kommen sie zwar selten vor, sie lassen sich aber künstlich erzeugen.

Wasser zu nutzen war schon immer ein menschliches Interesse. Die nötigen Infrastrukturen dafür herzustellen ist eine klassische Fachdisziplin der Bauingenieure. Relativ neu ist die Frage, wie eine surfbare Welle für Wassersportler aussieht. Die Antwort klingt einfach: Die perfekte Welle läuft 24/7, ist leicht zugänglich, sicher, möglichst steil und hoch und vor allem breit. Im Gegensatz zu gängigen Ingenieurdisziplinen findet man in der Literatur hierzu noch keine Bemessungsgrundlagen. Es gibt lediglich einige Anhaltspunkte – die aber nicht unbedingt erfolgversprechend sein müssen, da die ­Natur weitgehend unberechenbar bleibt.

Betrachtet man das Thema von der wasserbaulichen und hydraulischen Lehre her, kommt man zunächst einmal auf einen Wechselsprung. Dessen Eigenschaft ist allerdings in erster Linie, höchst effizient Energie umzuwandeln, und nicht, für Sportler surfbar zu sein. Die klassische Aufgabe eines Wasserbauingenieurs ist es, das Tosbecken nach einem Querbauwerk so zu dimensionieren, dass auch bei wechselnden Randbedingungen eine gute Energieumwandlung (d. h. eine kräftige, ortsfeste Walze) nah am Bauwerk stattfindet.[1]

Aber auch hinter einem Querbauwerk kann eine ste­hende Welle entstehen. Wassertiefe, Fliessgeschwindigkeit und Höhe der Stufe bzw. der Höhenunterschied zwischen Ober- und Unterwasser bestimmen Form und Höhe der Welle, die sich in Fliessrichtung bildet. Im Gegensatz zum klassischen Wechselsprung wird bei einer solchen sogenannten «grünen Welle» weniger Energie umgewandelt.[2]

Dr. Helge Fuchs (ETH Zürich, Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie) erklärt: «Eine Welle ist genau genommen kein Massentransport, sondern ein Energietransport. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um surfen zu können: Einerseits wird die geneigte Wasseroberfläche gebraucht, die durch die Wellenform unter dem Surfer entsteht, sodass er immer nach unten gleitet. Andererseits braucht man Wasser, das entgegen der eigenen Bewegungsrichtung fliesst, damit sich für den Surfer eine Art Gleichgewichtszustand einstellt.» Dieses Wasserspiegelprofil ergibt sich bei Wechselsprüngen, die sich in unterschiedlicher Art und Weise ausbilden können (vgl. Abbildungen unten), wenn ein schiessender Abfluss, der sich aus einer kleinen Zuflusswassertiefe kombiniert mit einer hohen Fliessgeschwindigkeit ergibt, auf einen strömenden Abfluss mit einer höheren Wassertiefe und einer langsameren Geschwindigkeit trifft – oder kurz: wenn eine Strömung mit hoher Geschwindigkeit gebremst wird. Diese Konfiguration hängt sehr stark vom Unterwasserspiegel ab. Übertragen auf die surfbare Welle heisst das: Wenn der Unterwasserspiegel schwankt, verändert sich die Wellenform.

Einfluss der Froude-Zahl

Dr. Peter Rutschmann, Leiter des Lehrstuhls für Wasserbau und Wasserwirtschaft der Technischen Universität München und Mitplaner der Rodeo-Welle in Graz[4], erläutert, warum zur Berechnung einer stehenden Welle die Froude-Zahl wichtig ist. Sie wird aus dem Verhältnis von Strömungsgeschwindigkeit und Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Störung in flachem Wasser gebildet:

«Die Froude-Zahl im Zulauf der Welle sollte mindestens 1.7 sein. Im Bereich von 1.7 bis 4.5 ergibt sich wohl die beste Welle. Ab 4.5 beginnt der Übergang in den klassischen Wechselsprung mit ausgeprägter Deckwalze. Hier können Kajaker noch spielen, die Surfer eher nicht mehr», erklärt Rutschmann (vgl. «Sicher in der Töss», S. 32).

