nextroom.at

Karte

Artikel

25. Januar 2019 TEC21

Lernen in Pastell

Im Herbst 2017 konnte die freiburgische Gemeinde Granges-Paccot ihre neue Primarschule eröffnen, im Frühling 2018 folgte die dazugehörige Doppelturnhalle. Die Bauten von Oeschger Schermesser Architekten schaffen einen attraktiven Ort an komplexer Lage. Im Innern überzeugt die Schule mit einer überraschenden Farbgebung.

Als die Verkehrsplaner in den 1960er-­Jahren die Autobahn A12 Vevey–Bern projektierten, wählten sie im Raum Freiburg eine Linienführung entlang des nordwestlich der Stadt gelegenen Lava­pesson-Tals, mitten durch den Weiler Granges-Paccot (der Name leitet sich ab vom spätlateinischen «grangia» = Scheune). Rund 50 Jahre später ist nicht nur die benachbarte Kantonshaupt­stadt gewachsen, auch das Gebiet zwischen den «Scheunen» wurde durch Wohnquartiere ergänzt.

Granges-Paccot ist inzwischen mit der Gemeinde Givisiez und Freiburg zu einem Siedlungsgebiet zusammengewachsen – durch das eben eine Autobahn führt. Die Bevölkerungszahl der Gemeinde hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Vor allem Familien sind zugezogen, die Zahl der Schulkinder hat sich gar verdreifacht. Das bestehende Primarschulhaus von Chantemerle von 1977 wurde zu eng. Ende 2013 schrieb die Gemeinde einen offenen Wettbewerb für einen Neubau mit Doppel­turnhalle aus, den Oeschger Schermesser Architekten aus Zürich für sich entscheiden konnten.

Das dreieckige, rund 20 000 m² grosse Grundstück illustriert die Folgen der einstigen Verkehrs­planung: Zwar liegt es zentral inmitten der drei Haupteinzugsgebiete der Schule, aber auch direkt neben der A12, die die Gemeinde von Ost nach West durchschneidet. Die Schülerinnen und Schüler von ennet der Autobahn überwinden das Hindernis via Route de Chavully, die die Fahrbahn als Brücke überquert und dem neuen Schulzentrum auch den Namen gab. An der Süd- und Ostseite des Perimeters hingegen liegt ein kleines Wäldchen, durch das ein Fussweg zum heutigen Schulgebäude führt. Durch die Setzung der Bauten, die Erschliessung und die Fassadengestaltung gelang es den Architekten, die Stimmung des Walds einzufangen und jene der hochfrequentierten Autobahn für die Nutzerinnen und Nutzer auszublenden.

Verfeinerte Weiterentwicklung

Das im September 2017 fertiggestellte Schulzentrum Chavully ist der zweite realisierte Bau des Büros. Schon der erste, die Primarschule Avry, lag im Kanton Freiburg (vgl. TEC21 26–27/2017), und auch die folgenden – alles Siegerprojekte aus Wettbewerben – sind Schulhäuser in der Romandie: das Collège de La Sarraz VD (Fertigstellung Sommer 2019), die Primarschule Praroman der Gemeinde Le Mouret FR (Wettbewerb Herbst 2018) und die Primarschule Champsec in Sion VS (Wettbewerb Herbst 2018). Die Zürcher scheinen mit ihren Ideen die lokalen Bedürfnisse und Erwartungen an ein Schulhaus besonders gut zu erfüllen.

Tatsächlich weisen die beiden Bauten in Avry und Granges-Paccot Gemeinsamkeiten auf, allen voran die expressive Farbgebung und die Volumetrie, zwei in Lage und Höhe leicht versetzte Kuben, die sich aus dem in zwei Richtungen geneigten Hang ergibt. Auch die Erschliessung ist verwandt: Statt Korridoren gibt es eine Abfolge ineinander verschränkter Hallen, die auch für Gruppenarbeiten genutzt werden können. Zusammen mit der identitätsstiftenden Holzfassade und der Setzung der Volumen war diese Aufsplittung des Raumprogramms in einen kindgerechten Massstab einer der Gründe für den Wettbewerbsgewinn.

Der östliche, der Stadt Freiburg zugewandte Bau beherbergt die Schule mit Klassen für rund 250 Kin­der inklusive Spezialräumen und sechs Kinder­gärten. Im westlichen, zur Autobahn hin gelegenen Bau ist die auch für ausserschulische Aktivitäten genutzte Doppelturnhalle untergebracht. Sie wirkt als Lärm- und Sichtschutz für das Areal und begrenzt den zwischen beiden Gebäuden liegenden Aussen­bereich, der sich so atmosphärisch zum Wald hin orientiert.

Jeweils ein Zugang an der Südost- und an der höher gelegenen Nordwestfassade führen in die Eingangshalle, die sich als mäandrierender Raum durch die beiden Kuben zieht und so Durch- und Ausblicke ermöglicht. Entlang der Nordwest- und Nordostfassade sind drei je 101 m² grosse Kindergärten aufgereiht, im Zentrum liegt der Kern mit Sanitärräumen und Fluchttreppenhaus. Eine zentrale Treppe führt in den um ein halbes Geschoss nach oben versetzten Quadranten, der das identische Raumprogramm gespiegelt enthält und zum Aussenbereich vis-à-vis der Turnhalle führt.

Die beiden Obergeschosse sind analog angelegt, allerdings reihen sich hier jeweils vier 81 m² grosse Klassenzimmer entlang der Fassaden. Die versetzte Anordnung der beiden Gebäudeteile erlaubt es, dass die Mehrheit der Klassenzimmer übereck belichtet wird, was besonders zum benachbarten Wäldchen hin eine spezielle Lichtstimmung ergibt.

Holz, Beton, Farbe

Die Fassadengestaltung verstärkt diese Assoziation. Die Architekten entschieden sich für eine Fassade aus druckimprägnierten, pigmentierten und mit einem doppelten Anstrich versehenen Weisstannenholz, das Tragwerk des Baus hingegen ist aus Beton. Die Holzelemente gliedern die Aussenhaut sowohl horizontal als Sturzbänder als auch vertikal. Dabei wechseln sich je ein bodenbündiges grosses Fenster, ein durch Öffnungen in der vertikalen Lattung semitransparentes und ein geschlossenes Holzelement ab. Gesimse betonen die ­einzelnen Geschosse. Im Innern wirken die semitransparenten Elemente wie ein Blick zwischen Baumstämmen hindurch auf eine Lichtung – eine Waldschule inmitten der Agglomeration.

Im Innern schufen die Architekten zwei Welten: jene des Materials und jene der Farbe. Die Erschlies­sungszonen aus hellem Sichtbeton ergänzt ein elfenbeinfarbener Terrazzoboden und eine durch ein Beton­fries von der Wand abgesetzte Akustikdecke aus Eichenholz. Die breiten Fensterrahmen, die Türen, Handläufe und Sitzbänke vervollständigen die Holz­palette, matt vernickelte Kleiderhaken dienen als Garderobe oder als Aufhängung für Selbstgebasteltes.

Die Unterrichts­räume kontrastieren dieses aufgeräumte Ambiente mit einer expressiven, aber ruhigen Farb­gebung. Sie sind jeweils monochrom in Pastellblau – in den Kinder­gärten – oder Pastellgelb bzw. -grün in den Klassenzimmern ausgeführt. Die Farbigkeit erinnert an den in Blau und Grün gehaltenen Vorgänger in Avry, wirkt durch den hohen Weissanteil aber deutlich unaufgeregter. Die farbigen Flächen – gestrichene Weissputzwände, eine ebenfalls gestrichene Akustikdecke und ein gegossener PU-Boden – bilden den Hintergrund für die schulischen Aktivitäten.

Trotz oder mit

Mit dem Schulzentrum Chavully werten die Architekten einen schwierigen, vom Verkehr geprägten Ort auf. Durch einfache architektonische Mittel wie den räumlichen Versatz, die Halbgeschosse und die durchaus mutige Farbgebung gelingt es ihnen, einen architektonischen Reichtum zu schaffen, der Kinder und Erwachsene ­gleichermassen anregt und die Anforderungen an ein zeitgenössisches Schulhaus erfüllt.

Mit der Autobahn durchs Dorf haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner von Granges-Paccot längst arrangiert. Bauten wie das neue Schulzentrum zeigen, wie an solch extremen Lagen städtebaulicher Mehrwert entstehen kann – sogar für die Kleinsten.

21. Dezember 2018 TEC21

«Das Spontane ist die Qualität»

Das Haus Sura in Davos ist ein Beispiel für die zeitgenössische Interpretation von Sgraffito. Der Architekt Robert Arnold erläutert die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz.

TEC21: Herr Arnold, beim Bau des ­­Hauses Sura in Davos hatten Sie vonseiten der Bauherrschaft viele Freiheiten. Wie kam es dazu?
Robert Arnold: Das war ein Glücksfall. Die Bauherrschaft hatte Vertrauen und uns einen Freipass ­ge­geben. Bestellt hatte der Bauherr «das Nonplusultra». Ich habe mir zunächst lang überlegt, was das be­deuten könnte. Letztendlich bin ich auf die Frage der Qualität gestossen, der Wertigkeit. Während meiner Ausbildung hatte ich im Architekturbüro von Albert Caviezel in Vitznau gearbeitet. Er war eng mit dem Künstler Steivan Liun Könz befreundet, der zahlreiche Sgraffiti im Engadin und auch im Unterland realisiert hat. Daran erinnerte ich mich, über diesen Weg bin ich beim Sgraffito gelandet. Als Ausführende empfahl mir Albert Caviezel Steivan Liuns Nichte Mazina Schmidlin-Könz, die ebenfalls Sgraf­fiti realisiert.

TEC21: Wie musss man sich die Zusammen­arbeit zwischen Ihnen und Frau Schmidlin-Könz vorstellen? Das Volumen war zu dieser Zeit ja bereits fertig. Oder hatte der Entscheid für Sgraffito auch architektonische Entscheidungen zur Folge?
Robert Arnold: Es gab einige Fragen, die sich erst daraufhin lösten, z. B. beim Vordach oder beim Dachrandabschluss. Auch die flächenbündigen Fenster haben wir extra gemacht, um keine Reminiszenz an die markanten Laibungen beim historischen Engadinerhaus zu wecken. Daneben war auch die eigentliche Konstruktion eine Anpassung an das Sgraffito. Ursprünglich war die Konstruktion mit Aussendämmung geplant, wie das heute Standard ist. Für mich war aber klar: Sgraffito bedeutet ein zweischaliges Mauerwerk. Neben den architektonischen Details änderte sich auch meine Rolle als Architekt. Mein Standpunkt war: Hier arbeitet eine Künstlerin, die Rückendeckung braucht. Ich habe mich eher als Coach gesehen.

TEC21: Und Sie hatten das Vertrauen, dass das auch gut kommt?
Robert Arnold: Nach dem ersten Telefonat hatte ich Mazina eine Fas­sadenabwick­lung geschickt. Dann kam eine Zeichnung retour. Emotional hatte ich eine Vor­stellung vom Projekt, hätte sie aber nicht darstellen können oder sagen, worin sie besteht. Die Zeichnung entsprach genau diesen Ideen. Von da an habe ich nur noch versucht, ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Wir mussten zum Beispiel ein Farb- und Materialkonzept eingeben – mit einem freien Sgraffito funktioniert das nur bedingt. Das war administrativ die grösste Hürde. Dann hat sich aber herausgestellt, wie tragfähig das Konzept war. Alle Be­­tei­ligten haben ihre Opposition relativ schnell aufgegeben, als sie die Wertigkeit der Idee verstanden hatten.

TEC21: Es gab also eine grundsätzliche ­Opposition?
Robert Arnold: Das war die grundsätzliche Opposition gegen das Ungenaue, das Unvorhergesehene. Wie soll jemand in der heutigen Zeit etwas bewilligen, von dem er nicht weiss, wie es letztendlich ausgeführt wird? Tatsächlich ist aber genau dies die Qualität dieser Fassade, dass es spontane Entscheidungen gab. Am wichtigsten ist, dass der Bau eine Selbstverständlichkeit entwickelt, kein Spektakel.

21. Dezember 2018 TEC21

Kratzen für die Ewigkeit

Sgraffito kann mehr als nur Engadiner Häuser zieren. Seine Vielseitigkeit und die lange Haltbarkeit sind auch für heutige Anwendungen attraktiv. Technisch möglich wird dies durch zeitgenössische Putze, die traditionell verarbeitet werden.

Sgraffito wird hierzulande praktisch gleichgesetzt mit dem Bautyp des historischen Engadinerhauses. Tatsächlich handelt es sich beim Sgraffito – der Name stammt vom italienischen «(s)graffiare» = ritzen, kratzen – um eine jahrhunderte­alte Technik, die auf der handwerklichen Bearbeitung von Kalkmörtel beruht und in ganz Europa verbreitet ist, teilweise unter anderem Namen oder in einer verwandten Anwendungsweise. In die Schweiz gelangte sie in der Renaissance via Italien und setzte sich hier vor allem im Engadin durch.[1]

Zum einen lag das an den engen Handelsbeziehungen, zum anderen eigneten sich das trockene Klima sowie die zahlreichen Kalkvor­kommen und deren bereits etablierte Nutzung für die Technik. Zum Erfolg trug aber auch der Bautypus des traditionellen Engadinerhauses bei. Während Sgraffito in Italien vor allem städtische Bauten zierte, trans­formierte es die Wirtschafts- und Wohngebäude der Engadiner Bauern zu repräsentativen Bauten. Deren grossflächige asymmetrische Fassaden, die sich aus der Kombination von Struktur und städtebaulicher Konstellation ergaben, liessen sich mittels Sgraffito gliedern.[2]

Dazu kam die Konstruktion: Die unregelmässigen Bruchstein- und Strickbauwände wurden mit einer dicken Kalkputzschicht überzogen, die tiefen, abgeschrägten Fensterlaibungen mit weisser Kalktünche betont. So fügten sich hier Fassadengestaltung und Architektur zu einem markanten Bautyp zusammen, dessen Bildhaftigkeit durch Illustrationen in Kinderbüchern wie dem «Schellen-Ursli»[3] und durch den ­tradierten Formenkatalog ins kollektive nationale Gedächtnis eindrang und auch heute noch wirkt.

Handwerk, Kunst, Kunsthandwerk

Für das Engadin typisch sind die grafischen Hell-Dunkel-Motive. In anderen europäischen Regionen ­setzten sich auch mehrfarbige Sgraffiti durch, vor allem ab dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. So sind reich geschmückte Jugendstilfassaden aus Österreich bekannt, in Deutschland oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion findet man ab den 1930er-Jahren oft politisch angehauchte Motive.

Der Basisaufbau für ein Sgraffito besteht aus einem mindestens 20 mm dicken Grundputz, der Un­ebenheiten des Mauerwerks ausgleicht und eine flächendeckende Haftung gewährleistet. Darüber folgt ein dunkler mineralischer Putz als Kratzgrund. Früher wurde für die Färbung Russ oder Holzkohle verwendet, heute sind es Pigmente. Anschliessend trägt man eine helle Kalkschlämme «al fresco» auf, also solange der Verputz noch feucht und im Abbinden begriffen ist. Sie ist die eigentliche Kratzschicht. Bei bunten Motiven sind es mehrere verschiedenfarbige Schichten.

In die oberste Schicht wird das Motiv als Vorriss geritzt, anschliessend kratzt man die feuchte Kalkschlämme als Linie oder Fläche heraus, sodass der dunkle Grundputz an die Oberfläche tritt und ein leichtes Relief ­entsteht. Als Kratzwerkzeug kann ein einfacher Nagel dienen. Bei mehrfarbigen Sgraffiti ist die Technik schwieriger, da der Bildaufbau umgekehrt werden muss: Zuerst werden die Details angelegt, die Umrisse werden erst zum Schluss sichtbar.

Das eigentliche Kratzen oszilliert je nach Ausführendem und Anspruch zwischen Kunst und Handwerk. So gibt es Motive, die mit dem Zirkel vorgeritzt sind, oder sich wiederholende Formen, die mittels Schablonen aufgetragen werden. Daneben gab und gibt es aber auch immer die freien Zeichnungen, die poetische Motive wie Fabelwesen oder auch künstlerische Interpretationen zum Thema haben, wie man sie aus den 1930er- bis 1960er-Jahren kennt, sowie die typischen Sinnsprüche der Engadinerhäuser. Die Ausführenden waren und sind dementsprechend sowohl Handwerker als auch Künstler, die neben den traditionellen Motiven auch eigene Bildwelten realisieren.

Mehr als Oberfläche

Faszinierend an Sgraffito ist die Verbindung von ­Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit: Durch den Al-fresco-Auftrag nass in nass entsteht ein ephemerer Moment, anschliessend bildet sich durch die Karbonatisierung des Kalkmörtels eine feste Verbindung zwischen Farb- und Putzschicht, was auch das Sgraffito haltbar und witterungsresistent macht. Das Wasser verdunstet, der Kalk verbindet sich mit Kohlendioxid aus der Luft. So wird der Putz wieder zum Ausgangsmaterial Kalkstein, der chemische Kreislauf schliesst sich.

­Heute gibt es vor allem im Engadin zahlreiche über 300-­jährige Sgraffiti in hervorragendem Zustand. Bedroht sind sie gemäss Johannes Florin von der Bündner Denkmalpflege denn auch weniger vom Alterungsprozess als durch Neuerungen. Durch Um- oder Einbauten für heutige Ansprüche ändert sich oftmals das Innenraumklima und damit auch jenes in der Wand, was zu Schäden an den Sgraffiti führen kann. Und natürlich sind die Sgraffiti auch den Launen des Zeitgeists unterworfen: So wurden um die Wende zum 20. Jahrhundert zahlreiche Ornamente im Engadin übermalt, bis in den 1970er-Jahren der Wind kehrte und die historischen Darstellungen wieder hervorgeholt wurden. Das Gute an der Technik: Wird der Putz lediglich übermalt, sind die Ornamente nicht unwiederbringlich verloren.

In den letzten Jahren liessen vor allem in Deutschland energetische Instandsetzungen zahlreiche Beispiele aus den 1950er- und 1960er-Jahren hinter einer Aussendämmung verschwinden, oder sie wurden im Zuge einer Komplettsanierung zerstört. Auch dies ein Zeichen des Zeitgeists, immerhin waren Fassadenverzierungen um die Jahrtausendwende in der Architektur verpönt, und Aspekte der Energieeffizienz gewannen an Bedeutung. Schliesslich sorgten auch indust­riell hergestellte Materialien und das Aufkommen von Wärmedämmverbundsystemen für ein Verschwinden der Technik – Standardisierung, Garantien und Planbarkeit: bekannte Feinde des Handwerks.Revival? Ja, gern!

Doch wie in vielen anderen Bereichen könnte auch hier die Fusion zweier Herangehensweisen zu einer Weiterentwicklung und damit einer Wieder­belebung des Handwerks führen. Franz Bieri, Putz­experte bei Keimfarben, realisierte zusammen mit dem Architekten Robert Arnold und der Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz 2014 ein zeitgenössisches Sgraffito an einem Mehrfamilienhaus in Davos (vgl. «Häuser sollen kommunizieren»). Auf einem ­Mauerwerksuntergrund entschied man sich hier für einen hydraulischen Kalkputz als Grundputz und einen pigmentierten, zweischichtig aufgetragenen feinkörnigen Deckputz mit industriell gefertigten und erprobten Standardprodukten des Unternehmens. Das Sgraffito wurde anschliessend auf traditionelle Art und Weise aufgebracht – das Ergebnis überzeugt in ästhetischer und bisher auch in technischer Hinsicht.

Franz Bieri würde allerdings sogar noch weiter gehen: Seiner Ansicht nach könnte Sgraffito auch auf einem Wärmedämmverbundsystem funktionieren. Beispiele für ein vergleichbaren Putzaufbau bei einer Aussendämmung gibt es bereits – allerdings ohne Sgraffito.[4] Bedingung für ein WDVS-Sgraffito wäre eine dickschichtige Netzeinbettung von mindestens 10 mm, um Risse an der Fassade zu vermeiden. Was in der Theorie einfach tönt, verlangt allerdings viel Erfahrung bei der Ausführung: Die Feuchteregulierung der verschiedenen Schichten und der Einfluss der Witterung sind nicht komplett planbar. Das Ergebnis ist in jedem Fall eine «lebendige», aber eben auch unregelmässige Oberfläche, allfällige Ausbesserungsarbeiten sind gestalterisch anspruchsvoll.

Dennoch: Das perfekte Unperfekte – und damit Einzigartige – in der Gestaltung ist längst wieder en vogue. Das gilt auch für Fassaden. Mutige Architek­tinnen und Architekten sind also herzlich eingeladen, die erste Sgraffitofassade auf einem WDV-System zu planen.


Anmerkungen:
[01] Die Angaben zur Sgraffitogeschichte und -technik beruhen auf der Publikation «Sgraffito – eine traditio­nelle Putztechnik im Engadin» von Hartmut Göhler in: Über Putz. Oberflächen realisieren und entwickeln (vgl. TEC21 27–28/2012, S. 11).
[02] Die Engadinerhäuser sind gemäss der romanischen genossenschaftlichen Dorf- und Wirtschaftsorganisation jeweils zu einem Dorfplatz mit Brunnen hin orientiert. Mit ihren beiden Eingängen, dem Eingangstor in den Sulèr (Vorraum zu Stube, Küche, Vorratskammer und Scheune) und der Zufahrt zum Stall an der Stirnseite ergeben sich deshalb unregelmässige Fassadengliede­rungen. Vgl. Duri Gaudenz, «Das Engadiner Haus» in: Hans Hofmann, Unterengadin, Calanda Verlag, Chur 1982.
[03] Dessen Autorin, Selina Könz (auch: Chönz), war die zweite Ehefrau des Architekten Iachen Ulrich Könz und Mutter des Künstlers Steivan Liun Könz. Beide restaurierten historische Sgraffiti im Engadin und fertigten auch eigene Werke an, darunter z. B. die Fassade des Hauses zum kleinen Pelikan an der Schipfe in Zürich.
[04] Vgl. Über Putz. Oberflächen entwickeln und realisieren, gta Verlag, Zürich 2012, S. 86–117.

21. Dezember 2018 TEC21

«Häuser sollen kommunizieren»

Das Haus Sura in Davos überrascht mit einer ausdrucksvollen Sgraffitofassade. Der Entwurf und die Umsetzung stammen von ­Mazina Schmidlin-Könz. Im Gespräch erzählt die Künstlerin von der speziellen Zusammenarbeit und der Qualität des Unvorhergesehenen.