Wenn sich in einem Fluss eine Welle ausbildet, so nehmen in der Regel die Froude-Zahlen mit steigendem Abfluss ab. Bei kleineren Abflüssen entsteht somit ein schwer fahrbarer, klassischer Wechselsprung; mit steigendem Abfluss kommt man in den optimalen Bereich, steigt der Abfluss weiter, fällt die Welle in sich zusammen. Eine gute Welle für alle Nutzer zu kreieren ist sehr schwierig, es sei denn, es herrschen immer konstante Bedingungen oder es gibt eine Möglichkeit, die relevanten Parameter zu regulieren.

Die Froude-Zahl ist keine konstante Grösse über den Querschnitt, sondern ändert sich in einem natür­lichen Abflussquerschnitt über die Breite gesehen und nimmt auch bei morphologischen Veränderungen unterschiedliche Werte an. Durch eine Variation der Geometrie über den Querschnitt steigt die Wahrscheinlichkeit, dass an einer Stelle eine schöne Welle entsteht. Um das zu erreichen, muss man allerdings komplexere Untersuchungen an einem physikalischen oder numerischen Modell durchführen. «Bisher sind mir nur wenige Fälle bekannt, wo für eine solche Untersuchung Geld zur Verfügung stand. Deshalb spielt vielfach der Zufall die entscheidende Rolle, ob eine geplante Welle gut funktioniert oder nicht», sagt Rutschmann.

Trial and error

Wie schwierig es tatsächlich ist, zeigt das Beispiel der Sillwelle in Innsbruck. 2011 wurde die neu gestaltete Sillmündung als Hochwasserschutz und Naherholungsraum eröffnet. Die integrierte Welle sollte in der Mündung der Sill in den Inn entstehen. Die Planung wurde von einem wasserbaulichen Modellversuch begleitet. Erste Betriebserfahrungen mit der komplexen Anlage haben Optimierungsbedarf aufgezeigt. Nach intensivem Monitoring und Strömungsversuchen vor Ort wurden diverse Adaptierungsvorschläge erarbeitet. Die Verbesserung der Situation ist bis heute Gegenstand von weiterführenden Versuchen und Analysen.[5]

Hinsichtlich physikalischer Modellierung gibt Fuchs zu bedenken, dass Wassereigenschaften, sprich Oberflächenspannung oder Viskosität, im Versuchslabor nicht skaliert werden. Am Beispiel des Lufteintrags heisst das, so Fuchs: «Damit Luft in eine Strömung eingetragen wird, braucht es eine gewisse Turbulenz. Die Luftblasen haben eine gewisse Mindestgrösse, die sich im Modell nicht beliebig verkleinern lässt. Im Modell fehlt quasi der Anteil an kleinsten Luftblasen, und wir unterschätzen damit den Lufteintrag.» Die Ergebnisse aus dem Modellversuch müssen daher von Experten interpretiert werden, um sie in das gebaute Gerinne vor Ort übertragen zu können. Dann sollten diese Massstabseffekte keine entscheidende Rolle spielen.

Verstellbare Strukturen

Die Verfügbarkeit eines surfbaren Wechselsprungs lässt sich durch verstellbare Strukturen wie Klappen an der Absturzkante erhöhen. Mit einer solchen Klappe können die Strömung variiert und vor allem der Gegendruck eingestellt werden. «Eine richtige Grundlagenunter­suchung über den Einfluss der Klappe gibt es aber noch nicht», erklärt Fuchs. Er möchte das ändern und schreibt für das nächste Semester eine Masterarbeit aus, um das Thema aufzuarbeiten.

Eine Welle im Hauptschluss eines Flusses oder durch Einbauten am Ufer zu generieren ist schwierig, da eine Regulierung fast unmöglich ist. Hydraulisch einfacher, aber baulich aufwendiger ist es, einen Teil des Wassers in ein Nebengerinne auszuleiten. Damit ist es von den Zuflussbedingungen entkoppelt. Können Zufluss- und Abflussbedingungen im Seitengerinne fixiert werden, genügt im Prinzip schon ein Absturz, den die Hydrauliker so berechnen können, dass der Wechselsprung nicht wegwandert.

Die ingenieurtechnisch spannende Frage, wie ein Wechselsprung zu einer surfbaren Welle wird, ruft immer mehr Ingenieure auf den Plan – Tüftler und Wissenschaftler gleichermassen.[6]


Anmerkungen
[01] Der Quotient aus Wellenhöhe und Wellenlänge ist ein wichtiges Kennzeichen für die Beurteilung der Stabilität der Wellen und wird als Wellensteilheit S bezeichnet. Steile Wasserwellen sind gekennzeichnet durch ausladende Täler und spitze Kämme.
[02] Es wird zwischen Wellen mit grünem Wasser und einer Walze mit weissem Wasser unterschieden. Der Hydrauliker bezeichnet die entsprechenden Zustände als ondulierenden bzw. klassischen, eingestauten Wechselsprung.
[03] Benjamin Di-Qual, Gerry Schlegl, Markus Aufleger, Erzeugung stehender Flusswellen für den Surfsport, Deutsches Ingenieurblatt, Ausgabe 6/2014
[04] In Graz fanden im Mai 2003 die Rodeo-Weltmeisterschaften der Kajakfahrer statt. Dr. Peter Rutschmann half mit seinen Strömungssimulationen, den Spot, sprich die Terminator-III-Welle, zu optimieren.
[05] Michael Kremser, Forum Flusswellen 2013
[06] Damit Wissen und Erfahrungen nicht verloren gehen und ein Austausch zwischen allen Interessierten stattfinden kann, gibt es seit 2013 das Forum Flusswellen unter der Schirmherrschaft der Bayerischen Ingenieurekammer-Bau. Laut Angaben von Benjamin Di-Qual, Bauingenieur und Mitorganisator des Forums Flusswellen, macht das Forum 2015 eine Pause, die nächste Veranstaltung ist für Herbst 2016 geplant.

17. Oktober 2014 TEC21

Zürich bewegt sich

Viele Wünsche und Ideen, aber weder Platz noch Geld für alles und lange Entwicklungszeiten: Die Verkehrsnachfrage in der Stadt steigt kontinuierlich, die Infrastrukturen können nicht mithalten. Diese Situation erfordert ein offenes Denken und viel Aushandeln.

Gemessen an anderen Schweizer Städten und erst recht im europäischen oder globalen Vergleich kann man sich in Zürich hervorragend fortbewegen. Trotzdem hört man in der Limmatstadt Klagen auf hohem Niveau: Die öffentlichen Verkehrsmittel seien in den Spitzenzeiten zu voll, die Velowege unterbrochen, der motorisierte Verkehr staue sich zu oft, in der Innenstadt gebe es zu wenige Parkplätze, oder der Verkehrslärm beeinträchtige die Wohnqualität. Die Rahmenbedingungen für die Verkehrsplaner sind nicht einfach: Mobilität und der Umgang mit dem Verkehr werden in zunehmendem Mass zu gesellschaftspolitischen Themen. Infrastrukturprojekte sind keine klassische Ingenieuraufgaben mehr. Die Vorstellungen und Ansprüche der Bevölkerung prägen das Stadtbild, die Infrastruktur und die Verkehrssituation des heutigen Zürich.