Hoch am Sonnenhang über Davos, direkt am Waldrand, steht trutzig das Haus Sura. Neben den benachbarten Hotelpalästen wirkt es trotz seiner fünf Geschosse nicht besonders mächtig, aber mächtig besonders: Umlaufende Sgraffiti zieren die grauen Fassaden. Mysteriöse Inschriften und archaische Ornamente, Formen und Muster scheinen eine geheimnisvolle Botschaft auszusenden.

Das Innere ist profaner, die Baugeschichte hingegen ist es nicht: Als Spekulationsobjekt mit vier identischen Ferienwohnungen kam der von einer Generalunternehmung geplante Bau 2010 auf den Markt. Die heutige Bauherrschaft kaufte statt einer Wohnung gleich das ganze Projekt und liess es zu einem Ferienhaus nach eigenem Gusto abändern. Neben Wellness- und Fitnessräumen beherbergt der 2014 fertig gestellte Bau Suiten und ­Einzelzimmer, die als Ganzes oder individuell gemietet werden können.

Für die Architektur zeichnet der Küssnachter Architekt Robert Arnold verantwortlich (vgl. «‹Das Spontane ist die Qualität›»). Mit der Gestaltung der Fassade beaufragte er die Künstlerin Mazina Schmidlin-Könz aus der Architekten- und Künstlerdynastie Könz (vgl. Kasten unten). Sie entschied sich, die Fassade in traditioneller Sgraffitotechnik auszuführen (vgl. «Kratzen für die Ewigkeit»), setzte aber auf eine individuelle Auslegung der bekannten Motive. Das Ergebnis ist ein Bau, der zugleich zeitgenössisch und wie aus der Zeit gefallen wirkt.

TEC21: Frau Schmidlin-Könz, bei der Fassaden­gestaltung des Hauses Sura in Davos haben Sie tra­ditionelles Sgraffitohandwerk angewendet, die Gestaltung jedoch ist zeitgenössisch. Was waren Ihre Überlegungen dazu?
Mazina Schmidlin-Könz: Für mich war von Anfang an klar, dass ich an diesem Ort gern ein Sgraf­fito realisieren möchte. Aber ich wollte eine Neuinterpretation, kein Abmalen bekannter Motive mit dem Zirkel. Dazu kam die Farbe, eine Reminiszenz an den Ort mit seinem grauen Kalkstein und den orangen Färbungen der Eiseneinsprenkel. So wächst der Bau quasi aus dem Fels heraus. Der Architekt war sehr offen und akzeptierte meine Ideen. Und er half mir, auch die Bauherrschaft davon zu überzeugen.

TEC21: Wie liefen Planung und Ausführung konkret ab?
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe zunächst eine Fassadenabwicklung des Architekten erhalten, darauf beruhte mein erster Entwurf. Anschliessend fertigte ich einige Modelle, weitere Fassadenentwürfe und Fassadenmusterplatten an. Für die definitive Ausführung wurde die Fassaden in 14 jeweils etwa 60 m² grosse Abschnitte eingeteilt, die Fläche, die etwa einem Tageswerk entspricht. Zu diesen 14 Abschnitten kamen die Sonderflächen wie Laibungen bei den Terrassen oder beim Keller dazu, die wir ganz zum Schluss bear­beitet haben. Meine zwei Mitarbeiterinnen und ich arbeiteten von oben nach unten.
Wichtig ist eine gute Zusammenarbeit mit einem handwerklich versierten Gipser, der den Verputz auftragen muss. Wir verwendeten einen verglätteten hydraulischen Kalkputz mit kleinem Zementanteil. Der auf den Grundputz aufgetragene Deckputz wird zweilagig 3 bis 4 mm oder einlagig 6 mm dick auf­getragen. Man darf ihn nicht verdichten, damit die nachfolgenden Lasuren gut eindringen können.
Sgraffito ist eine Al-fresco-Technik: Wenn der Putz noch nass, aber schon etwas angetrocknet ist, wird er mit Sumpfkalk überstrichen. Der Sumpfkalk kann mit Wasser mehr oder weniger verdünnt werden und erzeugt so weisse Flächen mit einem unterschiedlichen Deckungsgrad. Zudem habe ich zusätz­liche Schichten mit pigmentiertem Sinterwasser aufgetragen, um die Fassade farbig gestalten zu können. Die Schwierigkeit dabei ist, dass die Sumpfkalk- und Sinterschichten stark verdünnt, also fast farblos sind, der Deckungsgrad und die Farbigkeit folglich erst beim Trocknen sichtbar werden. Beim Auftragen dieser Schichten kann man die Gestaltung deshalb noch nicht erkennen. Erst nach dem Abbinden des Deckputzes ist die Farbigkeit vollständig sichtbar. Um diese Schichten gestalterisch kontrollieren zu können, sind vorgängig Muster und eigentliche individuelle Rezepte zu erstellen. Nach dem Auf­tragen kann der noch feuchte Putz auch bei den nicht gestrichenen Flächen gekratzt werden. Korrekturen können nach dem Kratzen keine mehr angebracht werden. Wir haben die gesamte Fassade freihändig mit einem Nagel bearbeitet. Und auch das Wetter muss mitspielen: Es darf nicht regnen oder zu kalt sein, sonst trocknet die Fassade mehrere Tage nicht. Bei weniger als 4 °C bindet der Putz nicht mehr ab.

TEC21: Was sind typische Schwierigkeiten oder Fehler bei der Herstellung von Sgraffiti?
Mazina Schmidlin-Könz: Man benötigt einen ausreichend grossen Zeitraum, um die Arbeiten ausführen zu können. Zudem muss der Putz mit der traditionellen Sumpfkalktechnik ausgeführt werden. Moderne kunststoffvergütete und dünn aufgetragene Putze eignen sich nicht. Und selber hergestellte Putzmischungen würden zudem das Problem der Produktehaftung erzeugen.

TEC21: Auf welche Grundlagen haben Sie sich bei den Motiven bezogen? Beim Sgraffito an den historischen Engadinerhäusern gibt es ja fast eine Art Formen­katalog für die einzelnen Bauteile.
Mazina Schmidlin-Könz: Ich habe die traditionellen Motive wie Schrift, Ornamentik und geometrische Formen neu interpretiert. Sgraffito ist faszinierend, weil es so lebendig ist. Es gibt durch die Kratztechnik eine Tiefenwirkung, die weit über jene des reinen Farbbauftrags hinausgeht, ein Spiel mit Licht und Schatten. Für dieses Haus wollte ich aber eher eine Art Hülle erzeugen. Ich bin auch Textilgestalterin, was man beim Haus Sura auch sieht. Die Fassade wirkt sehr textil.
Mein Entwurf diente bei der Ausführung als Basis, aber so, wie ich ihn umsetzte, gab es darin spontane Elemente. Ich wollte nicht einfach den Plan kopieren, und manche Entscheidungen hingen auch davon ab, welche Erfahrungen ich vor Ort machte. Mit dieser potenziellen Ungenauigkeit hatten die Bauherrschaft und die Behörden allerdings Mühe.
Für mich muss Sgraffito spontan sein. Eine Kopie der historischen Motive ist der falsche Weg – auch wenn viele Handwerker so arbeiten. Unser Farb- und Formempfinden hat sich weiterentwickelt. In der Malerei versuchen wir ja auch nicht, eine bessere Mona Lisa zu malen. Wir müssen versuchen, wieder mehr Gefühl zu zeigen. Das funktioniert aber nur, wenn man den Mut hat, sich von seiner Entwurfszeichnung zu lösen. Man erkennt das gut, wenn man die gezeichneten Entwürfe mit der realisierten Fassade vergleicht: Es gibt eine Ähnlichkeit, sie ist aber kein identisches Abbild. Man muss die Freiheit haben, den Moment einfliessen zu lassen. Und vor Ort ausprobieren können, wie das Material reagiert.

TEC21: Wie ist die Resonanz auf den Bau?
Mazina Schmidlin-Könz: Unterdessen sehr positiv. Wenn ich vor Ort bin und höre, was die Leute sagen, die vorbeilaufen – der Bau wird immer angeschaut. Und das ist es ja, was Häuser machen sollten: mit den Menschen kommunizieren. Architekten haben heute Angst vor der Kunst. Sie sollten mehr Mut haben, mit Künstlern zusammenzuarbeiten. Früher gab es in dieser Hinsicht mehr Freiheiten: Die Hausbesitzer kannten die Sgraffitokünstler und vertrauten ihnen. Heutzu­tage geht es leider meist zuerst ums Geld, dann um die Absicherung und dann erst ums Projekt.

5. Oktober 2018 TEC21

Sach- und Dachgeschichten

Die Basler St. Jakobshalle wurde instand gesetzt und erweitert. Der Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler gelang nicht nur eine zeitgenössische Neuinterpretation: Mit dem aktuellen Umbau haben sie die Halle neu erfunden.

Unglaubliche siebeneinhalb Zentimeter misst das Dach der 1976 eröffneten St. Jakobshalle an seiner dünnsten Stelle. Ganze 4.65 m hingegen ist die maximale Höhe des 127 m langen Vordachs beim neu angefügten Foyer Nord. Die Zahlen machen deutlich: Die aktuelle Erweiterung ist auch eine Geschichte von zwei Dächern.

Als Mitte der 1970er-Jahre der Wunsch nach einer neuen Sporthalle im Basler Osten aufkam, entschieden sich Giovanni Panozzo und Albert Schmidt, Architekt und Ingenieur der späteren St. Jakobshalle, für eine filigrane Konstruktion aus Leichtbeton, die, wenn auch inzwischen aufgrund zusätzlicher Nutzungen punktuell verstärkt, noch heute intakt ist. Anfang der Nullerjahre wurde der Bedarf nach einer Modernisierung des 22 000 m² grossen Gebäudekomplexes aber wegen gestiegener Sicherheitsanforderungen immer dringlicher.

Tatsächlich war es nicht die Konstruktion der Grossen Halle mit 2800 m², die Anpassungen nötig machte, sondern die sich verändernden Rahmenbedingungen: Ursprünglich vor allem als Sportstätte konzipiert, bietet der Bau neben zwei weiteren Hallen (Kleine Halle und Halle 2) auch diverse Säle und Veranstaltungsräume (vgl. Grundrisse %%gallerylink:42848:hier%% und %%gallerylink:42849:hier%%). Und der Kern, die Grosse Halle, beherbergt inzwischen einen bunten Mix an Events, von der Generalversammlung über Fernsehshows bis zu Musikkonzerten und dem wichtigsten Mieter, dem Tennisturnier «Swiss Indoors». Entsprechend ge­stiegen war der Bedarf an Technik, an Fluchtwegen, an Zu- und Anlieferung, an Verpflegungsmöglichkeiten.

Der Kanton liess daher in einer Studie Abriss und Ersatzneubau der St. Jakobshalle prüfen. Dabei kam man allerdings zu dem Schluss, ein Erhalt des nicht denkmalgeschützten Baus sei in finanzieller Hinsicht deutlich günstiger – vor allem aus der Überlegung heraus, dass internationale Veranstalter, konfrontiert mit einem mehrjährigen Unterbruch, dauerhaft auf andere Spielstätten ausweichen könnten.

Radikaler Richtungswechsel

Den vom Kanton ausgeschriebenen Generalplanungswettbewerb für die Instandsetzung des Baus konnte im Juni 2013 die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler für sich entscheiden – ausschlag­gebend dafür war unter anderem die enge Zusammen­arbeit mit den Ingenieuren von Schnetzker Puskas, eine fruchtbare Kooperation, die sich durch gesamte ­Planungs- und Bauzeit hindurch fortsetzte. Die Planer präsentierten als nur eines von zwei Teams einen ­städtebaulichen Befreiungsschlag: Ursprünglich befand sich der Haupteingang an der Brüglingerstrasse. Wollte man die St. Jakobshalle von der gleichnamigen Tramhaltestelle aus erreichen, musste man zunächst eine Treppenflucht über einen kleinen Hügel hinter sich bringen – die Haupterschliessung wirkte wie ein Nebeneingang ohne jede Grosszügigkeit.

Mit der Verlegung des Haupteingangs an die St. Jakobs-Strasse ist diese unglückliche Disposition nun gelöst. Ein Glücksfall war, dass die dafür nötigen Flächen bisher unbebaut geblieben waren. Heute betritt man den Bau direkt über das repräsentative Foyer Nord, die St. Jakobshalle hat damit eine Adresse und ein Gesicht. Das Foyer dient zum einen als Verteiler in die unterschiedlichen Hallen und Veranstaltungsräume, zum anderen kann es auch selber als Eventfläche genutzt werden. Wie ein Mantel legt es sich gemeinsam mit dem ebenfalls angebauten Foyer Süd um die Bestandbauten.

So entsteht eine neue Einheit – und Mantelnutzung wird einmal ganz wörtlich verstanden. Die Aufwertung dieser Räumlichkeiten, vor allem für das Catering, war neben der Adressbildung ein weiteres Anliegen für die Modernisierung. Denn die Events bilden zwar den Anziehungspunkt, den Umsatz aber macht die Gastronomie. Bisher waren die Verpflegungsstände vor allem in Temporärbauten untergebracht. Neu sind sie einheitlich in den Innenausbau entlang der Verkehrsflächen integriert.

Das Wettbewerbsprojekt brachte neben der verbesserten Erschliessung noch eine weitere wichtige Neuerung: die Erhöhung der Zuschauerkapazität in der Gros­sen Halle. Mit bisher 9000 Plätzen lag sie knapp unter der magischen Fünfstelligkeit und weit entfernt von der Konkurrenz, dem Zürcher Hallenstadion für 13 000 Zuschauer. Um im europäischen Wettbewerb mithalten zu können, sollten es schon 12 000 sein, eine Zahl, die die Halle nach dem aktuellen Umbau problemlos erreicht. Denn tatsächlich sind die Zu­schauerzahlen weniger von der Hallengrösse abhängig als von den Fluchtwegen und den Massnahmen für den Brandschutz.

Robuste Eleganz

Im Januar 2015 bewilligte der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt einen Kredit von 105 Mio. Franken für die Instandsetzung und Modernisierung des Bauwerks, im Frühling 2016 begann die erste Etappe der insgesamt drei Bauphasen. Um einen unterbruchsfreien Veranstaltungsbetrieb zu gewährleisten, fanden die Arbeiten jeweils in den spielärmeren Sommermonaten statt.

Das war aber nur eine der Herausforderungen. Eine weitere zeigte sich beim Innenausbau: Die Vielfalt an Events verlangt einen Spagat in der Gestaltung. Robust genug für ein Rockkonzert, angemessen gediegen für ein Galadinner sollten die Materialien sein. Die Architekten lösten die Aufgabe mit zurückhaltender Eleganz und Eichen- und Redgumholz an den Wänden, mit einem Boden aus grossformatigem Feinsteinzeug und farbigen Differenzierungen.

Die drei Hallen treten wie früher als Blackboxes in Erscheinung – je kleiner die Halle, desto heller das gewählte Schwarz. Die sie umfliessenden Nebenräume und Verkehrsflächen sind in neutralem Weiss gehalten. Für Atmosphäre sorgen die unterschiedlichen Möglichkeiten der Beleuchtung. Über sieben Licht­kuppeln flutet Tageslicht ins Innere des Foyers Nord, ergänzt durch eine Grundbeleuchtung aus eigens entwickelten LED-Leuchtringen, die zugleich noch Zu- und Abluft beinhalten (vgl. «Luft im Dach»). Bei einem intimeren Anlass können in die Decke in­tegrierte LED zugeschaltet werden. Der Clou für astronomische Connaisseurs: Sie sind massstäblich als Sternbilder angeordnet.

Wo sind all die Fenster hin?

Neben all der Freude über eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt, bleibt aber ein kleiner Wermutstropfen: eine alte Halle, die wie ein Neubau wirkt. Denn der einstige Sichtbeton ist unter Verputz und einer Dämmschicht verschwunden – und mit ihm die unterschiedlich grossen Fenster, die die Fassaden gliederten. Die Dämmung der Fassade und das Schlies­sen der Öffnungen waren allerdings Vorgaben im Wettbewerb. Die Fenster hatten zunehmend zu Problemen bei der Verdunkelung geführt – Veranstalter wünschen heute eine Blackbox mit Kunstlicht. Zudem gab es immer wieder Lärmklagen der Anwohner. In dieser Form ist der Umbau ein Zugeständnis an die Nutzung und wurde nur durch die fehlende Unterschutzstellung der Halle möglich. Er verbessert aber die innere Organisation und stärkt den architektonischen Ausdruck des Gesamtbaus. Das eindrückliche Dach der Grossen Halle kann immerhin noch im Innenraum erlebt werden.

Sein jüngerer Bruder, das weit auskragende Foyerdach, offenbart seine Geheimnisse dagegen nur dem Kenner. Zwar sind seine Dimensionen an der Fassade sichtbar; dass es über seine eigentliche Funktion hinaus auch die für Grossevents notwendige Gebäudetechnik beherbergt (vgl. «Luft im Dach»), lässt sich daran nicht ablesen. Das Dach wird zum Dreh- und Angelpunkt der Modernisierung: Es schafft innen und aussen einen neuen adäquaten Eingangs- und Foyerbereich und sorgt für die Adressbildung. Darüber hinaus bildet es den konstruktiven Rahmen für die baulich notwendigen Ertüchtigungen (vgl. «Neu eingebettet») und beinhaltet die Gebäudetechnik. Man darf gespannt sein, ob auch dieses Konzept in 40 Jahren noch seine Gültigkeit haben wird.

7. September 2018 Daniela Dietsche
TEC21

Risse, fein verteilt

Seit Jahrzehnten dringt Wasser ins Innere des Mariendoms in Neviges. 2017 wurde ein Teil des Dachs mit carbonfaserbewehrtem Beton abgedichtet, wobei auch die Optik nicht zu kurz kommen durfte. Als Probefläche diente das Dach über der Sakramentskapelle.

Das Dach des Mitte der 1960er-Jahre erstellten Mariendoms in Neviges nördlich von Wuppertal besteht aus vielen unterschiedlich geneigten Flächen, aus Spitzen, Kanten und Kehlen. Der Bau ist ein räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, ohne äussere Abdichtung und ohne Dachein­­de­ckung (vgl. «Heilsversprechen in Beton»). In den letzten Jahrzehnten stellten Exper­ten verschiedene Rissschäden im Stahlbetondach fest. ­

Betroffen sind vor allem die Kehlen, die Übergänge von Wand zu Dach, kompliziert gestaltete Eckbereiche, ­ebene Dachflächen sowie die Arbeitsfugen. Durch feine Risse dringt Wasser ins Innere der denkmalgeschützten Kirche. Ansonsten ist der Bau, der seinerzeit mit wasserundurchlässigem Beton (WU-Beton) mit hohem ­Zementanteil und grosszügiger Bewehrung erstellt ­wurde, in gutem Zustand. In erster Linie geht es bei der aktuellen In­standsetzung also darum, das Dach gegen das Eindringen von betonangreifenden oder korro­sionsfördernden Stoffen zu schützen.

Das Problem ist nicht neu: Das Dach des Ma­riendoms war von Anfang an undicht. Mitte der 1980er-Jahre brachte man eine flächige Beschichtung auf Epoxidharzbasis auf. An einigen undichten Kehlbereichen wurde der Beton gegen PCC-Mörtelplomben ausgetauscht. Das löste das Problem nur temporär, denn die starre Harzschicht machte die thermischen Ver­formungen des Dachs nicht mit und löste sich vom Untergrund. Anfang des neuen Jahrtausends war klar, dass etwas passieren musste, bevor die Bewehrung korrodieren würde.

Gegen Wasser schützen

Zunächst dachte die Bauherrschaft an eine Bleideckung, wie sie im Entwurf von Gottfried Böhm auch vorgesehen war. Dieser Ansatz wurde aber verworfen, weil der vergleichsweise hohe Aufbau von rund 10 cm in den Verschneidungen, in denen teilweise bis zu vier verschieden geneigte Schrägflächen aufeinandertreffen, zu grossen Aufbauten geführt hätte. Die Idee, lediglich die Epoxidharzschicht zu entfernen, die am schlimmsten beschädigten Stellen abzudichten und den Bau dann jährlich zu warten, war wegen der aufwendigen Einrüstung und Einhausung für die Bauherrschaft keine Option.

Das Gerüst ist auch bei den aktuellen Arbeiten die Krux und der grösste Kostentreiber. Wegen der exponierten Lage und der besonderen Bauwerksgeometrie sind aufwendige Gerüste, Zuwegungen und Transporthilfen erforderlich. Zudem finden die Arbeiten – bis auf die finale Decklage – jeweils abschnittsweise von oben nach unten statt, d. h., das Gerüst muss jeweils verschoben und neu den geneigten Flächen angepasst werden. Um die zu bearbeitenden Flächen jederzeit vor- oder nachbehandeln zu können und vor erneuter Verschmutzung während der Mörtelaufträge zu schützen, sind umfangreiche Massnahmen nötig, beispielsweise das zeitweise Beheizen des Schutzzelts bei Temperaturen unter 5 °C.

Selbstheilung durch Verfeinerung

Die wasserführenden Risse einfach mit Mörtel zu verpressen ist nicht möglich, da die Dachkonstruktion aufgrund Temperaturbeanspruchung ständig in Bewegung ist. Eine feine Rissverteilung soll Abhilfe schaffen. Es wurde ein Instandsetzungskonzept mit carbon­bewehrtem Spritzmörtel entwickelt – die Idee dazu stammte von Gottfried Böhms Sohn Peter, der die Arbeiten mit seinem Architekturbüro begleitet. Mit dieser Schutzschicht sollen die sich zyklisch öffnenden Einzelrisse in ein fein verteiltes und damit unschädliches Rissbild im Instandsetzungsmörtel überführt werden. Die Rissbreite wird reduziert und ist somit nicht mehr wasserführend.

Die an den Arbeiten beteiligten Experten des Instituts für Bauforschung der RWTH Aachen schlugen vor, eine 28 mm dicke Mörtelschutzschicht (eingebracht in drei Lagen) flächig zu applizieren und jeweils dazwischen eine textile Bewehrung aus Carbon auf den Dachaussenflächen aufzubringen. Zusammen mit der abschliessenden äusseren Decklage beträgt die Dicke des Schutzsystems ca. 35 mm. Zudem empfahlen sie, jeden Riss zunächst mit einem Enthaftungsstreifen vorzubehandeln. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Einzelriss durch die Schutzschicht fortsetzt.