Andy Fellmann, Leiter der Abteilung Mobilität und Verkehr des Tiefbauamts der Stadt Zürich, sieht in der Abstimmung zum Bau einer U-Bahn ein entscheidendes Datum der jüngeren Vergangenheit. Die Stimmberechtigten lehnten den Antrag 1973 ab. Hauptgrund waren wohl die Kosten, aber man wollte auch die Fussgänger nicht in den Untergrund verbannen. Zudem hätten dafür einige Tramlinien aufgehoben werden sollen. In der Folge sprach die Stadt Zürich einen Kredit von 200 Mio. Fr., um den oberirdischen Verkehr zu beschleunigen. Mit dem Geld wurden Lichtsignalanlagen und Eigentrassen für den öffentlichen Verkehr gebaut und dessen Priorisierung vorangetrieben. Der Veloverkehr war damals übrigens kein Thema. Im Jahr 2001 setzte ein Umdenken ein, und man begann, den öffentlichen Raum integraler und in Abhängigkeit von unterschiedlichen Verkehrsträgern zu betrachten.

Grossprojekte als Chance

1990 nahm die S-Bahn Zürich ihren Betrieb auf. Im Unterschied zu vielen anderen S-Bahnen verkehrt sie nicht auf einem eigenen Trassee, sondern nutzt das Netz gemeinsam mit dem Fern- und Güterverkehr. Das führt zwar zu einem komplexen Betrieb, hat aber Vorteile hinsichtlich Platzbedarf und Kosten. Mit der S-Bahn hat der öffentliche Verkehr einen Sprung nach vorn gemacht. Doch obwohl das System in den letzten Jahren erweitert wurde, stösst es bereits wieder an seine Grenzen. Die S-Bahn wurde bewusst als Zusatzangebot konzipiert. Die Bevölkerung entschied sich dafür, die Strassenkapazität nicht zu reduzieren. Das heisst: Zwar zeigt der Modalsplit[1] eine Zunahme des öffentlichen Verkehrs und damit einen niedrigeren Anteil des motorisierten Verkehrs an der Gesamtmobilität, doch in absoluten Zahlen nimmt der Autoverkehr nicht ab.

Aus diesem Grund braucht es Umfahrungsringe für den Individual- und Güterverkehr. «Nur so funktioniert die Stadt», sagt Fellmann. Ein solches Grossprojekt war die 2009 eröffnete Westumfahrung (vgl. TEC21 40/2008 und 17/2009). Sie verbindet die A1 Zürich–Bern mit der A3 Zürich–Chur. Damit wird der Ost-West-Durchgangsverkehr um die Stadt herumgeführt und diese vom Transitverkehr entlastet. Seit 2012 sind die Rückbauarbeiten in der West- und Seebahnstrasse abgeschlossen, und eine Studie des Astra zusammen mit Kanton und Stadt belegt eine deutliche Entlastung dieser Strassenzüge vom Durchgangsverkehr[2] (vgl. TEC21-Dossier «Umsicht – Regards –Sguardi 2013»).

Das jüngste Grossprojekt, das den Verkehr beeinflussen wird, ist die Durchmesserlinie (vgl. TEC21 17/2012, 48/2012, 26/2013, 13/2014). Das erste Teilstück mit dem Bahnhof Löwenstrasse und dem Weinbergtunnel wurde im Juni 2014 eröffnet. Die Durchmesserlinie wird für Entlastung sorgen – zurzeit besteht sogar ein gewisses Überangebot –, aber um dem zunehmenden Verkehr gerecht zu werden, braucht es mehr. Dabei muss der öffentliche Verkehr, der bereits heute mit 39 % den Hauptteil aller auf Stadtgebiet zurückgelegten Wege aufnimmt[3], auch den grössten Anteil des prognostizierten Zuwachses verkraften.

Laufend nachjustieren

Den Grund, dass der Autoverkehr seit den 1990er-Jahren trotz allgemeiner Wachstumsraten in der Schweiz in Zürich nicht zugenommen hat, sieht Fellmann neben dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs und dem Bau des Umfahrungsrings für den Autoverkehr in der Anwendung der Parkplatzverordnung[4], die zwei Ziele verfolgt. Es sollen Parkplätze auf Privatgrund erstellt werden, damit im öffentlichen Raum Platz entsteht, und zugleich soll die Parkplatzzahl beschränkt werden. Ein Beispiel zur Wirkung der Parkplatzverordnung sind die rund 160 oberirdischen Parkplätze am Hafen Enge und in der Alfred-Escher-Strasse, die in eine öffentlich zugängliche Tiefgarage auf der Parzelle der Swiss Re verlegt werden. Damit wird zum einen das linke Seeufer gemäss Leitbild «Seebecken der Stadt Zürich» aufgewertet, und zum anderen können in der Alfred-Escher-Strasse die überkommunale Veloroute realisiert und eine beidseitige Baumreihe gemäss Alleenkonzept gepflanzt werden. Fellmann sagt: «Potenzial zu finden, um das Verkehrssystem weiterzuentwickeln und die Funktionalität im stark genutzten städtischen Raum aufrechtzuerhalten, und die Lösungen zwischen den Anliegen der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Politik auszuhandeln, braucht viel Zeit.»

Dauerbrenner Velonetz

Das Velonetz der Stadt Zürich wird oft kritisiert. Auch Fellmann räumt ein: «Dort haben wir ein Riesenmanko.» Entstanden sei das aus der Geschichte: Man habe immer nur lokal gedacht und nicht das Netz als Ganzes gesehen. Trotz der Enge seien jedoch weitere Velorouten denkbar. Die Stadt versucht einerseits der Sihl entlang Platz zu schaffen, andererseits um den See – teilweise auf Kosten von Flächen in Parkanlagen. Das birgt Zündstoff für Diskussionen, denn bisher war es tabu, einen Park einer Verkehrsanlage zu opfern.

Will man sich an die Normen halten, reicht der Platz auf der Strasse und an den Knoten oft nicht aus. Die Vorgaben der Normen sind für Fellmann durchaus mitverantwortlich für unverständliche Querschnitte. Als Ausweg versucht es die Stadt nun mit farbig gestalteten Streifen: Zurzeit testet man 60 cm breite hellgelbe Markierungen auf der Strasse, die Velofahrenden zu mehr Platz am rechten Fahrbahnrand verhelfen sollen, um zumindest an Ampeln an den wartenden Autos vorbeifahren zu können. Solche Streifen wären zwar erlaubt, dürften aber nicht als Velospuren bezeichnet werden, sondern würden einer Mitbenutzung entsprechen. Aber sie wären ein Schritt vorwärts, um den Zielen des Masterplans Velo[5] näher zu kommen. Denkt man an Fahrradanhänger, in denen Eltern ihre Kinder befördern, oder andere überbreite Gefährte wie Fahrradtaxis, könnten diese Lösungen erneut Anlass zu Diskussionen geben. Das Velo – erstes massentaugliches Individualverkehrsmittel – wurde in den 1960er-Jahren verdrängt und muss nun seinen Platz zurückerobern.

In Zukunft, so steht zu vermuten, wird es nicht mehr möglich sein, jedem Verkehrsmittel ausreichend Platz einzuräumen. Das Konzept der Koexistenz im städtischen Raum muss deshalb weiterentwickelt werden. Aus der Überzeugung heraus, dass es für den Verkehrsfluss, die Verkehrssicherheit, die Wohnqualität und aus Lärmschutzgründen vorteilhaft ist, hat die Stadt Zürich 2013 beschlossen, auch in einigen Quartierzentren, die von Hauptstrassen durchquert werden, Tempo 30 einzuführen.[6] Dabei ist neben den öffentlichen Diskursen zum Thema jedes Projekt einzeln öffentlich aufzulegen, mit den gesetzlichen Rekursmöglichkeiten.