Die aufgebrachte Schicht wirkt wie eine flächige Beanspruchung auf das Faltwerk. «Wir sprechen hier von zusätzlich ca. 80 kg pro m2», sagt Sergeij Rempel, der das Projekt an der RHTW Aachen begleitete. Trotz der Zunahme der ständigen Belastung bleibt das Dach gemäss der statischen Untersuchung ohne weitere Massnahmen tragfähig. Rempel geht von einer Nutzungsdauer der carbontextilbewehrten Schutzschicht von ca. 100 Jahren aus.

Keine Korrosion dank Carbontextil

Da Carbontextil nicht korrosionsanfällig ist, kann es oberflächennah angeordnet werden und eignet sich somit besonders für dünne Bauteile. Lediglich wenige Millimeter sind zur Sicherstellung der Verankerungskräfte erforderlich. Das im Projekt eingesetzte Carbontextil besteht aus haardünnen Filamenten (Durchmesser rund 7 µm). Mehrere tausend dieser Filamente werden zu Fasersträngen gebündelt und anschliessend zu netzartigen Textilien verarbeitet. Die Textilien werden im Werk mit Epoxidharz getränkt, ausgehärtet und besandet, um eine höhere Bruchspannung des Mate­rials zu erreichen und, so die Hoffnung der Experten, dadurch eine noch feinere Rissverteilung zu erreichen.

Das Institut für Bauforschung der RWTH ­Aachen testete die textile Bewehrung in Kombination mit dem ausgewählten Spritzbeton über Jahre, denn nur mit ausreichend Erfahrung konnte das Instandsetzungskonzept auf den Mariendom in Neviges adaptiert werden. Es wurden sowohl experimentelle Unter­suchungen durchgeführt, bei denen nachzuweisen war, dass die Risse fein genug bleiben, als auch theoretische Tests, um zu zeigen, dass sich die neue Schutzschicht nicht vom Altbeton löst. Weitere Versuche legen nah, dass man die Textilien und den Mörtel bei einem möglichen Rückbau trennen könnte. «Man könnte sogar das Textil anschliessend erneut verwenden», ist Sergeij Rempel überzeugt.

Probefläche instand gesetzt

Nachdem alle Tests abgeschlossen waren, beauftragte die Bauherrschaft ein Unternehmen, eine Teil­fläche instand zu stellen. Gewählt wurde das Dach über der Sakramentskapelle. «Aus meiner Sicht ist das die schwierigste Stelle der Konstruktion», meint Sergeij Rempel.

Nach der Einrüstung und Einhausung der zu bearbeitenden Fläche wurde diese auf Schäden, Fehlstellen und Risse untersucht und kartiert. Zum Auftrag der carbontextilbewehrten Schutzschicht und der Enthaftungsstreifen im Bereich der Risse wurden die Betonflächen mit festem Strahlmittel tragfähig vorbereitet. Dazu wurden alle minder festen Schichten und alle trennend wirkenden Substanzen entfernt. Die vorhandene Epoxidharzbeschichtung und -spachtelung aus den 1980er-Jahren wurde abgetrennt – und erwies sich als erstaunlich hartnäckig: Obwohl sie sich stellenweise vom Untergrund gelöst hatte, liess sie sich komplett nur mit deutlich höherem Aufwand als ursprünglich gedacht entfernen. Poren und Lunker wurden geöffnet, bis das mittlere Korngefüge des Beton­untergrunds sichtbar freigelegt war.

Die markierten Bauteilrisse wurden mittig mit einem 18 cm breiten, elastifizierten, mineralischen Spachtel überdeckt, dem sogenannten Enthaftungs­streifen. Anschliessend wurden die steifen, vorab zugeschnittenen Textilien jeweils unmittelbar an die noch frische Zwischenmörtelschicht angelegt, aus­gerichtet, fixiert und mit Trockenspritzmörtel kraftschlüssig eingebettet. Darauf folgte die zweite Schicht aus Textilbewehrung, bevor die Deckschicht und die Hydrophobierung folgten.

Die verwendete Textilbewehrung lässt sich nur noch in geringem Mass verformen. Deshalb mussten für die Bewehrung der zahlreichen Kehlen, Ecken, Grate und Kanten besondere Formteile im Werk vor­gefertigt werden. In den Bereichen horizontaler oder schwach geneigter Flächen wurden die textilbewehrten Schutzmörtel analog, jedoch händisch eingebaut. Um die Ausführung beurteilen zu können, zogen die Forscher Bohrkerne aus den instand gesetzen Flächen. Dazu wurde ein Prüfstempel mit einem Durchmesser von 50 mm verwendet. Die zugehörige Bohrtiefe betrug 55 mm, sodass der Schnitt bis in den Altbeton reichte.

So wurden die Oberflächenzugfestigkeit und die Abreiss­festigkeit zwischen den Schichten ermittelt. Die mittleren Werte der Abreissfestigkeit lagen deutlich über dem geforderten Wert von 1.5 N/mm2. Die Experten der RWTH Aachen waren vor Ort und kontrollierten während des Spritzens die Schichtdicken und die Ebenflächigkeit. Zum lagegerechten Einbau der Carbonbewehrung waren lediglich Toleranzen von 3 mm zulässig. Ihren guten Eindruck der Ausführung bestätigten die gemessenen Werte, die innerhalb der Sollwerte lagen.

Was ist Original, was Interpretation?

Neben den technischen Eigenschaften der neuen Schicht lag ein Hauptaugenmerk auf deren Erscheinungs­bild: Immerhin gilt der geschützte Bau als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur, und auch sein Erschaffer, der hochbetagte Architekt Gottfried Böhm, musste mit der Ausführung einverstanden sein.

Nach der Instandsetzung sollen die horizontale originale Schalbrettstruktur und die ursprüngliche Farbe des Altbetons sichtbar sein. Um den rötlichen Farbton zu erhalten, wurden dem Ausgangsmörtel Pigmente (Eisenoxid, Titanoxid) beigemischt. Die Oberflächenstruktur erzeugten die Arbeiter manuell: mit Reibebrett und Glättkelle – ein Vorgehen, das die Denkmal­pflege nicht begrüsste, da es sich dabei nicht um Herstellungsspuren handelt, sondern um ein nachträglich appliziertes Muster. Die Bauherr­schaft konnte sich hier aber durchsetzen: Zum einen strukturiert die Schalungstextur die neu sehr hellen Flächen, zum anderen kaschiert sie leichte Unregelmässigkeiten der neuen Schicht. Die neue, 35 mm dicke Schutzschicht beeinflusst die äussere Form des Bauwerks übrigens nicht – bei Dimensionen von 50 m Höhe und 37 m Breite sowie im Kontext der bewegten Dachlandschaft fällt ihre Höhe visuell nicht ins Gewicht.

Mehr zu reden gab in diesem Zusammenhang die helle Farbe des instand gesetzten Dachs. Tatsächlich wirkt sie im Vergleich zu den noch unbehandelten Flächen sehr sauber, doch der optische Trick mit der Schalungsstruktur funktioniert, und die Pigmente sorgen für ein fast samtiges Aussehen. Ungewohnt hingegen ist die plötzliche scharfe farbliche Trennung von Dach und Wandflächen; ein Effekt, den Gottfried Böhm aller­dings ausdrücklich befürwortet und der in den Entwürfen für den Dom auch immer abgebildet wurde. Inwiefern diese Trennung die plastische Form des Baus, der sich gerade durch die Einheit von Wand und Dach auszeichnet, beeinflusst, lässt sich erst sagen, wenn das ganze Dach renoviert ist. Die Bauherrschaft geht davon aus, dass das Dach allmählich Patina ansetzen wird. Eine Dampfdrucksäuberung der Wände ist angedacht, allerdings würde auch dann ein deutlicher Farbunterschied zwischen Wand- und Deckenflächen sichtbar bleiben.

Der nächste Schritt

Seit Anfang Juni 2018 bereitet die beauftragte Unternehmung die nächste Teilfläche für die Instandsetzung vor, die «Pyramide Nähe Altar» (%%gallerylink:42482:vgl. Dachaufsicht%%) mit 800 m². Das Vorgehen des ersten Teilabschnitts wollen die Beteiligten beibehalten, auch wenn es vonseiten der Bauherrschaft Überlegungen gab, auf den Enthaftungsstreifen über den Rissen zu verzichten. Tatsächlich zeigen die Flächen der nun seit eineinhalb Jahren instand gesetzten Pyramide über der Sakramentskapelle keine der prognostizierten Haarrisse. Die Vermutung: Möglicherweise verteilen die starren Carbonmatten die Spannungen ohnehin bereits über die gesamte Fläche.

Ob diese Theorie in einem allfälligen dritten Berarbeitungsabschnitt getestet werden kann, steht derzeit noch in den Sternen: Die für die gesamte In­standsetzung vorgesehenen rund drei Mio. Euro sind aufgebraucht. Aktuell ist die Bauherrschaft auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. Rund 350 Jahre nach der Marien­erscheinung braucht es in Neviges nun wohl Hand­­fes­teres als Glaube, Liebe, Hoffnung.

7. September 2018 Daniela Dietsche
TEC21

Heilsversprechen in Beton

Der Mariendom im nordrhein-westfälischen Neviges zieht seit 1968 Besucherinnen und Besucher in seinen Bann. Seine Bau- und Planungsgeschichte ist ähnlich facettenreich wie ein biblisches Epos – und sie dauert weiter an: Derzeit wird das Dach der Betonkonstruktion von Architekt Gottfried Böhm aufwendig instand gesetzt.

Seit rund 350 Jahren pilgern Gläubige nach Neviges, um zur Heiligen Maria zu beten. Seit rund 50 Jahren sind es auch Architekturinteressierte: 1968 wurde hier ein Bauwerk fertiggestellt, das zu Recht als Ikone der deutschen Nachkriegsarchitektur gilt. Architekt Gottfried Böhm (*1920) – neben Frei Otto einziger deutscher Pritzker-Preisträger – gelang es damals, eine plastische Form für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu finden, die auch heute noch fasziniert.

Die Marienwallfahrt in Neviges geht zurück bis ins 17. Jahrhundert. 1676 hatte ein Franziskanermönch beim Beten vor einem Kupferstich, der die unbefleckte Empfängnis zeigte, eine Marienerscheinung. Die Heilige soll ihn angewiesen haben, ihr Abbild nach Neviges zu tragen und dort zu verehren – so die Legende. Die Wahrheit dürfte profaner gewesen sein: Seit der Reformation war das Bergische Land protestantisch. Mit einer Wallfahrtskirche konnte die katholische Kirche in der Region Präsenz markieren. Das gelang: Über die Jahrhunderte wuchs die Marienwallfahrt zu einer Massenveranstaltung, ihren Höhepunkt erreichte sie nach dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich 350 000 Pilgerinnen und Pilgern.

Die 1728 fertiggestellte Pfarrei- und Wallfahrtskirche St. Mariä Empfängnis platzte aus allen Nähten, die vorher schon mehrfach genommenen Anläufe für eine neue Wallfahrtskirche wurden konkret. Im September 1960 fiel der Entschluss für den Neubau, anschliessend dauerte es aber noch einmal zweieinhalb Jahre, bis das zuständige Erzbistum Köln zum Wettbewerb lud. 17 Architekturbüros, mit wenigen Ausnahmen alle aus der Region Köln, waren gebeten, eine Vision für eine zeitgenössische Wallfahrtskirche zu entwickeln. Das war mehr als eine Alibiübung: Der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings spielte «auch in architektonischen Gestaltungsfragen eine dominante Rolle. Er sah (…) in dem Werk guter Architekten einen Ausdruck der Schöpferkraft Gottes und betrachtete sich deshalb in seinem Einflussbereich als letzte irdische Instanz in Gestaltungsfragen».[1]

Gemeinsam statt frontal

Der Kirchenbau war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verbreitete Bauaufgabe. Werke wie die IIT-Kapelle von Mies van der Rohe in Chicago (1952) oder die Marienkirche in Tokio von Kenzo Tange (1961 bis 1964, initiiert und finanziert vom Erzbistum Köln) veränderten das traditionelle Verständnis von Sakralbauten. Viele dieser neuen Bauten entsprachen den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils von 1962 bis 1965 oder nahmen diese vorweg: Der gemeinsame Gottesdienst rückte wortwörtlich ins Zentrum, der Priester zelebriert die Messe nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen, der Altar steht mitten in der Kirche.

Dieses Gedankengut spiegelte sich auch in den Wettbewerbsbeiträgen zum Mariendom. Im Juli 1963 kürte die Jury den schlichten Entwurf von Kurt Faber zum Sieger. Das Siegerprojekt wurde dem Bauherrn Kardinal Frings vorgestellt – mit ernüchterndem Ergebnis: Seine Eminenz war enttäuscht von der Auswahl und befand, es sei noch keine «Lösung gefunden, [...] die als plastischer Baukörper bzw. als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche befriedigt».[2] In der Folge liess er eine zweite Wettbewerbsrunde stattfinden. Die drei erstplatzierten Büros konnten ihre Entwürfe überarbeiten, ebenso Josef Lehmbrock und Gottfried Böhm, zudem wurde das Raumprogramm redimensioniert. Böhm ging schliesslich im März 1964 als Sieger aus der Konkurrenz hervor.

Die Legende besagt, der bereits stark sehbehinderte Kardinal habe Böhms expressives Projekt im Modell am besten ertasten und verstehen können. Möglicherweise war er aber nur auf der Suche nach einem emblematischen Bau, auch vor dem Hintergrund, dass die Pilgerzahlen inzwischen deutlich zurückgegangen waren und ein starker Anziehungspunkt gesucht wurde.

Räumlich inszenierter Glaube

Neben der ausdrucksstarken Form punktete Gottfried Böhms Entwurf vor allem mit seiner städtebaulichen Disposition. Und zwar nicht mit jener im Kontext der Gemeinde Neviges – der Mariendom wendet ihr quasi den Rücken zu –, sondern mit der internen des mit dem Bau entstehenden Klosterbezirks. Böhm verstand die Wallfahrt als sinnliches Erlebnis und inszenierte sie dementsprechend räumlich: Ein leicht ansteigender Pilgerweg, die Via sacra, führt, flankiert vom Schwesternheim mit den charakteristischen runden Erkern, in einer leichten Neigung zum Mariendom auf dem Hardenberg.

Dort angekommen, betreten die Gläubigen das Bauwerk, dessen Inneres dunkel und schlicht gehalten ist – nichts lenkt ab von der inneren Einkehr. Die einzig schmückenden Elemente sind die ebenfalls von Böhm entworfenen farbig verglasten Fenster, oft mit Rosenmotiven – die Rose ist das Symbol Marias –, die den Raum je nach Lichteinfall in leuchtendes Rot tauchen. Der polygonale Innenraum ist dabei die nahtlose Fortführung des differenzierten Aussenraums, eine für Böhm typische Gestaltung, die sich zum Beispiel auch in der Pflästerung des Bodens manifestiert, der im Material jener des Pilgerwegs entspricht, oder bei den Leuchten, die an Strassenlaternen erinnern.

Entscheid mit Folgen

Konstruktiv formte Böhm den Bau als räumliches Faltwerk aus Stahlbeton, mit einer Oberfläche aus sandgestrahltem Sichtbeton. Die eindrückliche formale Einheit aus Wand- und Dachflächen war allerdings nicht von Anfang an geplant: Der Architekt hatte eine Blei- oder Schieferdeckung mit Foamglasdämmung vorgesehen, allerdings weniger als Witterungs- denn als Wärmeschutz. Um den Bau bis zur Dacheindeckung wasserfest abzuschliessen, war die Decke zweischalig aus wasser­undurchlässigem Beton mit einer dazwischen liegenden Kunststofffolienabdichtung konstruiert. Als der erste Bauabschnitt über der Sakristei fertig betoniert war, schien er der Witterung zu trotzen, und Böhm schlug im Juli 1966 vor, die Bewehrung zu erhöhen und die verbleibenden Dachteile einschalig auszuführen – auch, da der Dom vor allem als «Sommerkirche» genutzt ­werden sollte und um allfällige Reparaturkosten für die Dachdeckung zu vermeiden.[3]

Dies stellte sich letztlich als fataler Entscheid heraus, denn die ersten Feuchteschäden traten bereits nach wenigen Jahren auf. Gegen Ende der 1980er-Jahre beschichtete man die Dachfläche daher mit Epoxidharz, was aber nicht den gewünschten Erfolg brachte. Die starre Beschichtung riss an vielen Stel­len und löste sich teilweise vom Beton­untergrund, sodass weiterhin Wasser in das Innere der Kirche eindrang. Zu Anfang des neuen Jahrtausends wurde die Situation so prekär, dass das Erzbistum eine Expertengruppe unter der Leitung von Peter Böhm, Sohn von Gottfried Böhm und selber Architekt, mit der Dach­instandsetzung beauftragte.

Beim gewählten Verfahren stützte man sich auf Versuche des Instituts für Bau­forschung der RWTH Aachen. Schlussendlich entschied man sich für einen carbonfaserverstärkten Spritz­betonauftrag. Bei einem Teilstück des 300 m² grossen Dachs über der Sakramentskapelle wurde 2017 das Epoxidharz entfernt, das Dach sandgestrahlt und der Stahlbeton instand gesetzt. Carbonfaserbewehrter Spritzmörtel soll das Dach nun optimal gegen Witterungseinflüsse schützen und dauerhaft abdichten – bisher mit gutem Ergebnis (vgl. «Risse, fein verteilt»).

Beton hält, Geld fehlt

Nachdem nun ein Bruchteil der Dachfläche erfolgreich abgedichtet ist, wird seit Juni 2018 im rückwärtigen Bereich ein Abschnitt von rund 800 m² bearbeitet. Die Massnahmen an diesem zweiten Bauabschnitt werden voraussichtlich bis ins Frühjahr 2019 dauern. Die Kosten für den aktuellen Abschnitt teilen sich das Erzbistum Köln, das Kulturstaatsministerium, die Deutsche Stiftung Denkmalschutz und die Wüs­tenrot-Stiftung. Bei einer Restfläche von über 1500 m² ist die – bisher ungesicherte – weitere Finanzierung aber eines der Hauptrisiken.


Anmerkungen:
[01] Karl Kiem, «Vielschichtiger Betonfelsen: Die Wallfahrtskirche in Neviges», in: Wolfgang Voigt (Hg.), Gottfried Böhm. Jovis Verlag, Berlin 2006, S. 60–80, Fussnote 52. Online abrufbar auf www.karl-kiem.net/Neviges/index.html
[02] Zitiert nach: Aktennotiz zur Audienz bei Seiner Eminenz am Dienstag, 10. 9. um 16.30 Uhr, vom 17. Sept. 1963; Bauakten im Generalvikariat Köln. In: Veronika Darius, Der Architekt Gottfried Böhm, Bauten der sechziger Jahre, Beton-Verlag, Düsseldorf 1988, Fussnote 102.
[03] Ebd., Fussnote 111.

10. August 2018 Paul Knüsel
TEC21

«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

8. Juni 2018 TEC21

Bleibt alles anders

Die Nutzungen ändern sich, die Substanz bleibt: Der Umbau des 1925 erstellten Baus an der Bahnhofstrasse 53 in Zürich durch Tilla Theus und Partner war ein Abwägen zwischen zeitgenössischen ­Bedürfnissen, baukulturellen Überlegungen und – passend zur ­Nachbarschaft – dem optimalen Verhältnis von Preis und Leistung.

Im Jahr 1894 eröffnete die Schweizerische Volksbank ihre Filiale an der Bahnhofstrasse 53 in Zürich. Doch schon zwanzig Jahre später war der Bau zu klein, und die Volksbank veranstaltete einen Wettbewerb für einen Ersatzneubau.[1] Für die Ausführung taten sich der erstrangierte Architekt Otto Hon­egger und der viertrangierte Hans W. Moser in einer Architektengemeinschaft zusammen und kombinierten ihre Entwürfe. Das Resultat war ein Sandsteinbau mit zurückhaltender, strenger Fassade – ein typisches Beispiel eines auf Sicherheit und Seriosität ausgerichteten Bankhauses.

Für die Gestaltung zeichneten namhafte Künstler wie der Plastiker Otto Münch, der die Terrakottaverkleidung der Schalterhalle schuf, oder der Bildhauer Eduard Zimmermann verantwortlich. Er kreierte die beiden Bronzeskulpturen und die drei Steinmedaillons zwischen und über den drei Haupteingängen (Grundrisse).

1993 wurde die Volksbank Teil der Credit Suisse, die fünf Jahre später das Erdgeschoss an verschiedene Läden vermietete und in den oberen Etagen weiter Büros unterhielt. 2004 wurde der Bau unter Denkmalschutz gestellt. Acht Jahre später verkaufte die CS den Bau mit der attraktiven Adresse für kolportierte 300 bis 400 Mio. Franken an das Versicherungsunternehmen AXA, das ihn anschliessend gesamthaft instandsetzen liess.

Ausschlaggebend für den Kauf war eine Machbarkeitsstudie des Zürcher Architekturbüros Tilla Theus und Partner. Die Architekten hatten die Bestandspläne genau studiert und einen Kunstgriff zur Wertsteigerung vorgeschlagen: Die Decke des zweiten Untergeschosses wollte man absenken und dem 1. UG so wertvolle Raumhöhe schenken. Von knappen 2.50 m konnte diese damit auf attraktive 4.20 m (Rohbau) erhöht werden. Neben dem Optiker Visilab und der Modemarke Massimo Dutti im EG belegen heute der Flagship-Store der Mode­marke COS und das Bindella-Restaurant Ornellaia die Flächen.

Ein Hauch Extravaganz

Im Rahmen der Instandsetzung wurde 2015 der Unterschutzstellungsvertrag zwischen den Hauseigentümern und der Stadt Zürich angepasst und aktualisiert («Erhalten, ersetzt, ertüchtigt», Kasten unten). Das Büro Tilla Theus zeichnet verantwortlich für den Gesamt­umbau der Liegenschaft, den Innenausbau der Bürogeschosse 1 bis 6 und für jenen des Restaurants. Letzteres ist als Reminiszenz an einen toskanischen Innenhof konzipiert, mit gebrochenem Travertin an den Wänden, einer offenen Küche und einer Eiche, die allerdings mit der Krone nach unten von der Decke hängt.

Die schwierigen Proportionen des mit 23.4 m sehr langen und auch schmalen und hohen Raums werden etwas gelindert durch die abgeschrägten Verspiegelungen an den ebenfalls sehr hohen Fenstern. Deren Brüstungshöhe liegt auf 1.85 m, die Spiegel schaffen (verzerrten) Sichtkontakt nach aussen.