Tangentialen für öV und MIV

Das sternförmig angeordnete Tramnetz wurde lang nicht angetastet. Was heute die Busse leisten, sollen künftig auch Tramlinien übernehmen: Ringe und Tangentialen sollen die City entlasten. Mit der Durchmesserlinie der S-Bahn werden die Fahrgastzahlen weiter steigen. Wer also nicht unbedingt in die Innenstadt muss, soll diese umgehen können. «Wichtig ist uns, die Polyzentren zu stärken und das Tramnetz dezentral anzuordnen», sagt Fellmann. «Hierzu gehört auch, die Tramlinie 8 über die Hardbrücke zu führen. Eigentlich nur eine kleine Netzergänzung, jedoch mit grosser Wirkung, weil die tangentiale Verbindung über die SBB-Gleise bis heute im Tramnetz fehlt.» Der letzte grosse Tramausbau war die Linie 4 in Zürich-West, die im Dezember 2011 eröffnet wurde. Obwohl man sie bei Baubeginn noch nicht gebraucht hätte, war man überzeugt, dass sie künftig gebraucht werden würde. Als Glücksfall entpuppte sich die Fussball-Europameisterschaft 2008 und das geplante Stadion – auch wenn es nicht gebaut wurde. Solche Ereignisse wirken als Katalysator, der politische Mehrheiten generiert und sich finanziell und bei der Abstimmung positiv auswirkt.

Für 2025 schliesslich ist die Tramfortsetzung nach Affoltern geplant. Zürich-Nord entwickelt sich gegenwärtig stark, und die Nachfrage kann mit dem heutigen Bussystem nicht mehr bewältigt werden. «Wir fragen uns jeweils: Wie viel verträgt ein Gebiet noch? Wo brauchen wir Parkplätze, Fussgängerstreifen, Velowege und Haltestellen für den öffentlichen Verkehr?», sagt Fellmann. In der Regel folgt die Stadtplanung dem Verkehrssystem; anders bei der Europaallee (vgl. «Grossflächige Vergoldung», S. 27) – hier sind starke Wechselwirkungen zwischen Verkehr und Siedlung vorhanden. Sie wirkt als Gegenpol zur Altstadt. Die City öffnet sich Richtung Kreis 4 und 5. Das beeinflusst nun auch die Verkehrsströme und vor allem das Fuss- und Velonetz.

Ausweg zweite Ebene

Bei den derzeitigen Zukunftsprognosen betreffend Verkehrs- und Bevölkerungsentwicklung und den engen Platzverhältnissen fragt man sich unweigerlich, wie es mit einer zweiten Ebene aussieht. In Zürich denkt man dabei heute in der Regel an eine unterirdische Erschliessung. Fellmann steht dem kritisch gegenüber, denn mit einer zweiten Ebene werde eine Linie zementiert. Ein langer Tunnel durch die Stadt bringt nichts ohne die entsprechenden Zugänge. Hinzu kommen die Werkleitungen, deren Platzanspruch nicht zu unterschätzen ist (vgl. TEC21 22/2013).

In Wipkingen, Kreis 10, hat man sich nun trotzdem entschieden, die Autos ab 2032 durch einen neuen Rosengartentunnel zu führen, mit dem man zugleich Platz für eine neue Tramlinie gewinnt. Das Rosengartentram soll sodann über dem Tunnel vom Albisriederplatz zum Milchbuck führen. Eine Ebene über Strassenniveau ist hingegen eher selten: Lange diskutiert wurde und wird bei der geplanten Einhausung Schwamendingen. Sie soll helfen, das durch eine Stadtautobahn geteilte Quartier wieder zu verbinden. Eine rechtsgültige Plangenehmigungsverfügung des Uvek wird im Herbst 2014 erwartet.