Neben überaus aufwendigen Eingriffen am Tragwerk inklusive Erdbebenertüchtigung (vgl. «Aufgefrischtes Äquivalent») waren zwei Schwerpunkte der Umbauarbeiten die vier Treppenhäuser und die Anpassungen bei den Fenstern. In den vertikalen Erschliessungen wurden die schmiedeeisernen Vergitterungen aufgefrischt oder ersetzt und die Stuckdecken sowie die originale Farbigkeit der Deckenfriese in ­Karminrot wiederhergestellt.

Bei den Fenstern entschieden sich die Planer für Holzrahmen nach historischem Vorbild. Eine Besonderheit sind die Schaufenster der Läden im Erdgeschoss: Dem Diskretions- und Sicherheits­bedürfnis der Bank folgend waren sie ursprünglich vergittert und lediglich mit einem kleinen Schaukasten versehen – zu unattraktiv für ein Ladengeschäft an bester Zürcher Lage. Die Gitter waren bereits bei den letzten Renovationsarbeiten 2004 entfernt worden. Nun schoben die Architekten die jetzt verglasten Schaukästen 80 cm nach vorn, bis zur Aussenkante der Gesimse, was die Sichtbarkeit der aus­gestellten Ware deutlich erhöht.

Bei den Büros wünschten es die Mieter, die Anwaltskanzlei Niederer Kraft & Frey, klassisch: Vorwiegend Einzelbüros reihen sich an den Aussenfassaden und hin zum Innenhof entlang des fünfeckigen Grundrisses. Die Materialisierung ist pragmatisch, mit weis­sen Tapeten und grauem Teppich. Eine Ausnahme bildet das 2. Obergeschoss, das als repräsentative Empfangs­ebene gestaltet ist: Die Wände der Korridore sind hier entweder mit tiefblau eloxierten Aluminiumplatten belegt oder mit weissem Stucco lustro verputzt, die Stützen beige marmoriert.

Der Boden aus bayrischem Fruchtschiefer und Hauteville-Marmor erinnert an den Belag der ­Schalterhalle. Dazu kommt das ehemalige Verwaltungsratszimmer, das sich mit Holztäfer, Lüster und einem barocken Kachelofen präsentiert. Unkonventionell ist der Aufzug in die Kanzlei: Mit trapez­förmigen Grundriss und voll verspiegelt soll er klaustrophoben Zeitgenossen die Angst vor der Enge nehmen. Das endlos gespiegelte Bildnis wirkte im Selbsttest allerdings eher verstörend.

Die Visitenkarte des Baus sind die weiterhin öffentlich zugängliche Schalterhalle im EG und der ­Tresorraum im UG – Shopping sei Dank. Tilla Theus setzte die Räume gemäss denkmalpflegerischen Kriterien instand. Die Schalterhalle erhält mit dem renovierten Dach aus Glasbausteinen wieder Tageslicht, bei Bedarf wird eine darunter eingesetzte Lichtdecke aktiviert. Bei den Böden gab es eine Überraschung: Gemäss historischen Quellen aus Solnhofener Kalk, handelte es sich gemäss Materialproben tatsächlich um Hauteville-Marmor, in Kombination mit bayrischem Fruchtschiefer.

Die Böden wurden aufgefrischt, die charakteristischen Terrakottaplatten der Pfeiler, Wandnischen und Türgewände, wo beschädigt, nachgegossen und ersetzt. Auch der Kundentresorraum im 1. UG wurde in den Originalzustand ver­setzt. Heute wie damals säumen Schliessfächer die Wände, den Raum selbst betritt man durch eine acht Tonnen schwere Tresortür. Wo einst Geld gehortet wurde, kann man es heute ausgeben: Die beiden Räume beherbergen nun die Niederlassung der schwedischen Modemarke COS.

Für den Ladenbau war an dieser Stelle ein Londoner Büro im Auftrag des Mieters zuständig. Es wusste die expressiven Räume nur bedingt zu nutzen: In der Schalterhalle mögen die grazilen Kleiderständer mit den soliden Stützen interessant kontrastieren, der überdimensionierte Kubus für die Garderoben im rückwärtigen Teil verstellt hingegen die Sicht auf die originalen Wandtafeln und verunklart den Raum. Bitter wird es beim Tresorraum: Während der Zugang durch den schön gestalteten Vorraum und die mächtige Tresortür spannungsvoll inszeniert ist, verstellte man die umlaufenden Schliessfächer an den Wänden mit den Kleiderständern – zu eng und zu viel für den Raum. Schade.


Anmerkung:
[01] Schweizerische Bauzeitung, 75–76/1920, Heft 4, S. 38 ff.

30. Juni 2017 Susanne Frank
TEC21

Freigespielt

Spannungsreiche Raumskulptur

Nachdem sie 2007 den Wettbewerb gewonnen hatten, entwickelten die Architekten Kuhlbrodt & Peters und Beat Aeberhard die Primarschulanlage in La Neuveville zu einem überzeugenden Ensemble, das sensibel auf Topografie und Stadtstruktur reagiert. Im Innern beeindruckt das Gebäude mit seiner räumlichen Komplexität.

Siegreiche Wettbewerbsprojekte machen bisweilen eine erstaunliche Karriere – so auch die Erweiterung der Primarschulanlage in La Neuveville, die die Zürcher Architekten Kuhlbrodt & Peters zusammen mit Beat Aeberhard realisierten. Genau genommen begann mit dem Gewinn des Wettbewerbs erst die eigentliche Erfolgsgeschichte dieses Projekts: die Transformation und Neugestaltung der bestehenden Schulanlage zu einem stimmigen Ensemble aus Altem und Neuem, das sich zur Stadt hin öffnet und seinen Kontext feinfühlig miteinbezieht – eine gelungene Stadtreparatur.

La Neuveville ist ein beschauliches Städtchen mit einem kompakten historischen Kern, dessen Bausubstanz überwiegend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammt. Die malerischen Gebäude in ortstypischer Materialität Putz und Jurakalk sind authentisch erhalten und bilden wohlproportionierte Stadträume mit eigenem Charme. Nördlich der Altstadt schliessen sich die ­Häuserzeilen der Vorstadt an. Um diese beiden Schwerpunkte erweiterte sich die Gemeinde im Lauf der Zeit mit punktförmigen Einzelhäusern, die frei in die ­Land­schaft gestreut sind. Der Ort am Nordwestufer des Bielersees, umgeben von Weinbergen, ist landschaftlich privilegiert und bietet einzigartige Blick­bezüge zu seiner Umgebung.

Die Primarschulanlage liegt am nordöstlichen Rand der historischen Altstadt am Hang, auf halber Höhe zwischen historischem Kern und Vorstadt. Das Hauptgebäude, ein klassizistischer Bau mit reprä­sen­ta­tiver Fassade, stammt aus dem 19. Jahrhundert. In den 1960er-Jahren wurde es um zwei weitere Gebäude ergänzt, die parallel zum bestehenden quer in den Hang gesetzt wurden. Die einzigartige Sicht vom Aussen­bereich auf den See ging damit verloren, ebenso wie umgekehrt die visuelle Präsenz des historischen Hauptbaus im Stadtraum. An dieses Gebäude grenzt im Westen ein Grundstück mit einem Kindergarten und einem Trafohaus, auf dem die Stadt im Jahr 2007 einen Wettbewerb auslobte: Aufgabe war, hier ein Primarschulhaus inklusive Kindergarten als Erweiterung des bestehenden Ensembles zu planen. Mit ihrem Entwurf entschieden die Architekten Kuhlbrodt & Peters in ­Zusammenarbeit mit Beat Aeberhard das Verfahren für sich und wurden für die weitere Planung beauftragt – die sich dann allerdings ganz anders gestaltete als ­ursprünglich im Wettbewerb vorgesehen.

Sensibel im Kontext integriert

Nach einem zweijährigen Aufschub des Projektstarts, bedingt durch einen politischen Wechsel im Conseil Municipal, sollte der Neubau auch die sanierungsbedürftigen 60er-Jahre-Bauten der bestehenden Anlage ersetzen. Mit diesem Projekt, das das Raumprogramm aus dem Wettbewerb und dem Schulhaus aus den 60er-Jahren aufnimmt, gelang den Architekten, gestützt durch die Gemeinde, eine Neuordnung der gesamten Anlage und damit eine markante Aufwertung dieses Orts im Stadtgefüge. Sie platzierten den Neubau, einen kompakten viergeschossigen Solitär mit allseitig ausgerichteter Fassade und flachem Walmdach, auf dem Gelände des historischen Hauptgebäudes. Der Entwurf überzeugt durch seine städtebauliche Setzung längs zum Hang und leicht versetzt zum Hauptbau, nimmt dessen Proportion und Masstäblichkeit auf und integriert sich geschickt in die Topografie. Altes und neues Schulhaus sind auf wohltuende und angemessene Weise präsent im Stadtbild.

Mit der Weiterentwicklung ihres Wettbewerbsentwurfs lösten die Architekten die Schwierigkeiten der vorherigen Konstellation auf: Beide Schulhäuser – Alt- und Neubau – haben nun freie Sicht auf den See und die Altstadt. So entstand eine grosszügige Anlage mit einem Pausenhof, einem kleinen Garten als Experimentierfeld und zwei neuen Plätzen auf unterschiedlichen Geländeniveaus, über die das neue Schulhaus jeweils zugänglich ist. Das den Ort prägende Motiv der Stützmauer ist in die Gestaltung der Aussenräume einbezogen, bestehende Wegebeziehungen sind gut integriert. Die Idee der Planer, die Grünfläche am Hang mit Weinreben zu bepflanzen, liess sich aus Unterhaltsgründen leider nicht realisieren. Ein Schulgarten neben dem Eingangsbereich an der Nordfassade bietet aber pädagogischen Zugang zur einheimischen Flora.

Ein frei stehender Pavillon komplettiert das Ensemble aus altem und neuem Schulhaus und markiert einen räumlich prägnanten Eckpunkt. Dieser neu geschaffene gedeckte Aussenraum, der zukünftig mit Rankpflanzen begrünt sein wird, kann in der Pause, für den Freiunterricht und für verschiedene Anlässe sowohl von der Schule als auch von der Gemeinde genutzt werden. Zusammen mit einem grossen Saal im Untergeschoss des Neubaus, den die Schule auf gleichem Geländeniveau anbietet, verfügt die Anlage somit über ein interessantes Raumangebot für öffentliche Veranstaltungen in der Gemeinde.

Regionale Referenz

Mit seiner Materialität und in der Gestaltung der Fassa­den nimmt das neue Schulhaus den Dialog zu seiner Umgebung auf. Gestockte Sichtbetonfassaden in warmem Beige-Gelb verleihen dem Gebäude einen repräsentativen Charakter, in ihrer Haptik vermitteln sie zwischen Putzbauten und Natursteinmauern der Umgebung. Die Archi­tekten wählten Jurakalk aus der ­Region als Zuschlagstoff, der durch das Stocken der Betonoberfläche sichtbar gemacht wurde. So fügt sich der Neubau mit dem historischen Schulhaus nicht nur in seiner Volumetrie, sondern auch in seiner Materialität zu einem harmonischen Ensemble, ohne dabei seine Eigenständigkeit zu verlieren.

Auch in weiteren Details schaffen die Architekten Analogien zu dem, was am Ort zu finden ist: So erhalten die Fenster durch eine ungestockt belassene Laibung eine Rahmung, ähnlich wie sie in den Putzfassaden der Umgebung zu finden ist; die Fensterteilung lehnt sich an die klassische Symmetrie der Fenster der umgebenden Solitäre an. Dennoch zeigt die Fassade keinen symmetrischen Aufbau, Brüche ­widerspiegeln die innere Ordnung. Die Themen der ­Umgebung werden aufgegriffen, jedoch neu interpretiert und an das Raumprogramm angepasst.

Raumskulptur im Innern

Im Innern überrascht das Schulhaus mit einer ungewöhnlichen räumlichen Komplexität und Grosszügigkeit. Bewegt man sich im Gebäude, verweilt der Blick nicht in einem Geschoss, sondern öffnet sich gleich­zeitig in die Vertikale: Über die Geschosse hinweg sind diago­nale Bezüge sowohl zwischen den einzelnen Raumeinheiten als auch zwischen den unterschiedlichen Ebenen möglich. Der Raum wirkt dadurch offen und licht, die Übergänge zwischen den Geschossen darüber und darunter erscheinen fliessend. Grosse Fenster rahmen den Blick nach aussen, die Beziehung zu Stadt und Landschaft ist so auch im Innern spürbar.

Um diese Wirkung zu erzielen, konzipierten die Architekten einen z-förmigen Erschliessungsraum: Über dieses Prinzip werden jeweils zwei Einheiten – bestehend aus je einer Klasse, Lehrerzimmer, Sanitärblock und dazugehörigem Vorbereich – zusammen­gefasst. Der Clou besteht darin, dass sich die Achsen geschossweise drehen: Damit erzeugen sie eine (räumliche) Verschränkung in der Horizontalen und Vertikalen. Die Architekten verwendeten dieses Motiv bereits im Wettbewerb. Im nun realisierten Entwurf, mit einem grösseren Volumen und Raumprogramm, hatten sie die Chance, ein noch spannungsreicheres Raumgefüge zu konzipieren.

Zusammenspiel der Disziplinen

Dass die verschiedenen Raumeinheiten geschossweise gedreht angeordnet werden, führt räumlich zu einem Gewinn. Um jedoch den Anforderungen der Gebäudetechnik gerecht zu werden, mussten die Planer beson­­dere Lösungen erarbeiten: Da einzig das Element des Aufzugs über alle Geschosse durchgängig ist, war es notwendig, die Leitungsführung sorgfältig zu planen  – was in konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Architek­­ten und Ingenieuren gelang. Auch die Klarheit und die skulpturale Wirkung, die sich im Erschliessungsraum zeigen, sind das Ergebnis sorgfältiger Planung. Für die Treppen wurden keine Fertigteile verwendet, sondern sie wurden vor Ort gegossen – nur so liessen sich die punktgenauen Treppenanschlüsse kontrollieren. Die Akustik im Treppenhaus ist überraschend angenehm für einen Raum, der skulptural in Sichtbeton erscheint. Räumlich-ästhe­tische, konstruktive und technische Anforderungen wurden ganzheitlich betrachtet und gelöst. Ver­schiedene Themen sind konzentriert und in einem Ele­ment zusammengefasst: So wurden Leuchtröhren und Akustik­elemente zu einer Technikeinheit gebündelt und in die Decke integriert.

Mit dem Bezug des Schulhauses im vergan­genen Herbst fand das Projekt nach neunjähriger Laufzeit seinen Abschluss. Nicht immer verheisst eine lange Planungszeit Gutes. Oft genug kann man beobachten, dass ein vielversprechendes Konzept Schritt für Schritt verunklärt wird. In diesem Fall hat sich ein gutes Projekt Schritt für Schritt zu einem besonderen weiterentwickelt.

30. Juni 2017 Susanne Frank
TEC21

Monochrom heiter

Horizontale Verschränkung

Mit dem 2015 fertiggestellten Erweiterungsbau der Primarschule Avry gelang den Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser ein grosser Wurf: Aussen verspielt und innen gewagt, verbindet der Neubau intensive Raumerlebnisse mit kreativer Pflichterfüllung.

Anfang der 1970er-Jahre erlangte Avry im Kanton Freiburg regionale Bekanntheit: Die Migros eröffnete hier 1973 eines der grössten Einkaufszentren der Schweiz, gleichzeitig die erste Shoppingmall im Kanton. Der eigentliche Dorfkern von Avry liegt rund 1 km westlich davon, gut versteckt im hügeligen Hinterland, mit bester Aussicht auf die Freiburger Voralpen.

Die Gemeinde ist nicht nur wegen ihrer idyllischen und gleichzeitig verkehrstechnisch gut erschlossenen Lage attraktiv. Die Ansiedlung des Einkaufszentrums und der folgenden Industriebetriebe schuf Arbeitsplätze, die Nähe zum Kantonshauptort ist für Pendler interessant. In den letzten Jahren entwickelte sich das ehemals landwirtschaftlich geprägte Dorf ­sukzessive zur Wohngemeinde. Die Infrastruktur, vor allem die bestehende Primarschule von 1978, konnte den Platzbedarf für die wachsende Schülerschaft nicht mehr decken. Die Gemeinde schrieb daher 2008 einen offenen Projektwettbewerb für einen Neubau aus. Er sollte Platz für neun Primarklassen und drei Kindergartengruppen bieten und auch einen Mehrzwecksaal für die Gemeinde sowie die Zivilschutzanlage beherbergen.

Als Standort war das Grundstück in der westlichen Verlängerung der bestehenden Schule vorgesehen. Siegreich aus der Konkurrenz hervor gingen die Zürcher Architekten Oeschger Reimann Schermesser. Ihr Entwurf löst die Anforderungen in einem ausgeklügelten Raumkonzept, das Innen- und Aussenraum auf raffinierte und vielschichtige Weise miteinander verknüpft.

Formvollendet kindgerecht

Der zweigeschossige Neubau besteht aus zwei aneinandergedockten, leicht versetzten Quadern in der Verlängerung des bestehenden Pausenhofs und eines der Hauptzufahrtswege zum Wohnquartier. Gemeinsam mit dem Bestandsbau entstand auf diese Weise ​ein ​­Ensemble, das der Bedeutung der Schule als öffentlichem, auch von der Gemeinde genutztem Gebäudekomplex gerecht wird. Ins Auge springen zunächst die tanzenden Fenster des Neubaus – alle Fassaden, Sichtbeton mit Grauzement und gebrochenem Jurakies, haben Öffnungen, die auf unterschiedliche Höhen gesetzt sind und deren Formate zwischen stehend und liegend variieren. Umlaufende, mit der Fassade vor Ort betonierte Zargen aus schalungsglatt belassenem Beton betonen die Asymmetrie ihrer Positionierung.

Durch die versetzte Anordnung der beiden Quader und zusammen mit der dreidimensionalen Gestaltung der Fenster gelingt es, den über 53 m langen Bau in die Nachbarschaft der kleinteiligen Wohnbauten zu integrieren. Ein weiterer Aspekt in der Positionierung der Fenster ist die Funktion: Bei den Klassen im OG bieten die unten liegenden Fenster Ausblicke auf Kinderhöhe, die oberen Fenster sind die Lüftungsflügel. Im EG sind die unteren Öffnungen auch als Eingänge oder Fenstertüren aus­gebildet, die oberen dienen der Belichtung. Die Nordfassade zum Pausenhof ist zudem als gedeckte Arkade ausgeführt. Hier erlauben die Öffnungen den Zugang zum Schulhaus, und die unverglasten Rahmen dienen als Sitzgelegenheit für die Kinder.

Räume mit Mehrwert

Ein wichtiges Kriterium im Wettbewerb – und später bei der Abstimmung über den Baukredit – war der Mehrzwecksaal. Er sollte von der Gemeinde auch zu ausserschulischen Zeiten zu nutzen sein. Die Architekten platzierten den 162 m² grossen Saal an der Ostseite des Baus, gegenüber der bestehenden Anlage, mit deren Pausenhof er einen auch für Veranstaltungen nutzbaren Aussenraum erhielt. Der Zugang für die Besucher erfolgt vom Laubengang an der Nordseite. An der Südseite der Halle liegt die Grossküche. Beide Räume, Küche und Saal, sind über die zentrale Eingangshalle auch von der Schule aus erschlossen.

Überhaupt die Erschliessung: Beim Blick auf die Grundrisse erkennt man, was für ein wichtiges Entwurfsthema sie darstellt. Die Architekten verzichteten auf eine schulhaustypische Erschliessung mit langen Gängen und setzten stattdessen auf eine Aneinanderreihung von Hallen, um die die einzelnen Klassenzimmer gruppiert sind. Diese horizontale und via wenige Stufen auch vertikale Verschränkung der Räume erlaubt zum einen, das ansteigende Terrain ohne grosse Treppenfluchten zu überbrücken; zum anderen handelt es sich bei den Hallen eher um öffentliche ­Plätze denn um reine Verkehrsflächen: Im Zentrum der Quader dienen die zenital belichteten Räume jeweils als Garderobe. Neben vier Reihen mit umlaufenden Kleiderhaken an den Wänden – ehemaligen Schrankgriffen – entwarfen die Architekten dafür amorphe Sitzmöbel in Kleeblattform, die gleichzeitig als Schuhregal dienen. Jeweils drei Möbel zonieren den zentralen Kern, von dem aus vier Klassenzimmer erschlossen werden.

Grosszügig und variabel

Neben dem öffentlichen Bereich mit Saal, Küche und Sanitärräumen ist im Erdgeschoss im ersten, nordöstlichen Quader auch das Lehrerzimmer untergebracht. Der 90 cm höher liegende, südwestliche Teil beherbergt den Kindergarten mit kleineren Spielnischen und einen Klassenraum. Zwei gespiegelte gegenläufige Treppen führen ins Obergeschoss, hier komplettieren acht Klassenzimmer sowie ein Büro für die Logopädie und ein Raum für den Spezial- und Stützunterricht das Raumprogramm. Räumlich (und auch pädagogisch) interessant sind die offenen Lernlandschaften in den zentralen Hallen. Im Obergeschoss sind sie nicht Teil des Brandschutzkonzepts und können daher auch möbliert werden.

Im Brandfall schliessen Brandschutz-Schiebetüren die Bereiche ab, regulär kann die Zirkulationszone so aber auch in zwei Gruppenräume unterteilt werden. Indi­viduelle Gruppenräume für jedes Klassenzimmer, wie sie sich in der Deutschschweiz in jenen Kantonen durchgesetzt haben, die dem Harmos-Konkordat (interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule) beigetreten sind, waren nicht gefordert. Dafür liegen die Grundflächen der einzelnen Klassenräume mit je 81 m² deutlich über den rund 70 m² (plus Gruppenräumen), die beispielsweise der Kanton Zürich standardmässig für seine Unterrichtsräume in den Primarschulen veranschlagt.[1]

Und die Farbe?