Die angesagten urbanen Seilbahnen werden auch in Zürich von Zeit zu Zeit diskutiert. Bekanntestes Beispiel: die Seilbahn zum Zoo. Da es sich dort hauptsächlich um Freizeitverkehr handelt, wäre eine Gondelbahn eine gute Lösung. Wegen unterschiedlicher Systemgrössen und Umsteigeebenen ist die Verknüpfung mit anderen Verkehrsträgern jedoch relativ schwierig. Fellmann ist daher skeptisch, ob das im Pendlerverkehr funktionieren würde. Versuchen könnte man es auch auf der immer wieder vorgebrachten Linie Bahnhof Hardbrücke–ETH Hönggerberg. Allerdings ist hier die unkompliziertere Lösung, den Bustakt zu verdichten. Denn die Linienführung durch den bebauten Raum und die anschliessende Bewilligung könnten eine langwierige Angelegenheit werden. Da die Aushandlungs-, Einsprache- und Rekurskultur in der Schweiz grossen Einfluss hat, kann es gut zehn Jahre und länger dauern, ein Projekt zur Baureife zu bringen. «Nach dieser Zeit hat man andere gesellschaftliche Vorstellungen. Da passt das eine dann manchmal nicht mehr aufs andere», meint Fellmann. «Wir befassen uns mit solchen Ebenendiskussionen, wie auch mit einem Seebeckentunnel, der die Bevölkerung sehr beschäftigt.» Realität seien jedoch lokale Anpassungen, wie einen Platz zu unterfahren, um die Engpässe zu entschärfen.

Vorhandenes nutzen

Weil die Finanzlage angespannt ist, greift man bei der Stadt gern auf Bestehendes zurück. Für Velofahrende soll der Stadttunnel temporär genutzt werden. Dieser Tunnel wurde in einem Teilstück unter dem Hauptbahnhof als Vorinvestition während des Baus der Bahnhöfe Museums- und Löwenstrasse erstellt; er führt von der Brunau unter Sihl und Hauptbahnhof hindurch zum Platzspitz. Statt zu warten, bis er in 20 Jahren für den motorisierten Verkehr gebraucht wird, möchte ihn die Stadt nun nutzen. Der rund 500 m lange Tunnel muss noch angepasst werden, damit sich die Velofahrenden sicher fühlen, denn die Dimensionen sind riesig und die Züge auf der Tunneldecke laut.

Mit Infrastrukturausbauten allein wird man das Verkehrsproblem nicht in den Griff bekommen. Neben flexibel nutzbaren Infrastrukturen und einer Verkehrskultur der gegenseitigen Rücksichtnahme braucht es weitere neue Ansätze: zum Beispiel, das Tramsystem um ein Schnelltram zu ergänzen – ein Tram, das nicht an jeder Haltestelle hält.

Schwierig wird das wegen der Mitbenutzung der Schienen, querenden Fussgängern oder Autofahrern. Beim S-Bahn-Netz ist Ähnliches denkbar, mit dem Vorteil, dass es vom übrigen Verkehr abgekoppelt ist. Da Perronlängen und Umsteigezeiten ausgereizt sind, müsste zudem das Rollmaterial angepasst werden, also keine Doppelstockzüge mehr, mehr Türen, nur noch Stehplätze. ZVV und SBB suchen mit dem Konzept S-Bahn 2. Generation (2G) Lösungen in diese Richtung.


Anmerkungen:
[01] Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel.
[02] Bundesamt für Raumentwicklung: Auswirkungen der Westumfahrung von Zürich und der A4 durch das Knonaueramt, 2014.
[03] Auf den öffentlichen Verkehr entfallen heute 39 % aller im Stadtgebiet zurückgelegten Wege, auf das Auto 30 %, auf den Fussverkehr 27 % und aufs Velo 4 %.
[04] Stadt Zürich, Verordnung über private Fahrzeugabstellplätze (Parkplatzverordnung) Gemeinderatsbeschluss vom 11. Dezember 1996 mit Änderung vom 7. Juli 2010.
[05] Stadt Zürich, Masterplan Velo, Zürich lädt zum Velofahren ein, 2012.
[06] Stadt Zürich, Tempo- und Verkehrsregimes mit ÖV-Trassierung, 2013.

3. Oktober 2014 TEC21

Heikle Eingriffe

Sollen die technischen Anlagen eines Speichersees erneuert werden, denkt man zunächst an eine Entleerung. Doch es gibt Alternativen.