Neben aller räumlicher Raffinesse ist es jedoch die ungewöhnliche Farbigkeit der Innenräume, die auf den ersten Blick verblüfft und auf den zweiten Blick überzeugt. Über ihre gestalterische Funktion hinaus veranschaulicht die Farbgebung das räumliche Konzept: Das «Herz der Schule», die öffentlichen Räume, Hallen, Treppenhäuser, Sanitärräume sind monochrom in ­Pastellblau gehalten; die  «Innenräume» – Klassen- und Lehrerzimmer, aber auch der Mehrzwecksaal und die Grossküche – in Pas­tellgrün. Die Wahl der Farben greift auch die ländliche Umgebung mit tiefem Horizont, viel Himmel und grünen Weiden auf, die durch praktisch jedes der grossflächigen Fenster zusammen mit viel Tageslicht nach innen wirken.

Mit den wechselnden Lichtsituationen eines Tags, aber auch mit jenen der Jahreszeiten bilden die Flächen eine Palette an Intensität von fast Weiss bis Tiefblau bzw. -grün. Spannend wird es immer dort, wo die Töne aufeinandertreffen und wo farbige Schatten und Überlagerungen zusammenkommen. Und das funktioniert überraschenderweise auch im Betrieb: Rund zwei Jahre nach Bezug erweisen sich die Ober­flächen als bemerkenswert ruhiger Hintergrund für ­ die Werke kindlicher und pädagogischer Kreativität.

Beharrlichkeit lohnt sich

Neun Jahre sind seit dem Wettbewerb vergangen, zwei Jahre seit der Eröffnung der Primarschule. Die lange Planungs- und Bauzeit war primär bedingt durch die planerischen Strukturen mit einer Gemeinde als Bauherrschaft und dem Sujet Schulhaus als öffentlicher Bauaufgabe – mit hoher Relevanz für das Dorfleben und entsprechend vielen Beteiligten. Das hat aber auch seine gute Seiten: Die Akzeptanz des Baus vor Ort ist hoch, die Nutzer sind zufrieden – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des gewagten Farbkonzepts. Dies ist das Verdienst der hochwertigen Architektur, aber auch der Geduld und des kommunikativen Geschicks der beteiligten Planer.


Anmerkung:
[01] Vgl. «Raumstandards für Volkshochschulen der Stadt Zürich», zum Download unter: bit.ly/2sh0lQV. Für die Gruppenräume werden den Flächen allerdings jeweils noch einmal ein Viertel bzw. die Hälfte der Klassenzimmerfläche zugerechnet.

9. Juni 2017 Susanne Frank
TEC21

«Der Nutzer passt sich dem Haus an»

Instandsetzung Farelhaus, Biel

Fünf Bieler Architekten kauften im September 2015 das 1957–1959 von Max Schlup erbaute Farelhaus. So besonders wie der Bau, so ungewöhnlich ist das Konzept seiner Instandsetzung. Aktuell wird er schrittweise saniert – eine Geschichte von Mut, Fantasie und Verhältnismässigkeit.

Es war ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen: Mit dem Direktauftrag für den Bau des Farelhauses für die evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde Biel wandte sich der dort ansässige Architekt Max Schlup Ende der 1950er-Jahre weg vom Heimatstil hin zur Haltung der Solothurner Schule. Das Gebäude an prominenter Lage an der Schüsspromenade war in seiner Architektur ebenso visionär wie in seiner Nutzung: Curtain Wall, offener Innenhof und eine beeindruckende Transparenz im Erdgeschoss, dahinter ein multifunktionaler Kosmos aus Veranstaltungssaal, Bistro und Mehrzweckräumen. Die fünf Obergeschosse beherbergten Büros, Wohnungen und ein Mädchenheim.

Doch was vor rund sechs Jahrzehnten zukunftsträchtig war, ging über die Jahre im Alltag verloren.

Umnutzungen und eine fehlende Gesamtkoordination für eine Instandsetzung setzten dem Bau zu – so weit, dass sich die Gemeinde mangels zeitgenössischem Nutzungskonzept und finanziellen Mitteln 2015 gezwungen sah, den Bau zu verkaufen. Das Raumangebot mit Restaurant und Saal in Kombination mit der anstehenden Sanierung barg aber viele finanzielle Risiken und war damit für klassische Investoren schlicht zu unattraktiv. Ein Glück war die Ausgangslage hingegen für die Bieler Architekten Stephan Buchhofer, Reto Mosimann, Simon Schudel, Oliver Schmid und Ivo Thalmann. Sie hatten be­reits Erfahrungen mit Schlups Bauten gesammelt, sei es in der Bauberatung des Heimatschutzes, bei der Mitarbeit an der 2013 erschienenen Schlup-Monografie[1] oder bei der Instandsetzung von dessen Gebäuden.

Ihr Ansatz für die Sanierung (vgl. «Das Wunder von Biel», TEC21 11/2017) ist nicht modellhaft, aber vorbildlich: Er stellt die bestehende Struktur mit all ihren Qualitäten, aber auch Schwächen ins Zentrum und fokussiert nicht auf heutige Anforderungen an Nutzung und Komfort. Kann diese Grundhaltung auch nicht als universelles Rezept für einen gelungenen Umgang mit Bauten aus dieser Zeit propagiert werden, so zeigt das Beispiel Farelhaus doch, dass eine Herangehensweise frei von Ideologien, gepaart mit Risikobereitschaft und beschränkten ­Mitteln, der Bedeutung und Substanz eines derartigen Objekts durchaus gerecht werden kann. Die heutigen Nutzungen entsprechen dabei jenen von damals: ein bunter Mix aus Büros, Wohnungen, Bistro und dem Veranstaltungssaal. Im Gespräch erzählt das Team von der Gratwanderung zwischen architektonischer Wertschätzung und Wirtschaftlichkeit und von der Doppelrolle als Architekten und Investoren.

TEC21: Beim Farelhaus treten Sie gleichzeitig als Investoren, als Architekten und als Betreiber auf. Wie sind Sie organisiert?

Team Farel: Kauf und Sanierung haben wir selbst finanziert. Zunächst dachten wir, wir übernehmen das Haus, organisieren von Zeit zu Zeit einen Vortrag und füllen es wieder mit Büros. Aber bald merkten wir, dass das wahrscheinlich nicht reichen würde, um die Kirchgemeinde als Verkäuferin zu überzeugen – ein Haus zu renovieren ist eins, aber es mit Nutzungen zu belegen und zu betreiben ist eine ganz andere Sache und war für uns eine Herausforderung. Nebst der Konstituierung der Trägerschaft als AG gründeten wir einen kulturellen Beirat, daraus entstand später der von der Trägerschaft unabhängige Kulturverein. Die Trennung ermöglicht, dass die AG klassische Themen wie Rentabilität und langfristige Finanzierbarkeit verfolgen und so die Rahmenbedingungen für den Kulturverein schaffen kann.

TEC21: Nach dem Kaufentscheid hatten Sie kaum Planungszeit. Wie konnten Sie das als Team bewältigten?

Team Farel: Wir kennen uns schon lang. Gegenseitiges Vertrauen ist die Voraussetzung für ein solches Vorhaben. Für die Sanierung gab es anfangs zwei­wöchentliche Sitzungen mit uns allen. Wir haben aber schnell gemerkt, dass die Fäden irgendwo zusammenlaufen müssen. In diesem Fall wanderte die Verantwortung langsam zu Ivo Thalmann. Jeder im Team nimmt eine spezielle Rolle ein: Der eine ist der Aussenminister, kennt sich im Schlup-Archiv aus und war massgeblich an der Schlup-Monografie beteiligt. Ein anderer regelte die Finanzen, Mietverträge und das Baugesuch. Wiederum andere übernahmen spezifische Themen wie die Fassade oder den Brandschutz. Das ist der Vorteil eines Teams. Wir hätten es sonst nicht geschafft.

TEC21: In welchem Zustand fanden Sie den Bau vor?

Team Farel: Wir haben 40 Jahre Investition rückgebaut. Vor allem die Wohnungen waren in ziemlich schlechtem Zustand. Das hat mit der flachen Hierarchie der Kirchgemeinde zu tun: Jemand hatte eine Idee, brauchte einen Raum und renovierte ihn nach seinem Gusto. Was fehlte, war eine gesamthafte Koordination der individuellen Umbauten. Originale Bodenbeläge wurden mit diversen Materialien belegt, Backsteinwände teilweise gestrichen oder gar verputzt.

TEC21: Seit wann steht das Gebäude unter Denkmalschutz?

Team Farel: Erst seit der Sanierung. Vorher war es im Inventar als schützenswert eingetragen. Im Kanton Bern gibt es für Baudenkmäler die beiden Stufen «erhaltenswert» und «schützenswert». Bauten der ersten Kategorie sollen wegen ihrer ansprechenden architektonischen Qualität oder ihrer charakteristischen Eigenschaften geschont, jene der letzteren ungeschmälert bewahrt werden. Wenn saniert wird und die Denkmalpflege Beiträge spricht, gibt es ab 5 000 Franken einen Unterschutzstellungsvertrag. Die gesprochenen Beiträge sind an eine Begleitung der Sanierung durch die Denkmalpflege geknüpft.

TEC21: Inwieweit hat die Sanierung des Farelhauses den Denkmalschutz interessiert?

Team Farel: Sie war insofern von Interesse für die Denkmalpflege, als wir dafür finanzielle Unterstützung beantragt hatten. Inhaltlich waren wir in dieser Hinsicht gut aufgestellt: Nebst der Bearbeitung vieler im Inventar eingetragenen Bauten durch alle Beteiligten hatten spaceshop Architekten von 2008 bis 2010 die Eidgenössische Sportschule in Magglingen von Max Schlup saniert. 0815 Architekten hatten die Villa Favorita in Biel von 1861 saniert. Die Objekte wurden 2010 und 2012 mit dem Nationalen Denkmalpflegepreis ausgezeichnet. Die Eigentümerschaft hatte also grosses Vertrauen, dass der Bau bei uns in die rich­tigen Hände kommt. Dass das Farelhaus ein Schutz­objekt darstellt, ist in der Fachwelt unbestritten. Aber in der Politik wird alles infrage gestellt, was eine Einschränkung darstellen könnte – ein solches Gebäude braucht einen Mentor, sonst ist es weg.

TEC21: Was ist Ihr Sanierungskonzept?

Team Farel: Die wirtschaftliche Basis hat die Eingriffs­tiefe definiert, wobei sich dieser Ansatz auch mit unserer architektonischen Haltung deckt: möglichst bescheiden, bauschadenfrei und kostendeckend. Bescheidenheit beinhaltet ein stufenweises, situatives Vorgehen in Bezug auf die Substanz. Letztendlich ging es darum, diese zu erhalten. Dazu kommen der wirtschaftliche Aspekt und die Bauzeit von knapp einem halben Jahr: Hätten wir hier mehr Spielraum gehabt, hätten wir möglicherweise vieles anders gemacht. Hingegen gibt es Dinge, die man einfach in die Hand nehmen muss, zum Beispiel die Wasserinfiltrationen ins Untergeschoss. Und dann gibt es Risikoentscheide, wie die über 50-jährigen Installa­tionen oder die der 20-jährige Kessel der Heizung, die wir belassen haben. Als Investoren konnten wir bewusst Risiken in Kauf nehmen, die wir als Architekten im Auftrag einer Bauherrschaft vielleicht auch anders beurteilen würden. Für dieses Projekt war das eine grosse Chance.

TEC21: So zu denken erfordert eine neue Sicht der Dinge im Umgang mit einer derartigen Substanz.

Team Farel: Unsere Strategie war es, nicht zu viel zu machen. Wir gehen nicht von Idealen aus, sondern von dem, was unter diesen Umständen möglich ist. Und das darf man auch spüren. Der Nutzer passt sich dem Haus an, nicht umgekehrt. Es gibt Menschen, die sich in genau solchen Räumen wohlfühlen. Wir müssen diese Leute finden und nicht unsere Vorstellungen, die es auch gibt, auf alle Räume übertragen.

TEC21: Der energetische Aspekt ist bei einem Gebäude aus dieser Zeit durchaus ein Thema – gab es dazu Auf­lagen?

Team Farel: Bauten der 1950er- und 1960er-Jahre erfahren ja im Vergleich zu anderen historischen Bauten wenig Wertschätzung. Sie werden oft totsaniert oder verschwinden zugunsten von Ersatzbauten aus dem Stadtbild. Das liegt auch daran, dass man den Anspruch an die bestehende Substanz zu hoch ansetzt. Wir finden es fragwürdig, eine Sanierung durchzuführen, die gleichbedeutend mit einem Neubau ist – nur um eine Struktur zu erhalten, für die es heute nur bedingt eine Nachfrage gibt. Manchmal kann es auch zu einem Problem werden, wenn zu viel Geld da ist. Bei einem Altstadthaus ist jedem, auch einem Investor, klar, dass es gewisse Einschränkungen beim Komfort gibt. Da herrscht Konsens. Bei einem Gebäude aus den 1950er- oder 1960er-Jahren hat man dagegen das Gefühl, es sei ein modernes Haus, aber mit vielen Fehlern. Man vergleicht es mit einem zeitgenössischen Neubau. Dazu kommen die Standards der Behörden. Dort werden mittels Labels wie Minergie-P-Eco oder 2000-Watt-Gesellschaft politische Leitplanken gesetzt, sodass man als Planer oft nur noch wenig Spielraum hat.

TEC21: Wie ist der aktuelle Stand der Nutzung? Ist alles schon vermietet?

Team Farel: Alles, was fertig ist, ist vermietet. Wir haben mehr Nachfrage als Platz. Im zweiten und dritten Obergeschoss, dem ehemaligen Mädchenheim «Freundinnen junger Mädchen», haben wir mit der Sanierung noch nicht angefangen. Diese startet nach den Verhandlungen mit der zukünftigen Nutzerschaft im Frühsommer dieses Jahres. Hier soll eine Gemeinschaft mit unterschiedlichen Nutzern entstehen.

TEC21: In den Obergeschossen gibt es Büros neben Wohnungen, im Erdgeschoss liegt das Bistro, und im Saal finden Veranstaltungen statt. Führt das mit den Mietern zu Konflikten? Oder ist klar definiert: Wenn man hier wohnen oder arbeiten will, ist man mit der Art, wie das Haus genutzt wird, einverstanden?

Team Farel: Das Multifunktionelle des Hauses wird geschätzt. In den Mietverträgen gibt es einen Passus «Besondere Bestimmungen zu den Räumen». Darin wird alles beschrieben – was dieses Haus ist und was diese Räume können und was nicht. Da gibt es den Satz: «Die Dichtigkeit der Gebäudehülle ist zeittypisch und entspricht dem Standard eines Gebäudes aus den 1950er-Jahren. Allfällige Beeinträchtigungen gehören zum Charme des Gebäudes.» Und unter «Nachbarschaft»: «Das Farelhaus verfügt über eine gemischte Nutzung mit Wohnungen, Büro, Atelier, Bistro und Saal für kulturelle Events. Die unterschiedlichen Nutzungen verlangen von allen Beteiligten Offenheit und Respekt im gegenseitigen Umgang.» So kann das Gebäude als Kulturgut erhalten und ein offener Geist gepflegt werden.


Anmerkung:
[01] Architekturforum Biel (Hg.): Max Schlup. Architekt, Niggli, Sulgen 2013.

19. Mai 2017 TEC21

Geschichten weiterschreiben

Gesamtsanierung und Dachgeschossbau Primarschule St. Johann, Basel

Das Kunststück, Gutes zu erkennen und durch kluge Eingriffe noch besser zu machen – das gelang den Basler MET Architects 2015 bis 2016 bei Sanierung und Ausbau der Primarschule St. Johann in Basel.

St. Johann im Nordwesten Basels ist ein Arbeiterquartier. Zumindest war das Ende des 19. Jahrhunderts so, als sich der bis dato nur dünn besiedelte Stadtteil immer stärker industrialisierte und sich die Arbeiter in der Nachbarschaft ansiedelten. Und die Bewohner benötigten Infrastruktur: Das von 1886 bis 1888 nach Plänen von Kantonsbaumeister Heinrich Reese erstellte Schulhaus St. Johann war nach dem Schulhaus Bläsi (ebenfalls Heinrich Reese, 1882 / 83) und Sevogel (E. Vischer & Fueter, 1883 / 84) erst das dritte Schulhaus in einem Basler Aussenquartier.

1870 hatte sich das Basler Staatswesen von einer konservativen zu einer liberalen Demokratie gewandelt. Der neue Erziehungsdirektor Wilhelm Klein setzte sich stark für eine Einheitsschule ein, die auch den Kindern der zugewanderten Arbeiterschaft Zugang zu adäquater Bildung bieten sollte – nicht ganz uneigennützig, erhoffte man sich von der Investition in den gebildeten Nachwuchs doch einen Mehrwert für Industrie und Wirtschaft. Kleins Bemühungen manifestierten sich in einer massiven Bautätigkeit: Innerhalb von 30 Jahren entstand Schulraum für 20 000 Kinder.

Welchen Stellenwert die damaligen Stadtoberen der Bildung ungeachtet der sozialen Herkunft der Kinder beimassen, zeigt sich auch an der repräsentativen Gestaltung der Primarschule St. Johann. Der monumentale Bau im Neorenaissance-Stil stand als eigentlicher «Schulpalast» damals als Solitär auf der grünen Wiese. Das rechteckige viergeschossige Volumen mit hohem Sockelgeschoss ist streng symmetrisch aufgebaut und schliesst mit einem flach geneigten Walmdach ab.

Seitenrisaliten an der Nordwest- und Südostfassade bilden eine leichte U-Form. Dort liegen auch die Treppenhäuser, während der Haupteingang mittig an der Südfassade zu finden ist. Typisch für die zeitgenössische Bildungsphilosophie ist die qualitätvolle Ausführung inklusive der damaligen ebenfalls hochwertigen Ausstattung: Eine Aula und «Schulbänke nach bestem Vorbild» boten eine komfortable und gesunde Lernumgebung ebenso wie eine Warmluftheizung. Die von der zeitgenössischen Hygienedebatte befeuerte Forderung nach Luft und Licht schlug sich in der starken Durchfensterung des Baus nieder: Die hochrechteckigen Fenster der Südfassade sind jeweils zu Dreiergruppen zusammengefasst, an den Seitenfasssaden markieren ebensolche Dreiergruppen, hier teilweise in Bogenform, die Lage der Treppenhäuser.

Elegant und robust

Wie gut Bausubstanz und Raumdisposition funktionierten, zeigt die Tatsache, dass die erste grundlegende Sanierung des Schulhauses erst rund 125 Jahre später nötig wurde. Dies auch vor dem Hintergrund neuer Anforderungen – mit dem Beitritt zum HarmoS-Konkordat, der Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule, investiert der Kanton Basel-Stadt bis 2022 790 Millionen Franken in Aus- und Neubau seiner Schulhäuser.

Auch die Primarschule St. Johann benötigte neue Räume für die Gruppenarbeit; die Zimmer für textiles Werken, Zeichnen und für den Naturkunde- und Geografieunterricht sollten im Dachgeschoss untergebracht werden. 2013 schrieb der Kanton als Bauherrschaft dafür ein Planerwahlverfahren mit Skizzen aus, der neben dem Dachgeschossausbau von St. Johann auch bautechnische Erfordernisse wie Verbesserungen bei Erdbebensicherheit und Brandschutz und die Erneuerung von Innenausbau und Gebäudetechnik umfasste.
Flach statt Fledermaus

MET Architects aus Basel gewannen die Konkurrenz mit einem feinsinnigen Entwurf. Die Grundrisstypologie der Geschosse – zentrale Erschliessung, je zwei Klassenzimmer im Mitteltrakt, je zwei Klassen in den Seitenflügeln – wird darin beibehalten und im Dachgeschoss übernommen bzw. adaptiert: Anstelle der beiden Klassen plus Treppenhaus sollten hier an den Seiten zwei durchgehende Räume entstehen. Die Belichtung der Ebene sollte mittels Fledermausgauben erfolgen, für die sich die Verfasser auf historische Referenzen stützten und eine konstruktiv schlüssige Herleitung entwickelten. Der Vorteil: Im Gegensatz zu herkömmlichen Gauben läuft das Bedachungsmaterial hier durch und fasst die neuen Elemente, ohne dass sie wie Fremdkörper wirken. Gleichzeitig bietet die vertikale Anordnung der Fensterflächen ausreichend Tageslicht für den Schulunterricht.

So überzeugend wie das Konzept, so eindeutig war die Reaktion der schon während des Verfahrens beteiligten Denkmalpflege: Sie befand nach dem Wettbewerbsgewinn, die Dachaufsicht sei möglichst unangetastet zu lassen. Eine Aufgabe, die die Architekten sensibel-pragmatisch lösten: Anstatt mit Fledermausgauben statteten sie das ausgebaute Dachgeschoss mit dachbündigen, 0.7 × 1.8 m grossen Holz-Metall-Dachflächenfenstern aus. Sie sind jeweils in der Mitte eines Binderfelds angeordnet – ein Kompromiss zwischen der Auffassung der Denkmalpflege und der Meinung der Planer, ein genutztes Dachgeschoss müsse auch als solches erkennbar sein.

Das Beste aus allen Epochen

Trotz mehrerer Renovationen in der Vergangenheit waren die massgeblichen Gestaltungselemente im Innern wie die Gipsdecken mit umlaufenden Friesen, die Lamperien und gegipsten Wände sowie die Böden aus Naturstein, Holz und Fliesen in gutem Zustand. Das Sanierungskonzept sah daher vor, die räumlichen Qualitäten zu erhalten und bei den Oberflächen den Geist des Bestands zu wahren – also ein Weiterschreiben der Baugeschichte, keinen harten Bruch. Für das Dachgeschoss hingegen galt es, diesen Geist mangels Vorbild neu zu definieren.

Im Untergeschoss ersetzten die Planer die beiden Brennkammern der Heissluftheizung durch zwei Räume für den Werkunterricht und das Schulmaterial; geheizt wird heute mit Fernwärme. Die neuen Leitungen für die technische Infrastruktur konnten in den ehemaligen Schächten der Heissluftheizung untergebracht werden. Ein wichtiger Eingriff war der Einbau des Lifts, der die rollstuhlgängige Erschliessung bis ins Dachgeschoss gewährleistet. Er fand seinen Platz im ebenfalls auf jedem Geschoss neu gestalteten Sanitärblock neben dem zentralen Eingangsbereich respektive den Einzel­büros (in den Obergeschossen).

Bei der Oberflächenbehandlung stützten sich die Planer auf Material- und Farbbefunde, die vier Epochen zum Vorschein brachten: Von den originalen Ocker-Beige-Tönen über eine Phase in Grün, Blau und Rot zu einer grauen Epoche und wieder zurück zum Original. Etwa alle 30 Jahre wechselte die Farbwelt, was die Architekten zum Anlass nahmen, ebenfalls etwas Neues einzuführen. Sie nahmen einen der Brauntöne von 1932 als Ausgangspunkt und entwickelten daraus verschiedenen Rottöne für das Holzwerk. Die Decken sind für die bessere Lichtreflexion weiss, die Gangwände in einem sehr zarten Rosaton, jene der Klassenzimmer komplementär in sehr hellem Grün gehalten.

Der Weg ins Dachgeschoss führt über eine neue, zentral platzierte Treppenanlage. Sie setzt die Materialität des Altbaus mit geölten Eichenböden, Lamperien und Gipswänden fort, variiert aber in den Details: Während sich die bestehenden Lamperien mit einem Absatz von der Wand abheben, sind die neuen Einbauten flächenbündig ausgeführt – ein subtiles Detail, das Alt und Neu in ihrer Kontinuität spüren lässt. Die Dachkonstruktion selber bleibt sichtbar. Die Balken wurden aus Unterhaltsgründen mit Ölfarbe in gebrochenem Weiss gestrichen. In den beiden Ateliers der Seitenflügel bieten umlaufende Einbauten im 1.30 m hohen Kniestock Ablagefläche und Stauraum. Die mit weissen Lineoleumeinlagen versehenen Schränke dienen gleichzeitig als Arbeitsfläche.

Positives Feedback

Im Herbst 2016 wurde das sanierte Schulhaus wieder eröffnet. Die bis dahin in Provisorien untergebrachte Schülerschaft nahm den Bau in Besitz, einige Lehrer nutzten die Chance, den Umbau auch pädagogisch zu thematisieren. Schülerinnen und Schüler durften ihre Eindrücke in Texten schildern, die man den Architekten übergab. Das Ergebnis überraschte: Neben dem generell äusserst positiven Feedback nannten die Schüler auch eher unauffällige Details wie die neuen Schränke für die Feuerlöscher. Das Beispiel zeigt: Hermann Reese hatte recht. Gute Gestaltung lohnt sich – auch als Investition in die Sensibilisierung der künftigen Generationen.

17. März 2017 Dietlind Jacobs
TEC21

Zeitloser Schwung

Kurz vor dem 50-jährigen Baujubiläum erstrahlen die Betonschalen des Schalenpioniers Heinz Isler an der Raststätte Deitingen-Süd in neuem Glanz. Konstruktion und Betonqualität überzeugen bis heute.

Eine Pause einzulegen an der Raststätte Deitingen-Süd an der A1 Bern–Zürich ist für bautechnisch Interessierte ­jeweils ein besonderes Erlebnis. Ein Blick Richtung Himmel führt zu einer aussergewöhnlichen Dachkonstruk­tion, zwei dünnwandig gewölbten Dreiecksschalen. Sie sind mit der mittig positionierten Raststätte verbunden und überspannen von dort aus die Fahrspuren. Die Schalen stammen aus den 1960er-Jahren, einer Zeit wachsender Mobilität. Mit dem Bau der Autobahn ­entstand in Deitingen 1968 die Silberkugel-Raststätte von Mövenpick sowie die Tankstelle von BP, der Eigentümerin der gesamten Parzelle.

Das Unternehmen zielte auf den Wiedererkennungswert seiner Raststätten und beauftragte daher den Burg­dorfer Bauingenieur Heinz Isler (»Schweizer Schalenpionier», Kasten unten) damit, ein Dach für die Tankstelle zu entwerfen. Das Ergebnis: zwei geschwungene Dreiecksschalen, die leichtfüssig die Zapfsäulen überspannten (vgl. Abb.). Die ausdrucksstarke Form sorgte für Aufsehen, und auch die für die damalige Zeit neuartige gewölbte Tragkonstruktion war besonders: Sie hatte nur drei Auflagerpunkte, besass aber eine grosse Spannweite und freie Ränder.

Möglich wurde dies durch Islers intensive Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Beton. Er optimierte ihn so weit, dass der Einbau im grossen Gefälle der Wölbung möglich war. Dafür wählte der Ingenieur eine stetige Sieblinie mit hohem Feinkornanteil und einer Korngrösse bis 15 mm, maximal 325 kg Zement/m3 und einen möglichst niedrigen Wasserzementfaktor. Mit dieser Zusammensetzung erzielte er einen kompakten Beton, der sich auf den zwei Lagen engmaschiger Bewehrungseisen gut einbauen liess und nicht abrutschte.

Beeindruckend ist das vom Modell in die Realität umgesetzte schalenförmige Dach noch heute. Trotz der geringen Schalendicke von 9 cm ist das Dach 11.5 m hoch und hat eine Spannweite von 31 m. Auftretende Normalkräfte werden über äussere Fundamente ab­getragen. Zudem sind die zwei gegenüberliegenden ­Fundamente für die Aufnahmen von Horizontalschub mit einem unterirdischen Zugseil verbunden. Die zwei weiteren Auflagerpunkte sind auf dem Gebäude der Raststätte. Die natürliche Dachform ist statisch optimal und erfordert keine Versteifung der Randbereiche.

Veränderte Nutzungsbedürfnisse führten im Jahr 1999 zur Modernisierung der Raststätte. Die Zapfsäulen positionierte man neu vor der Raststätte – so liessen sich ihre Anzahl erhöhen und der Betankungsplatz optimieren. Die Bauherrschaft plante zunächst einen Abriss der Schalen. Als Folge des öffentlichen Protests wurde deren markantes Erscheinungsbild in Zusammenarbeit mit Heinz Isler dann doch gewahrt, wenngleich ihre Funktion durch die Änderung der räumlichen Disposition verloren ging. Im Jahr 2000 wurde das Bauwerk als Vertreter Schweizer Ingenieurbaukunst dennoch unter kantonalem Denkmalschutz gestellt.

Und heute?

Im Jahr 2014 plante die Eigentümerin BP Europe Umbauarbeiten an der Raststätte. In diesem Zusammenhang stellten sich die Fragen: Ist das Bauwerk noch erhaltenswert? Lohnen sich Investitionen für eine In­standsetzung?

Daraufhin wurden der Bauwerkszustand und die Tragsicherheit von Experten umfassend untersucht. Die Resultate unterstrichen Heinz Islers qualitativ hochwertige Bauweise des Betons. Denn es wurden nur wenige Schäden am Beton und an der Stahlbewehrung in Form von einzelnen feinen Rissen und wenigen Abplatzungen festgestellt, die als statisch unbedenklich beurteilt wurden. Das Zugseil im Fundament gewährleistet nach wie vor eine ausreichende Tragsicherheit für die Betonschalen. Der ursprünglich weisse Farb­anstrich der Oberseite wies netzartige Haarrisse, einzelne Fehlstellen, Verfärbungen sowie Besiedelung durch Mikroorganismen auf. Eine Bewehrungs­korro­sion, verursacht durch eintretendes Wasser an der ­Oberfläche, konnte nicht nachgewiesen werden. Nach Auswertung der Untersuchungsergebnisse beurteilten die Experten den Bauwerkszustand als gut.

Nun sollte der Bau auch der zukünftigen Nutzung gerecht werden. Um dies zu gewährleisten, wurden mit Unterstützung von Prof. Eugen Brühwiler als Gutachter und der Firma Flury Bauingenieure aus Suhr Massnahmen zur Instandsetzung der wenigen Schäden definiert. Die Verfahrenswahl stand unter der Prämisse, den Zustand des Bauwerks im Sinn von Heinz Isler zu verbessern, den Bau aber materialtechnisch nicht abzuändern. Daher fiel unter anderem die Entscheidung, die Oberseite der Schalen lediglich mit einem Farbanstrich als Schutz zu verbessern. Eine abdich­tende, kunststoffbasierte Beschichtung war nicht nötig. Die wenigen Risse und Korrosionsschäden wurden instandgesetzt.

Arbeiten mit System

Die Unterhaltsarbeiten starteten im September 2016 und dauerten zwei Monate. Man montierte ein frei ­stehendes Flächengerüst, das die Anforderungen an die Arbeitssicherheit, die Aufrechterhaltung des 24-Stunden-Betriebs und den Umweltschutz berücksichtigte. Unterhalb der Schalen war das Gerüst tunnelförmig ausgebildet, sodass der Verkehr die Baustelle praktisch unbehindert passieren konnte. Während der gesamten Ausführungsarbeiten lief der Betrieb der Tankstelle und des Restaurants weiter. Die Abstellpunkte des Gerüsts wurden mittels Anprallschutz vor dem motorisierten Verkehr geschützt.

Zunächst reinigte man die Unterseiten der Schalen mit 100 bar Wasserdruck. Anschliessend wurde die bestehende Farbbeschichtung der Oberseite mit 500 bar ­Wasserdruck abgetragen. Diese Behandlung sollte möglichst schonend erfolgen, der Abtrag der Zementhaut sollte sich auf der Oberfläche begrenzen. In Vorversuchen am Objekt legte man den notwendigen respektive annehmbaren Wasserdruck von 500 bar fest; die Kontrolle erfolgte visuell. Auch hier waren die Anforderungen im Hinblick auf den Umweltschutz zu erfüllen: Das alkalische Abwasser der Reinigungsarbeiten wurde mit auf dem Gerüst ausgelegten Folien gesammelt und über Rohre in ein Absetzbecken geleitet. Dort konnte es neutralisiert und anschliessend vorgereinigt in die öffentliche Kanalisation geführt werden. In einem dritten Schritt fanden Profilierungs- und Abdichtungsarbeiten statt. Die wenigen lokalen Unebenheiten auf der Oberseite wurden profiliert. Zur Abdichtung von zwei wasserführenden Rissen verwendete man einen Flüssigkunststoff und polyesterverstärktes Gewebe.

Nach Abschluss dieser Vorarbeiten brachte der Unternehmer an den Stirnseiten eine Tiefenhydrophobierung zum Schutz vor eindringendem Wasser auf. Die Oberseite wurde mit einem konventionellen Zweischichtensystem versehen: zuerst eine Grundierung als Haftungsschicht und darauf zweifach der ­weis­se Anstrich. Die Schalen wurden im Originalfarbton RAL 9110 gestrichen. Heute wirkt das Weiss recht dominant, aber bereits in etwa einem Jahr, dürfte eine Patina aus Autobahnstaub die Oberfläche weniger grell erscheinen lassen. Zum Abschluss wurde auf den Schalen eine ­feuerverzinkte Schneefangvorrichtung mit Eisstopper installiert, da der Betankungsplatz wegen Dachlawinen geschlossen werden musste. Obwohl das die Ästhetik der Schalen beeinträchtigt, folgte man dem Wunsch der Bauherrschaft und den Anforderungen an die ­Betriebssicherheit der Raststätte. Weiter wurde der Kamin beim Shopeingang um 3.5 m erhöht, um zukünftige Verschmutzungen der Schalen zu vermeiden.

Schalen im Wandel

Nach beinahe 50 Jahren Nutzungsdauer sprechen die Ergebnisse der Untersuchungen für Heinz Islers aus­gezeichnete Ingenieurarbeit. Auch bestätigt sich wieder einmal der Grundsatz, dass gut konzipierte Tragwerke dauerhafter sind. Mit den aktuell ausgeführten Unterhaltsarbeiten können die Schalen weitere Jahrzehnte als Landmarke an der Autobahn dienen – auch wenn sie in Zeiten veränderter Nutzungsbedürfnisse heute eine andere Bedeutung haben als früher.

16. September 2016 TEC21

Zusammen wachsen

Am Anfang war es eine Vision: drei Länder, vier Bundesländer, Kantone oder Departemente und eine Vielzahl an Städten und Gemeinden zu einer Re­gion zusammenwachsen zu lassen – zwischenmenschlich, räumlich, aber auch politisch und planerisch. Inzwischen ist diese Idee, wenn auch noch nicht realisiert, so doch auf dem Weg dazu, Schritt für Schritt umgesetzt zu werden.

Entstanden ist die IBA Basel 2020 aus der Arbeit des Trinationalen Eurodistricts Basel (TEB), einer Plattform, die das grenzüberschreitende Wirken auf der Ebene der Politik und der Verwaltung koordiniert. Die konzeptionellen und strategischen Planungen dieser Plattform schloss man 2009 mit einem Memorandum ab. Der Wunsch: ein grenzüberschreitendes Projekt für die Region. Zur Auswahl standen zunächst auch eine Expo oder eine Bewerbung für die Olympischen Spiele. Das Rennen machte mit einer Internationalen Bauausstellung IBA schliesslich ein Format, das in Deutschland eine lange Tradition hat. Ursprünglich tatsächlich als Werkschau zur zeitgenössischen Baukultur konzipiert, entwickelte sich das Format über die Jahre zu einem alternativen, jeweils temporär begrenzten Instrument von Städtebau und -planung.

In Basel startete die Umsetzung im Herbst 2010, im April 2011 ging man mit einem Projektaufruf an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis waren weit über 100 Projektvorschläge. Ein wissenschaftliches Kuratorium prüfte sie auf die Kompatibilität mit den IBA-Kriterien «Modellcharakter», «transnational» und «Exzellenz (sozial, ökonomisch, ökologisch)» und kategorisierte sie in den Handlungsfeldern «Landschaftsräume», «Stadträume» und «Zusammen leben». Bei den Konzepten handelte es sich sowohl um bereits bestehende Planungen, die sich durch die Einbettung in die IBA einen neuen Schub erhofften, als auch um neue Ideen.

So geordnet und mit Empfehlungen zur Weiterbearbeitung ausgestattet, stellten sich die mehr als 40 übrig gebliebenen Projekte Anfang November 2011 der Öffentlichkeit vor. Auf Grundlage der Empfehlungen des Kuratoriums werden die Projekte Schritt für Schritt weiterentwickelt und durch das IBA-Büro begleitet. Dabei durchlaufen sie mehrere Stufen: Kandidatur, Vornominierung, Nominierung und Label.

Eine dreiwöchige Ausstellung der damaligen 43 vornominierten Projekte wurde im Herbst 2013 in Basel gezeigt. In der anschliessenden Vertiefungsphase galt es, die Machbarkeit zu konkretisieren. Die Rolle der IBA ist dabei vielfach die eines Moderators, der die Beteiligten an einen Tisch bringt, die Planungsprozesse begleitet und bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten hilft. Die Schwierigkeiten dabei liegen oft im Alltäglichen: abweichende Zeit- und Geldbudgets oder unterschiedliche Abläufe in politischen Prozessen (vgl. Interview: «Man muss ganz konkret hinschauen»).

Aktuell läuft die zweite Halbzeit der IBA Basel 2020: Bis zum 20. November können die drei bereits umgesetzten Projekte mit Label sowie die nominierten Konzepte im Rahmen der Zwischenpräsentation in der Voltahalle in Basel besichtigt werden. Dann gilt es, zum Endspurt anzusetzen: Wer sich mit dem IBA-Label schmücken will, muss in den beiden kommenden Jahren zumindest eine Teilumsetzung bis 2020 nachweisen können.(Tina Cieslik)

Ein Weg am Fluss: Rheinliebe

Die IBA Basel 2020 möchte die grenzüberschreitende Kooperationskultur zwischen Frankreich, der Schweiz und Deutschland im Raum Basel fördern. Dem Rhein als verbindendem, oft aber auch trennendem Element kommt dabei eine besondere Rolle zu: Zum einen ist «Vater Rhein» eine starke Identifikationsfigur, zum anderen zwingt die gemeinsame Verantwortung und Nutzung der ökologischen und wirtschaftlichen Ressourcen des Flusses zu kooperativem Handeln.

So erstaunt es nicht, dass beim Projektaufruf im Jahr 2011 mehrere Konzepte mit Bezug zum Fluss eingingen. Um die verschiedenen Ansätze und Ideen zu koordinieren, fasste die IBA Basel sie in der Projektgruppe «Rheinliebe» zusammen. Langfristig soll sich die ca. 80 km lange Zone an beiden Ufern zu einem zusammenhängenden und für die Bevölkerung zugänglichen Natur- und Landschaftspark entwickeln. Unter dem Dach der «Rheinliebe» entwickelte die ARGE Studio Urbane Landschaften im Auftrag der IBA einen sinnlichen Zugang zum Territorium, identifizierte «Verführungs-, Verschlossene und Bewundererlandschaften». Konkret verfolgt man unter anderem folgende Projekte: den Rheinuferweg St. Johann–Huningue (vgl. TEC21 20/2016); «Bad Bellingen rückt an den Rhein»; «RhyCycling revisited», den Rheinfelder «Rheinuferweg extended» und «Entdeckung Rhein».

Während bei den Rheinuferwegen die Erschliessung der Ufer als Erholungszone im Fokus steht, soll «Bad Bellingen rückt an den Rhein» den bisher durch Bahntrassee und Autobahn vom Altrhein abgetrennten Kurort näher an den Fluss bringen – mittels besserer Erschliessung für Fussgänger oder neuer Kanustationen. «RhyCycling revisited» untersucht die Kreisläufe von (Abfall-)Materialien rund um den Fluss. Die Ergebnisse werden in einem digitalen Archiv räumlich und zeitlich dokumentiert. Ein wichtiger Punkt der «Rheinliebe» ist der Anspruch an Vollständigkeit: Um alle Uferabschnitte einzubeziehen, hat die IBA Basel weitere Projektträgerschaften für die grenzüberschreitende «Rheinliebe» gewinnen können.

Die Projekte sind unterschiedlich weit fortgeschritten: So konnte im April der Rheinuferweg zwischen dem baslerischen St. Johann und dem französischen Huningue eingeweiht werden. Das Projekt hat das IBA-Label erhalten. Bei der Erweiterung des Rheinuferrundwegs in Rheinfelden hat im Herbst/Winter 2014/15 ein Projektwettbewerb für einen Steg über den Fluss stattgefunden, im Frühsommer 2017 soll mit den Bauarbeiten begonnen werden – der Projektstand entspricht einer Nominierung. (Tina Cieslik)

Industrie mit neuer Aufgabe: DMC Mulhouse

Das 75 Hektaren grosse Areal der ehemaligen Textilfabrik DMC (Dollfuss, Mieg & Cie) im französischen Mulhouse gehört zur IBA-Projektgruppe «Transformationsgebiete». Seit sich die Textilindustrie in den Fernen Osten verlagerte, ging die Produktion sukzessive zurück, das Areal wurde zur Industriebrache. Durch die gemeinsame Planung von unterschiedlichen Nutzern und der Stadt Mulhouse kann das historisch bedeutende Industriegebiet in den nächsten Jahrzehnten schrittweise umgenutzt und aufgewertet werden. Mit der Eröffnung des Tram-Trains, einer S-Bahn zwischen Mulhouse und Dornach (F), begann die Stadt 2010 die Rückeroberung des Quartiers im Herzen von Mulhouse.

Zu den Schwerpunkten des nominierten IBA-Projekts gehört es, temporäre Nutzungen zu fördern, bestehende Gebäude zu sanieren und Freiräume aufzuwerten. Dabei setzt das neue Quartier auf kulturellen und kreativen Unternehmergeist, nachhaltige Wirtschaft und Dienstleistungen. In einem Teil der bestehenden 100 000 m² grossen Fabrikhallen haben sich bereits Kreativunternehmen niedergelassen. Die mehr als 60 Kunst- und Theaterschaffenden, Fotografen, Grafiker, Tontechniker, Schreiner, Bildhauer, Szenografen und Tanzgruppen aus Mulhouse und der grenzüberschreitenden Region sind im Verein Motoco («more to come») zusammengeschlossen. Dank der Unterstützung durch Bürgermeister Jean Rotter konnte der Verein im Juni 2013 das Gebäude pachten und sich ein Vorkaufsrecht sichern.

Mit der Idee des Openparc hat Motoco-Gründer Mischa Schaub das Angebot seit 2015 erweitert. Es umfasst die vier Themencluster Openfab, Openstudio, Openhost und Playerpiano. Als Beispiel stellt der im Gebäude 75 beheimatete Verein Openfab Prototypen und Kleinserien in einem Maschinenpark her. Nach der 2016 abgeschlossenen Instandsetzung des Gebäudes 75 steht die Sanierung der weiteren Gebäude noch aus. Da diese aufwendig und kostenintensiv ist, suchen die Nutzer Kooperationen mit lokalen Partnern, europäischen Hochschulen und mit Förderprogrammen der EU.

Zum IBA-Projekt nominiert wurde das DMC, weil die zahlreichen Veranstaltungen das Gelände zurück in das Gedächtnis der trinationalen Bevölkerung bringen. Openparc ist ein Musterbeispiel für grenzüberschreitende Bottom-up-Prozesse. Die IBA unterstützt das Projekt durch Networking, auf der Suche nach Finanzierungs- und Koordinationspartnern sowie mit dem IBA-Hochschullabor, in dem Studierende Ideen für das Gelände erarbeiten. Um den Standort leichter zugänglich zu machen, plant die Stadt, bis 2020 die Verbindung zwischen dem Quartier und dem Bahnhof Dornach (F) zu verbessern. Durch neue Wegverbindungen und Durchbrüche in der Mauer, die das Gelände heute fast vollständig umgibt, soll das Quartier bis 2020 zur Stadt hin geöffnet werden. Grünflächen und die Biodiversität des Geländes werden zukünftig sichtbarer und können die Partnerschaften mit umliegenden Schulen und Vereinen verbessern.

Von Schweizer Seite wird Mulhouse als Kreativraum noch zu wenig wahrgenommen. Das Projekt bietet die Chance, die noch verhaltene Beziehung zwischen der wirtschaftlich und kulturell starken Stadt Basel und dem Entwicklungsraum Elsass zu stärken. (Katharina Marchal)

Infrastruktur besser nutzen: Aktive Bahnhöfe

Mit der Aufwertung der Bahnhöfe in der Region Basel will das Projekt nachhaltige Impulse für eine grenzüberschreitende Mobilität setzen. Der ganzheitliche Ansatz reicht von einer einheitlichen Signaletik bis zu städtebaulichen Konzepten im Umfeld der Bahnhöfe.

Ausgangspunkt war die Charta «Aktive Bahnhöfe» vom September 2013, mit der die folgenden fünf Bahnhöfe näher untersucht wurden: Badischer Bahnhof Basel, Gare de Saint-Louis, Hauptbahnhof Lörrach, Bahnhof Rheinweiler und Bahnhof Rheinfelden (Baden). Bereits die erste Analyse zeigte erheblichen Handlungsbedarf: Die Defizite reichen von der uneinheitlichen Bezeichnung für die Anbieter des öffentlichen Verkehrs über fehlende Pläne zum Dreiland und fehlende Tarifinformationen bis zu einem fehlenden Besucherleitsystem vom Bahnhof zu anderen Mobilitätsangeboten und fehlenden Informationen für fremdsprachige Gäste. Mittlerweile sind insgesamt 14 Bahnhöfe der S-Bahn in Frankreich, Deutschland und der Schweiz am Projekt beteiligt. Möglich war dies dank einem intensiven Dialog zwischen den beteiligten Gemeinden und den nationalen und regionalen Bahngesellschaften.