Die Stauseen Valle di Lei und Lago di Livigno sind nicht die grössten, die Talsperren Valle di Lei und Punt dal Gall nicht die höchsten und die beiden Kraftwerksanlagen nicht die leistungsstärksten in der Schweiz. Beispielhaft stehen sie aber für die vielen Wasserkraftwerke mit Speicherseen in den Alpen, die mehrheitlich zwischen 1950 und 1970 gebaut wurden. Bei ihnen sind nun Gesamterneuerungen fällig oder bereits im Gang. Das Hauptziel: die Anlagen für die zweite Konzessionshälfte fit zu machen und so die Betriebs­sicherheit und die Wirtschaftlichkeit für die ganze Laufzeit der Konzession zu gewährleisten. Beim Ablauf der Konzession nach 80 Jahren dürften die meisten Anlagen das Ende ihrer Lebensdauer noch nicht erreicht haben. Wie es dannzumal weitergeht, hängt von den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab, die aber hier nicht unser Thema sein sollen.

Die Sanierung der Einlaufbereiche und der technischen Anlagen kann nur im Trockenen vorgenommen werden. Eine Möglichkeit, diese Arbeiten auszuführen, besteht in der Absenkung des Sees auf die erforderliche Kote. Alternativ kann der Einlaufbereich auch mit provisorischen Abschlüssen mittels Taucharbeiten abgedichtet werden, sodass im Trockenen von der Luftseite her gearbeitet werden kann.

Um die Staumauer Punt dal Gall mit ihren technischen Anlagen an der internationalen Kraftwerks­stufe Punt dal Gall / Ova Spin erneuern zu können, soll zum zweiten Mal in der Schweiz das sogenannte Sättigungstauchen eingesetzt werden. Ursprünglich hatten die Engadiner Kraftwerke (EKW) geplant, den See zu entleeren. Doch nachdem Ende März 2013 eine Panne bei der Restwasserversorgung aufgetreten war, musste das Konzept überarbeitet werden. Grosse Mengen Schlamm gelangten damals vom See in den Spöl. Das ökologische System des Nationalparks, der an die Anlage grenzt, wurde beeinträchtigt. So etwas darf nicht mehr passieren – Öffentlichkeit und Naturschutz­organisationen sind hier besonders sensibilisiert.

Die dreistufige Kraftwerksgruppe der Kraft­werke Hinterrhein (KHR) in Graubünden hat einen guten Teil der Erneuerungsarbeiten bereits hinter sich. Unvergesslich die Bilder vom leeren Lago di Lei und den Alphütten, die dabei zum Vorschein kamen. Auch den Sufnersee wollten die KHR absenken, musste aber ­abbrechen, weil ein Eintrag von grossen Sedimentmengen in den Hinterrhein drohte. Der Grundablass konnte nicht wie geplant revidiert werden. Insgesamt aber sind die Spülungen und Entleerungen der Ausgleichsbecken und des Lago di Lei, auch aus ökologischer Sicht, erfolgreich verlaufen (vgl. «Gezielt spülen», S. 31).

Eine Besonderheit der beiden Stauseen ist, dass sie nahezu ganz zu Italien gehören, die Täler aber auf Schweizer Gebiet entwässern. Für die Nutzung der Was­ser­kräfte waren deshalb Staatsverträge notwendig. Die Zusammenarbeit mit Italien ist nun auch bei den Erneuerungsarbeiten zentral. Die Engadiner profitieren dabei von den KHR, die den Hürdenlauf der Genehmigung bereits hinter sich haben. Das Vorgehen bei der Erneuerung unterscheidet sich darin, dass die KHR lang nicht viel gemacht hatten und nun eine Gesamterneuerung durchführen. Die EKW hingegen erneuerten immer wieder Teile ihrer Anlagen – nun ist die Revi­sion der Staumauer Punt dal Gall an der Reihe.