Mit gemeinsamen Standards sollen die Bahnhöfe zu modernen Mobilitätszentren entwickelt werden. Beginnen will man mit einem einheitlichen Besucherleitsystem; eine Liniennetzkarte soll an allen Bahnhöfen ausgehängt werden. Dazu kommt eine regionale Karte, die auf die jeweilige Ortschaft ausgerichtet ist, und eine Karte des Quartiers mit Angaben zur unmittelbaren Umgebung des Bahnhofs. Zusammen mit Informationen über die Tarife werden alle diese Inhalte übersichtlich und dreisprachig (deutsch, französisch, englisch) auf Stelen präsentiert. Ziel dieser Massnahmen ist es, die Orientierung mit einem grenzüberschreitenden, einheitlichen Auftritt zu erleichtern.

Die Bahnhöfe und S-Bahn-Haltestellen sollen vermehrt «Teil des öffentlichen Lebens» werden, wie Dirk Lohaus, der zuständige Projektleiter der IBA Basel, sagt.[1] Um dieses Ziel zu erreichen, will man das Angebot an Nutzungen und Dienstleistungen erweitern und vermehrt Konsumgüter des täglichen Bedarfs am Bahnhof anbieten. Auch der Umstieg von einem Verkehrsmittel zum anderen, vom Carsharing-Auto zum Fahrrad, zur Strassenbahn oder zum Sammeltaxi, kann verbessert werden. Generell sollen die Aufenthaltsqualität in den Bahnhöfen erhöht und die Umgebung der Bahnhöfe attraktiver werden.

Bereits im Oktober wird mit dem Hauptbahnhof Lörrach der erste Pilotstandort fertiggestellt sein. Weitere sechs Bahnhöfe folgen bis Ende 2016, und auch die Charta soll im kommenden Jahr überarbeitet werden. Ziel ist es, bis 2020 alle 14 Standorte zu realisieren. Darüber hinaus wirkt das Projekt als Katalysator, der neuen Partnern die Mitwirkung erleichtert und sie dazu motiviert, ihre Bahnhöfe ebenfalls zu aktivieren. So setzen viele im Sog der für das Label der IBA Basel nominierten Beiträge die Ziele dieses IBA-Projekts auch ohne Label um.

Das Projekt verdeutlicht, wie sichtbar die Landesgrenzen in Basel noch immer sind und wie schwer es fällt, sie zu überwinden. Auch deshalb müssen zuerst die Grundlagen geschaffen werden, wie beispielsweise ein einheitliches mehrsprachiges Besucherleitsystem und ein trinationaler Tarifverbund. Das Projekt setzt genau da an und will mit einer Initialzündung an 14 Bahnhöfen Impulse für das ganze Netz des öffentlichen Verkehrs geben. Ein ambitioniertes Projekt ganz im Sinn des Mottos der IBA Basel: «Au-delà des frontières, ensemble – Gemeinsam über Grenzen wachsen». (Jean-Pierre Wymann)


Anmerkung:
[01] BZ, Badische Zeitung, 23. August 2014.


Mobiler Katalysator: IBA KIT

Das nominierte Projekt IBA KIT ist Teil des Pilots «Trinationale Freiraumproduktion», das im Rahmen der IBA Basel 2020 ins Leben gerufen wurde. Mit dem Projekt sollen die Nutzung und Gestaltung von urbanen Freiräumen experimentell erforscht und gezielt gefördert werden. Die Beteiligten sind vor allem die Stadtgärtnereien der drei Länder (F, D, CH), die zusammen mit der IBA Basel das Projekt erarbeitet haben und weiterhin verfolgen. Aktive Mitwirkung kommt vonseiten der Bevölkerung, die die IBA KITs testet und sich für Umfragen und Studien zur Verfügung stellt.

Die Gemeinde Riehen hat in Zusammenarbeit mit dem Basler Landschaftsarchitekturbüro Bryum als erste Gemeinde der IBA-Projektpartner einen Prototyp entwickelt, eine «temporäre Freiraumkiste», genannt IBA KIT. Es ist ein partizipatives Werkzeug, das je nach den Erwartungen und Bedürfnissen der zukünftigen Nutzer gestaltet wird. Fest vor Ort stehend oder mobil, fordert es Bewohner und lokale Institutionen auf, sich aktiv an der Entwicklung und Verbesserung ihrer Lebensumgebung zu beteiligen. Das erste IBA KIT stand von November 2013 an ein Jahr lang der Bevölkerung des Niederholzquartiers von Riehen als Freiraumangebot und multifunktionales Spielelement zur Verfügung. Unterschiedliche, gratis nutzbare Spiel- und Freizeitgeräte richteten sich vor allem an die jüngere Generation und an Familien.

Im roten Container befanden sich unter anderem Schaukeln für Kleinkinder, Tisch und Sitzbänke sowie ein Badmintonnetz mit Schlägern. Die Kiste enthielt ausserdem sechs abschliessbare Spinde, in denen interessierte Bewohner und Quartiergruppen eigene Spielgeräte unterbringen konnten. Zwei offene Spinde beinhalteten Spielgeräte, aber auch Kehrschaufel, Besen und Abfallzange. Nach dem ersten Pilotprojekt und der Platzierung auf der Andreasmatte in Riehen wurden die Quartierbewohner im Umkreis der Freiraumkiste schriftlich befragt. In einer Studie wurden anschliessend Beurteilungen des Projekts sowie Verbesserungsvorschläge analysiert. Die Ergebnisse der Untersuchung sind in die weitere Gestaltung des Projekts eingeflossen.

Von der Andreasmatte und dem Sarasinpark wanderte das IBA KIT Riehen über die Grenze, zur Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Lörrach-Brombach (D). Dort sorgten seine Spiel- und Sportgeräte für Abwechslung im Alltag der Bewohner. Im Mai 2015 weihten die multikulturellen Bewohner eines Plattenbauviertels in Saint-Louis (F) ihr IBA KIT als Treff- und Austauschort ein. Ein Anwohnerverein gründete hier einen Gemeinschaftsgarten. Im Oktober 2015 lud das IBA KIT Rheinfelden (Baden) die Bewohner ein, sich einen neuen Park anzueignen und nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Um das KIT entstanden eine Gärtnergruppe, ein Mountainbike-Pumptrack und eine Boulegruppe. Im Juni 2016 weihte die Gärtnerei der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel das IBA KIT UPK ein, das eine Etappe des neuen grenzüberschreitenden Spazierwegs Burgfelderpark bildet. Es soll den Austausch zwischen UPK und dem Umfeld stärken.

Derzeit existieren vier IBA KITs. Bis Ende des Jahres werden vier weitere in Weil am Rhein, Lörrach, Mulhouse und Basel-Stadt errichtet. Die bisher gesammelten Erfahrungen zeugen von deren Fähigkeit, verschiedene soziale Gruppen zusammenzubringen, neue Funktionen in die Quartiere zu integrieren und so ein gutes Zusammenleben zu fördern. (Katharina Marchal)

Terra incognita wird Begegnungsort: IBA Parc des Carrières

Noch wird hier Kies abgebaut: Der geplante IBA Parc des Carrières, hart an der Landesgrenze zwischen Frankreich und der Schweiz, ist heute ein unzugänglicher Ort. Während die Siedlungsbebauung von Basel und Allschwil bis an die Grenze reicht, ist die gegenüberliegende Seite von Landwirtschaft und Familiengärten geprägt – und von einer Grube, in der im Trockenabbau auf einer Tiefe von bis zu 14 m Kies gewonnen wird. Die meisten Wege enden an der Grenze.

Doch in dem unbebauten Terrain liegt die Chance – schon bald soll sich die elf Hektaren grosse Kernzone zu einem länderübergreifenden Grünraum entwickeln, der den Gemeinden Allschwil, Basel, Saint-Louis und Bourgfelden und Hégenheim als Begegnungsort dienen soll. Die Grube ist noch bis 2040 in Betrieb, die Transformation geht also sukzessive vonstatten. Das Projekt, eine Public Private Partnership von IBA Basel, Bürgerspital Basel, Kanton Basel-Stadt, Gemeinde Allschwil, Ville de Saint-Louis, Commune de Hégenheim und Communauté d’Agglomération des Trois Frontières, plant dafür mit vier Etappen: Die erste sieht grüne Korridore mit Langsamverkehrswegen vor, die die Parzelle und andere grüne Gürtel verbinden, sowie den Bau eines Kinderspielplatzes als erstes Zentrum.

Die drei folgenden Phasen betreffen die Transformation der drei bereits abgebauten Kiesgrubenabschnitte. Daneben muss die freie Zufahrt für die Kiesgrubenbetreiberin gewährleistet bleiben. Die abgebauten Kiesabschnitte werden gemäss ihrer Besonderheiten renaturiert und zum Park umgewandelt: Die ersten beiden Parzellen werden als artenreiche Magerwiesen mit einzelnen Gehölzgruppen und Kieselelementen gestaltet und extensiv landwirtschaftlich genutzt. Parzelle 3 hebt sich von den eher landschaftlichen Flächen ab: Ein Ringweg mit Stegen bildet eine gestaltete Parklandschaft.

Ein wichtiger Punkt betrifft die Anbindung an die bestehenden Siedlungsstrukturen: Korridore nach Allschwil, Basel und Bourgfelden sorgen für eine einfache Erschliessung. Aufbauend auf einer Entwicklungsstudie von 2013 (IBA Basel 2020; Courvoisier Stadtentwicklung, Basel; Digitale Paysage, Bauxwiller) erarbeitete man ein Vorprojekt, das die Investitions- und Unterhaltskosten konkretisierte. Damit beauftragt wurden die Landschaftsarchitekten pg landschaften aus Sissach und LAP’S (Les ateliers paysagistes) aus Bartenheim. Mit den ersten Arbeiten, den Korridoren, wird für 2017 gerechnet. Bis 2022 sollen die ersten Etappen umgestaltet sein, die Fertigstellung ist bis in etwa zehn Jahren vorgesehen.

Die Transformation der Kiesgrube steht in einem grösseren Kontext: Zum einen dient sie als Pilotprojekt im Rahmen der IBA-Projektgruppe «Kiesgruben 2.0 – Seen und Parks für die Region». Hier werden Zukunftsszenarien für die Kiesgruben der Region entwickelt. Zum anderen ist der IBA Parc des Carrières ein Baustein von aktuellen Planungen im Umfeld. Mit der Verlängerung der Tramlinie 3 und der Planung einer Umfahrungsstrasse (Route des Carrières und Zubringer Allschwil) sind zurzeit grosse Infrastrukturprojekte in Bearbeitung. Schliesslich sind mit der Öffnung und Aufwertung der Freizeitgärten, dem Freiraumkonzept Allschwil und dem Projekt «Trame verte» der Stadt Saint-Louis komplementäre Vorhaben in Planung. Die IBA übernimmt dabei die Koordination zwischen den verschiedenen Projekten. Der IBA Parc des Carrières besitzt aktuell den Status «nominiert» und ist bis 2020 auf gutem Weg zur Labelisierung.

26. August 2016 TEC21

Die Sonne ins Zimmer holen

Morgens fit aus dem Bett, am Nachmittag keinen Taucher haben und am Abend entspannt sein – das sollen dynamische Leuchten ermöglichen. Seit einigen Jahren werden sie auch in der Altenpflege eingesetzt. Dieser Beitrag stellt drei von der Age Stiftung[1] geförderte Beispiele vor.

Drei Viertel aller Informationen nehmen wir über die Augen auf – vorausgesetzt, unsere Sehfähigkeit ist nicht eingeschränkt. Sie nimmt jedoch stetig ab: Mit zunehmendem Alter verkleinert sich der Pupillendurchmesser; Augenlinse, Hornhaut und Glaskörper verlieren an Transparenz. Das hat Folgen für die Sehfähigkeit, beeinflusst aber auch chemische Prozesse im Körper: Die Trübung der Linse filtert hauptsächlich das blaue Licht heraus – eben jenes, das über die körpereigene Melatoninproduktion für die Steuerung des Tag-Nacht Rhythmus (circadianer Rhythmus, vgl. Glossar im Kasten unten) zuständig ist.

Nachts ist die Konzentration des Hormons um ein Zehnfaches erhöht. Krankheiten wie Winterdepression werden mit der geringen Lichtmenge durch kürzere Tage in Zusammenhang gebracht.

Alte Menschen sind mehrfach durch Lichtmangel betroffen: Zum einen ist ihre Sehfähigkeit eingeschränkt und ihr circadianer Rhythmus daher eher aus dem Gleichgewicht; biologisch wirksame Beleuchtungen in Pflege- und Altersheimen sollen hier Abhilfe schaffen. Zum anderen halten sie sich meist im Innenräumen auf, wo ihr Körper nicht genug Vitamin D bilden kann – das wiederum kann zu einer eingeschränkten Kalziumabsorption und damit zu Knochenbrüchen führen.

Alterspflegezentrum Appenzell AI

Eines der jüngeren Beispiele für die Anwendung ist das im Juni 2016 eröffnete Alterspflegezentrum des Kantons Appenzell Innerrhoden. Der Neubau auf dem Spitalgelände nördlich von Appenzell ging aus einem 2011 durchgeführten Projektwettbewerb hervor, den das Zürcher Büro Bob Gysin   Partner für sich entschied. Die heutige Anlage auf dem Spitalareal genügte nicht mehr, insbesondere sollte eine Gruppe für Demenzkranke geschaffen werden. Vorgesehen war ein kompakter vierstöckiger Neubau ohne direkten Bezug zu den Bestandsbauten.

Die Gebäudetiefe von teilweise über 45 m wird durch zwei Lichthöfe gebrochen, die das Tageslicht bis ins Erdgeschoss leiten. Die polygonale Form erlaubt Durchblicke und den Sichtbezug zum Aussenraum. An den Gebäudeaussenseiten sind in den Obergeschossen jeweils die Zimmer der rund 60 Bewohnerinnen und Bewohner untergebracht, die Kerne für die Erschliessung sind den Lichthöfen zugeordnet. Auf der Südseite des Baus befindet sich auf dem 1. Obergeschoss eine Terrasse mit einem in sich geschlossenen Demenzgarten, dessen Bepflanzung die Sinne anregen soll.

Als erstes Alterspflegezentrum in der Ostschweiz wurde der Bau mit dynamischen Licht ausgestattet – auf Wunsch der Bauherrschaft, die das Konzept bereits vom Alters- und Pflegeheim Sonnweid in Wetzikon her kannte. Die Wirkung der dynamischen Leuchten wird von einem mehrjährigen Monitoring begleitet. Lichtdecken in den Aufenthaltsräumen des 1. und 3. Obergeschoss sollen das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner sowie des Personals erhöhen. Zusätzlich sind zwei Leuchtdecken in der «Pflegeoase» im 3. Obergeschoss angebracht. Hier wohnen bis zu sechs besonders pflegebedürftige Personen, die in ihrer Mobilität stark eingeschränkt sind.

Die ansonsten automatisch gesteuerten Leuchten sind hier auch manuell bedienbar, um jeweils individuell auf die Bewohnerinnen und Bewohner eingehen zu können. Das 2. Obergeschoss dient als Kontrollbereich. Erweist sich die dynamische Beleuchtung als wirkungsvoll, kann die Etage nachgerüstet werden. Eine Besonderheit ist der Einsatz der Leuchten in den Stationszimmern: Sie sollen die Anfälligkeit für Medikationsfehler reduzieren und die Konzentrationsfähigkeit im anstrengenden Arbeitsfeld der Pflege unterstützen.

Die Bewohnerinnen und Bewohner reagieren nicht uneingeschränkt positiv auf die Leuchtdecken: Sie empfinden sie als zu hell und als Energieverschwendung («draussen scheint ja die Sonne»). Die (temperaturneutralen) LED-Leuchten beeinflussen das subjektive Wohlbefinden – wenn man sich lang unter der Decke aufhalte, so ist zu hören, bekäme man einen warmen Kopf. Auch das Personal ist nicht uneingeschränkt überzeugt: Man empfinde die Decken als zu hell und wünsche sich mehr individuelle Steuerungsmöglichkeiten.

Sonnweid das Heim, Wetzikon ZH

Die Sonnweid im zürcherischen Wetzikon ist eine Pioniereinrichtung in der Betreuung von Demenzkranken (vgl. TEC21 47/2010). Seit 2007 kommen hier dynamische Lichtdecken zum Einsatz, die den Tag-Nacht-Rhythmus der Bewohnerinnen und Bewohner unterstützen sollen. Ein Erweiterungsbau bot 2011 die Möglichkeit, die dynamische Beleuchtung grossflächig zu installieren und ihre Wirkung wissenschaftlich zu begleiten (Architektur: Bernasconi   Partner Architekten, Luzern).

Die Anlagen bestehen aus 1 × 1 m grossen Paneelen mit einer Leistung von je 21 W, die zu bis zu 9 m² grossen Lichtflächen zusammengefügt wurden. Sie befinden sich in den Aufenthaltsräumen, die Beleuchtungsstärke variiert zwischen 100 und 1500 Lux in vertikaler Richtung am Auge (Tageslicht: 3500–100 000 Lux). Im Gegensatz zu den bereits bestehenden Anlagen sind die neuen Paneele mit je zwölf Fluoreszenzleuchten in zwei unterschiedlichen Farbtemperaturen ausgestattet – eine marktfähige Steuerung mit LED existierte zur Bauzeit noch nicht.

Durch die Mischung von warmweissen (2700 Kelvin) und tageslichtweissen (6500 Kelvin) Leuchtmitteln lässt sich die Lichtfarbe im Raum graduell einstellen. Die Veränderung im Tagesverlauf von Warmweiss und ca. 500 Lux am Morgen zu 1000 bis 1500 Lux am Nachmittag bei tageslichtweissem Licht und 100–200 Lux in Warmweiss am Abend wird über einen Computer gesteuert und bildet nicht die tatsächlich herrschenden Lichtverhältnisse im Aussenbereich ab. Letzteres war zwar erwünscht, liess sich aber zu diesem Zeitpunkt technisch nicht ohne Weiteres realisieren.

2012 leitete die Neurobiologin Mirjam Münch (EPF Lausanne) die Studie «Wirkung von dynamischem Licht auf den Schlaf- und Wachrhythmus, das Wohlbefinden und die Immunfunktion bei älteren Menschen mit Demenz».[2] Die auf acht Wochen angelegte Untersuchung im Herbst/Winter mit über 100 Probanden teilte diese in zwei Gruppen auf: Die erste war in den Aufenthaltsräumen der circadianen Beleuchtung ausgesetzt, die Kontrollgruppe hielt sich in herkömmlich beleuchteten Räumen auf. Alle Teilnehmer konnten sich frei bewegen. Ein Bewegungstracker am Handgelenk, der auch die jeweilige Beleuchtungsstärke mass, zeichnete die individuelle Aktivität auf.

Ergänzend dazu dokumentierten das Pflegepersonal und geschulte Mitarbeiter den emotionalen Zustand der Bewohnerinnen und Bewohner in standardisierten Fragebögen. Die Studie brachte überraschende Ergebnisse: Nur unter Berücksichtigung der gesamten Beleuchtungsstärke, der die Bewohner tagsüber ausgesetzt waren, ergaben sich signifikante Unterschiede. Der Verlauf der Melatoninkonzentrationen zeigte eine starke Variation zwischen den Probanden, was darauf schliessen lässt, dass die Synchronisation der inneren Uhr mit dem äusseren Tag-Nacht-Rhythmus nicht mehr so gut getaktet ist.

Bei den Ruhe-Aktivitäts-Zyklen ergaben sich Unterschiede zwischen Männern und Frauen, und beim Schlaf waren in der Gruppe mit der grösseren Lichtmenge tagsüber die Bettgehzeiten später sowie die Verweildauer im Bett kürzer. Die Auswertung der Fragebögen zum persönlichen Wohlbefinden zeigten eine höhere Lebensqualität für die Gruppe, die tagsüber insgesamt mehr Licht ausgesetzt war, ebenso wie signifikant höhere Werte bei Freude und Aufmerksamkeit – für die Betreiber des Heims Grund genug, das Konzept weiterzuverfolgen.

Alterskompetenzzentrum Hofmatt, Münchenstein BL

Die Stiftung Hofmatt in Münchenstein bei Basel wurde von 2011 bis 2015 zu einem Alterskompetenzzentrum mit 165 Plätzen erweitert (Architektur: Oplatek Architekten, Basel; Lichtplanung: Adrian Huber, Basel). Im Rahmen der Erweiterung implementierte man ein Lichtkonzept, das speziell auf die Bedürfnisse an Demenz erkrankter Menschen zugeschnitten ist. Sie sind im Gartengeschoss und im ersten Obergeschoss untergebracht, darüber liegen die Wohneinheiten für betreutes Wohnen und für Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Eine geriatrische Arztpraxis und ein Spitex-Stützpunkt ergänzen das Angebot, ebenso wie temporäre Tages- und Nachtstätten für den vorübergehenden Aufenthalt von betreuungsbedürftigen Personen. Neben einer dynamischen Beleuchtung in den Aufenthaltsräumen wurden erstmalig Dämmerungssimulatoren in den Zimmern der Demenzpatienten getestet.[3] Studien weisen darauf hin, dass speziell die Übergänge zwischen Tageslicht und Dunkelheit Zeiten sind, an denen sich die innere Uhr orientiert und die somit für die Regulation des Tag-Nacht-Rhythmus entscheidend sind.

Forscher der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel und der EPFL untersuchten, ob die Simulation der Dämmerung einen Einfluss auf die Schlaftiefe und die Schlafqualität bei Bewohnerinnen und Bewohnern mit mittlerer und schwerer Demenz haben. Zum Einsatz kam dabei eine neu entwickelte, mobile LED-Stehleuchte, die die Dämmerung simulierte. Ausserdem evaluierte man, ob sich die Stimmung und die Wachheit tagsüber verändern.

Dynamische Dämmerungssimulatoren (DDS) beruhen auf dem gleichen Konzept wie Lichtwecker: Zu Tagesbeginn steigt die Beleuchtungsstärke an, was zum Aufwachen anregen soll. Im Gegensatz zum Lichtwecker funktioniert der DDS auch abends mit einer nachlassenden Beleuchtungsstärke. Per Knopfdruck lässt sich bernsteinfarbenes Licht zuschalten, das die Dämmerung simuliert und zum Einschlafen animiert.

Das Forschungsprojekt ermöglichte die Entwicklung einer Leuchte mit einem Algorithmus, der die Dämmerung eines beliebigen Tages im Jahr und an jedem Ort der Erde mit einem Beleuchtungsstärkenbereich von 0.001 Lux bis 780 Lux (Sonnenaufgang) reproduzieren konnte.

An der Studie nahmen 20 Personen teil. Nach einer Eingewöhnungswoche erhielten zehn von ihnen für den Zeitraum von acht Wochen einen DDS, anschliessend wurde für weitere acht Wochen gewechselt. Die simulierte Dämmerung blieb während des Versuchs konstant. Wie bei der Studie in der Sonnweid dokumentierten Aktivitätsmonitore den Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus der Teilnehmenden, und das Pflegepersonal beurteilte den Zustand der Probanden in Fragebögen.

Auch hier präsentierten sich die Ergebnisse überschaubar: Zwischen den Vergleichsgruppen zeigten sich keine Unterschiede im Ruhe-Aktivitäts-Rhythmus oder in den Schlafparametern. Dafür war das Wohlbefinden und die Laune der Bewohnerinnen und Bewohner unter der Anwendung der DDS morgens besser als in der Zeit ohne DDS. Dies war aber nur bei denjenigen Bewohnerinnen und Bewohnern der Fall, die unter besonders starken kognitiven Einschränkungen litten. Die Stiftung nutzt die Prototypen dennoch weiterhin, eine Weiterentwicklung der Leuchte ist geplant.

Wie weiter?

Nicht alles, was nicht messbar ist, hat auch keine Wirkung. Trotzdem erstaunt die Ausdauer, mit der Pflegeheime auf dynamisches Licht setzen. Gemäss Mirjam Münch, die die beiden Untersuchungen in der Sonnweid und in der Stiftung Hofmatt wissenschaftlich leitete, gibt es dafür gute Gründe: «Eine dynamisches Lichtkonzept stellt vor allem im Winter eine verbesserte ‹Zeitgeberfunktion› für die innere Uhr dar. Das ist gerade bei Menschen mit Demenz enorm wichtig, weil bei dieser Gruppe die Tag-Nacht-Unterschiede via innere Uhr nicht mehr so gut reguliert werden können. Eine tageslichtabhängige Steuerung wäre dabei unbedingt erwünscht.»

Die Theorie klingt gut – möglicherweise wäre mit einer besseren Vermittlung zumindest eine höhere Akzeptanz beim skeptischen Pflegepersonal zu erreichen.


Anmerkungen:
[01] Die Age Stiftung in Zürich möchte die öffentliche Wahrnehmung des Themas Wohnen und Altern schärfen. Sie unterstützt innovative Lösungsansätze in der Deutschschweiz mit finanziellen Mitteln. Infos, auch zu Fördermöglichkeiten: www.age-stiftung.ch
[02] «Wirkung von dynamischem Licht auf den Schlaf- und Wachrhythmus, das Wohlbefinden und die Immunfunktion bei älteren Menschen mit Demenz», 2012 im Alters- und Pflegezenrtrum Sonnweid das Heim. Projektbeteiligte: Mirjam Münch, EPFL, Michael Schmieder (Heimleitung), Katharina Bieler (Projektmanagement), Stiftung Sonnweid AG. Infos: www.age-stiftung.ch/uploads/media/Schlussbericht_2010_015.pdf
[03] «Dynamische Dämmerungssimulation bei Menschen mit Demenz», Studie November 2014 bis März 2015 im Alterskompetenzzentrum Hofmatt. Projektbeteiligte: Dr. Mirjam Münch (Charité Universitätsmedizin, Berlin), Prof. Dr. Anna Wirz-Justice und Dr. Vivien Bromundt (Zentrum für Chronobiologie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel), Marc Boutellier, Projektleiter Stiftung Hofmatt; Entwicklung DDS-Leuchte: Fraunhofer Institut, Stuttgart; LEiDS, Stuttgart; Beratung Dämmerungssimulation: Haberstroh Architekten, Basel. Infos: www.age-stiftung.ch/uploads/media/Schlussbericht_13_015.pdf

24. Juni 2016 TEC21

Vom Stall ins Bett

Rosshaarmatratzen sind ein Traditionsprodukt. Mit der Rückbesinnung auf Authentisches erlebt das Handwerk des letzten Schweizer Matratzenmachers eine Renaissance. Die Technik eignet sich aber auch für andere Anwendungen.

Knapp zehn Jahre ist es her, da liess der Oberaargauer Polsterer Heinz Roth einen Versuchsballon steigen: Er lancierte die Website www.rosshaarmatratzen.ch, um herauszufinden, ob diese traditionelle Art der Matratze in der Schweiz auf Interesse stösst. Bereits sein Vater und sein Grossvater hatten in ihrer Sattlerei seit 1906 Matratzen auf diese Weise hergestellt, Roth war von dem Produkt überzeugt und wollte das Handwerk wiederbeleben. Die Nachfrage war so gross, dass er sich nun ausschliesslich der Herstellung von Rosshaarmatratzen widmet. Aus der Nische wurde ein Geschäft.

Blond ist weicher

Jahrhundertelang schliefen die Menschen auf Säcken, die mit Heu, Stroh oder Schilf oder – luxuriöser – mit Wolle oder Gänsefedern gefüllt waren. Mit den zurückkehrenden Kreuzrittern gelangten im 13. Jahr­hundert dann die Vorstufen der heutigen Matratzen nach Europa – der Name kommt von «matrah», arabisch für Bodenkissen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlief nur der Adel auf Rosshaar­matratzen, erst die In­dustrialisierung machte Matratzen mit anderen Füllungen für alle Schichten erschwinglich.

Die Herstellung von Kunststoffen nach dem Zweiten Weltkrieg führte schliesslich zur Verbreitung der Schaumstoffmatratzen. Rosshaarmatratzen überzeugen aber nach wie vor mit ihren positiven Eigenschaften: Sie sind hygroskopisch und temperaturregulierend. Jedes einzelne Schweifhaar funktioniert wie ein dünnes Röhrchen, das Feuchtigkeit aufsaugt und weiterleitet. Durch das trockene Klima gelten Rosshaarfüllungen als milbenarm, zudem sollen sie Belastungen durch Elektrosmog und Erdstrahlen vermindern helfen.

Eine handgefertigte Matratze mit Rosshaarfüllung ist zwar teurer in der Herstellung, kann aber bei guter Pflege und einer Auffrischung der Füllung (auflockern, entstauben) alle 10 bis 15 Jahre bis zu 50 Jahre in Gebrauch sein. Ein Grund dafür sind die wenigen, aber hochwertigen Materialien. Die Bezugsstoffe, die Roth verwendet – Leinen, Halbleinen und Baumwolldamast – stammen aus Belgien und Frankreich. Sie werden speziell für Matratzen hergestellt und sind so dicht gewebt, dass die Füllung nicht hindurchstechen kann.

Zwischen Bezug und Füllung liegt deshalb zusätzlich ein Wollvlies aus Ostschweizer Schurwolle. Die Füllung aus Rosshaar bezieht Heinz Roth aus dem Toggenburg, bei der schweizweit einzigen Rosshaarspinnerei. Für die Matratzen werden lediglich Schweifhaare von Pferden benutzt (die Produktbezeichnung «Rosshaar» kann auch Ochsenschwanzhaare beinhalten). Diese gibt es in unterschiedlichen Qualitäten. Heinz Roth bevorzugt für seine Matratzen Schweifhaare in Schwarz – wegen der höheren Elastizität; blonde Haare sind weicher.

In der Spinnerei wird das Haar zunächst in Seifenlauge gewaschen, dann in Heissluftöfen getrocknet, gehechelt,[1] gekämmt und dann in einem Autoklav[2] unter Vakuumdampf sterilisiert und zu gedrehten Strängen, dem Krollhaar, gedreht. Die Drehung ist wichtig für die Sprungkraft, so werden aus den einzelnen Haare kleine elastische Federn.
Gezupft, garniert, gebüschelt

Jede Matratze, die Heinz Roth herstellt, ist eine Bestellung. In der Regel sind es Standardmasse, man kann aber auch individuelle Grössen ordern, sofern sie die Maximalbreite von 1.60 m nicht übertreffen. Diese ist zum einen durch die Stoffbreite vorgegeben, zum anderen sind breitere Grössen schwierig in der Herstellung. Dazu kommt das Gewicht: Eine Matratze mit dem Massen 90 × 200 cm wiegt 17 bis 20 Kilogramm.

Zunächst wird der Bezugsstoff zugeschnitten, dann das Wollvlies aufgelegt. Um das Rosshaar als Füllung verwenden zu können, müssen die Stränge aufgezwirbelt werden. Heinz Roth benutzt dafür eine Zupfmaschine aus den 1950er-Jahren. Diese Geräte werden schon lang nicht mehr hergestellt, daher besitzt er noch weitere fünf davon – wann immer eine Sattlerei schliesst und die Maschinen aussortiert, ist Heinz Roth zur Stelle.

Das so aufgezupfte Rosshaar – für eine Matratze mit den Massen 90 × 200 cm benötigt man etwa 13 kg – wird nun in mehreren Lagen in einem ausgeklügelten System aufgebracht. In der Mitte, der Zone der stärksten Belastung, ist die Füllung mit etwa 50 cm am höchsten. Hier lassen sich auch Kunden­wünsche berücksichtigen, für schwere Personen kann mehr Füllung eingelegt werden, um die Matratze stabil zu halten. Über die Füllung kommt erneut ein Wollvlies, darüber wird der Stoff geschlagen, gespannt und ­zusammengeheftet.

Mit einer dicken, sichelförmigen Nadel und einem Nylonfaden näht Heinz Roth die Bezüge mit 1000 Stichen zusammen. Der Matratzenstich, den er verwendet, ermöglicht eine unsichtbare Naht – und wird im Übrigen auch von Ärzten beim Vernähen von Wunden geschätzt. Es folgt die Kantengarnierung: Was aussieht wie ein überdimensioniertes Kissen, wird mit zwei umlaufenden seitlichen Kanten, den Bourrelets, im Garnierstich in Form gebracht. Daneben existiert auch die Façon­einfassung ohne Kanten.

Sie wird für mit Wolle gefüllte und dadurch weichere Matratzen benutzt, ist für das elastische Rosshaar jedoch zu wenig stabil. Um die Füllung innerhalb der Matratze zu fixieren, werden nun die charakteristischen Abheftbüschel, Boufettes genannt, angebracht. Nach durchschnittlich zwölf Arbeitsstunden ist die Matratze fertig zum Einsatz.

Napoleon und Chäserrugg

Die Mehrheit von Heinz Roths Kunden wünscht eine neue handgefertigte Matratze. Immer öfter aber lassen auch Besitzer von Rosshaarmatratzen anderer Hersteller ihre Bettunterlage bei ihm auffrischen. Und von Zeit zu Zeit wird er zum Restaurator: So erneuerte er vor kurzem die 50 Jahre alte Matratze für ein napoleonisches Bettgestell – komplett mit integrierten Sprungfedern.

Neben der klassischen Matratze lassen sich Materialien und Technik aber auch für andere Anwendungen einsetzen: So tauchten Roths Werke, mit Stickereien der Luzerner Künstlerin Daniela Schönbächler veredelt, auch schon als Kunst-im-Bau-Sitzinstallation in der umgebauten Poststation von La Rösa im Puschlav auf. Und die Architekten von Herzog & de Meuron verwendeten eigens angefertigte Kissen als Rückenpolster im Restaurant der im Juni 2015 wieder eröffneten Bergstation Chäserrugg im Toggenburg (vgl. «Auf dem Gipfel des Ursprungs», TEC21 25/2016).


Anmerkungen:
[01] Beim Hecheln werden die Fasern mit einer Art Kamm parallel ausgerichtet und von Kurzfasern gereinigt.
[02] Autoklav: eine Art industrieller Schnellkochtopf, bei dem der Inhalt unter Überdruck sterilisiert wurde.

24. Juni 2016 TEC21

Was Textilien leisten

Lang als heimelig verpönt, feiern Vorhänge, Kissen und Teppiche seit einigen Jahren ein Comeback in unseren Interieurs. Die neuen Stoffe können oft mehr, als den Raum mit Sinnlichkeit zu füllen.

Die Textilkunst ist weltweit eine der ältesten Kulturtechniken. In der Schweiz nahm und nimmt sie einen bedeutenden Platz ein: Auf dem Höhepunkt 1870 arbeiteten 12 % aller Schweizer Erwerbstätigen in der Textilindustrie, vorwiegend in den beiden Zentren in der Nordwestschweiz um Basel und in der Ostschweiz um St. Gallen.[1] Technische Innovationen wie die industrielle Herstellung von Spitzen – die bekannte St. Galler Spitze – oder die maschinelle Paillettenstickerei legten den Grundstein für ein Gewerbe, das auch heute noch internationales Renommee hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ­wanderte die inländische Textilproduktion zunehmend ins günstigere Ausland ab, vor allem nach Asien. Um sich gegen die Konkurrenz behaupten zu können, spezialisierten sich die noch bestehenden Betriebe – beispielsweise auf technische Textilien für die Medizin-, Outdoor- oder Sicherheitsbranche, aber auch auf hochwertige Luxusstoffe für Haute Couture oder funktionale Gewebe für Inneneinrichtungen.

Was die Innenausstattung betrifft, hat sich in den letzten Jahren die Wahrnehmung gewandelt. Nach den plüschigen 1970er-Jahren verschwanden die Textilien aus den Räumen, sowohl den öffentlichen wie auch den privaten. Textilkunst galt als weibliches Bastelhandwerk. Inzwischen haben die Raumtextilien ­die Interieurs zurückerobert, in Form von Teppichen, Kelims, Vorhängen, Polsterstoffen, aber auch architektonischen Elementen wie Soft Cells oder Raumteilern.

Neben der emotionalen Komponente, der Fähigkeit, «dem Raum Poesie zu verleihen»,[2] übernehmen sie oft auch funktionale Aufgaben. Die neueste Generation der Stoffe vereint oft gleich mehrere Eigenschaften: Sie sind schwer entflamm- und biologisch abbaubar, verbessern die Akustik, wirken als Blendschutz, reflektieren einfallende Sonnenwärme und dienen als Lichtquelle.

Nicht synthetisch, aber flammhemmend

Im Objektbereich ist die Verwendung flammhemmender Stoffe wegen der hohen Sicherheitsanforderungen fast zwingend. Synthetische flammhemmende Textilien können statische Elektrizität erzeugen und Staubpartikel sowie Schadstoffe anziehen, zudem absorbieren sie keine Feuchtigkeit. Textilien aus Naturfasern (vgl. Glossar) wie Leinen oder Baumwolle sind feuchtigkeitsregulierend, allergenfrei und antistatisch, aber eben auch leicht brennbar.

Von 2011 bis 2015 hat das Unternehmen Christian Fischbacher aus St. Gallen daher auf Initiative des lombardischen Garnhersteller Coex und der Universität Pavia an einem Stoff aus möglichst umweltfreundlichen Naturmaterialien geforscht, der aber dennoch schwer entflammbar sein sollte (vgl. Glossar). Das Ergebnis ist «ECO FR», ein Stoff aus der Regeneratfaser Viskose und den Naturfasern Leinen und Baumwolle. In Italien hergestellt, gibt es ihn in drei verschiedenen Qualitäten, die sich durch den Anteil des jeweiligen Ausgangsmaterials und damit in Gewicht und Dichte unterscheiden.

«FR» steht für fire retardant, das Produkt hält Temperaturen bis zu 1000 °C stand, ohne zu schmelzen oder zu tropfen. Anschlies­send verkohlt es, bindet Sauerstoff und erstickt dadurch die Flammen, ohne dass schädliche Emissionen entstehen. Dies wird mittels einer molekularen Modifikation der Zellulose bei der eher umweltbelastenden Viskose­herstellung ­(vgl. Glossar) erreicht, sodass der Stoff nicht nachträglich chemisch imprägniert werden muss (waschbar ist er allerdings nicht, was wiederum eine chemische Rei­nigung bedingt).

Dies wirkt sich auch auf die Entsor­­gung aus: Der Stoff soll komplett biologisch abbaubar sein. Ob dies innerhalb der vorgeschriebenen Frist ­von ­30 Tagen gelingt, wird momentan getestet.

Schall, Wärme, Blendung

Ein weiteres Bedürfnis ist die Verbesserung der Akustik[3] und die Regulierung von einfallendem Sonnenlicht, und der Wärme, die dieses mit sich bringt. Schallabsorbierende Textilien verbessern die Raumakustik, indem der kinetische Anteil der Schallenergie innerhalb des Gewebes in Wärme umgewandelt wird, was die Nachhallzeit vermindert.

Für die Regulierung von Licht und Wärme werden in der Regel metallisierte Stoffe eingesetzt, die Ersteres reflektieren.

Der Langenthaler Textilhersteller Création Baumann befasste sich mit der Vereinigung dieser drei Funktionen. Nach anderthalb Jahren interner Entwicklung lancierte das Unternehmen im April 2016 den transparenten Vorhangstoff «Reflectacoustic»: Er bietet hohen Blend- und Wärmeschutz, gleichzeitig absorbiert er auch den Schall. Der bewertete Schallabsorptionsgrad, geprüft nach ISO 11654, liegt bei αw= 0.6 (vgl. Glossar, «Nachhallzeit»). In das zweiseitige Polyestergewebe aus Trevira CS ist auf der Rückseite ein metallisiertes Foliengarn eingewoben.

Auf diese Weise reflektiert die Geweberückseite das Sonnenlicht und verringert die Wärmeeinstrahlung um 40 %. Besonders ist die Oberfläche der vor Ort in Langenthal hergestellten, waschbaren Textilien: Bestehende reflektierende Stoffe sind in der Regel an der Rückseite mit einer Schicht aus Metallstaub bedampft, sodass sie grau wirken. Bei der Neuentwicklung entschied man sich stattdessen für eine Streifenlösung, transparente Flächen wechseln sich mit metallisierten Rippen ab. Dadurch bleibt der Stoff zum einen lichtdurchlässig, zum anderen besitzt er eine glatte Vorderseite, auch in Weiss.

Licht und Atmosphäre

Die Verbindung von Textilien und Licht gelingt dem Vorhangstoff «eLumino», den Création Baumann 2013 auf den Markt brachte. Die Technik, die LED auf Stoff appliziert, wurde im Rahmen des anderthalbjährigen KTI-Forschungsprojekts «e-Broidery» zusammen mit Partnern wie dem Textilunternehmen Forster Rohner aus St. Gallen und der Hochschule Luzern für Design und Kunst HSLU entwickelt.

Die langjährige Erfahrung und eigene Forschungsarbeiten des Stickereispezialisten Forster Rohner waren dabei entscheidend: Stickerei erlaubt die genaue Platzierung von Elementen auf einem Stoff und ermöglicht so die nötige Präzision zur Übertragung elektronischer Signale. Jede Diode benötigt zwei Leiterbahnen, die als Doppellinie in die Stickerei integriert sind. Die Dioden sind Eigenentwicklungen und erinnern an glänzende Pailletten.

Leiterbahnen und LED erzeugen auf dem Stoff, einer Mischung aus Polyester in Trevira CS und mit Metall beschichteteten Garnen, ein dekoratives Muster mit auf drei Stufen dimmbaren Lichtpunkten. Die Leiterbahnen werden industriell eingestickt, in einem zweiten Schritt werden die Dioden aufgebracht. Die Eigenschaften des Stoffs, seine Weichheit und der Fall bleiben erhalten.

«eLumino» wird mit einem Kabel mit USB-Stecker an die Stromversorgung angeschlossen, kann aber auch mit Akku betrieben werden. Um den Stoff zu waschen oder zu reinigen, kann die Stromzufuhr entfernt werden. Dimmer und An/Aus-Schalter sind in der Seitennaht platziert. Den Stoff gibt es in zwei Dessins und in zwei Stoffqualitäten, einmal als transparenter Voile (47 g/m2), einmal als opakes Gewebe (167 g/m2), in jeweils drei Farben. Inzwischen lief bereits ein neues Forschungsprojekt zum Thema «e-Broidery» an der HSLU, das sich mit chromatischen Lichteffekten auseinandersetzte und im November 2015 abgeschlossen wurde.[4]

Handwerk trifft Hightech

Neben den funktionalen Eigenschaften machen Textilien aber auch einfach Freude. Die Weichheit und Elastizität, die Beweglichkeit und die Faltungen, die vielfältigen Materialien, Muster, Farben und die Abstufungen in der Transparenz bieten visuelle, akustische und haptische Eindrücke. Inwieweit sie sich mit immer mehr Funktionen beladen lassen, werden zukünftige Entwicklungen zeigen. Im Hinblick auf die ökologischen Standards der gesamten Produktionskette gibt es aber schon heute noch Luft nach oben.

24. Juni 2016 TEC21

«Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen»

Der St. Galler Textilhersteller Jakob Schlaepfer ist bekannt für seine opulenten Dessins. Die Produkte sieht man auf roten Teppichen ebenso wie auf Sofas. TEC21 sprach mit dem Kreativchef der Interior-Kollektion über Mode, Verrücktheit und die Grenzen der Kreativität.

TEC21: Herr Duss, seit vergangenem September sind Sie für die Interior-Kollektion bei Jakob Schlaepfer zuständig. Wodurch zeichnen sich die Textilien Ihres Unternehmens aus?

Bernhard Duss: Jakob Schlaepfer gibt es ­seit 1904. Wir sind eigentlich ein Kleiderstoffhersteller, arbeiten für Haute Couture und Pret-à-porter Lux und kommen aus der Tradition der St. Galler Stickerei. Ende des 19. Jahrhunderts hat man hier die maschinelle Spitzenherstellung erfunden.

In den 1960er-Jahren haben die damaligen Inhaber Jakob Schlaepfer zu einem Unternehmen für luxuriöse Haute-­Couture-Stoffe entwickelt und vor allem angefangen, Pailletten maschinell zu sticken. Dafür sind wir bis heute bekannt. Wir waren aber schon immer nicht nur ­auf Stickerei fokussiert, decken ein breites Feld ab: ­Wir mischen die Techniken, kombinieren sie neu und entwickeln auch unsere eigenen Maschinen. Bei uns geht es darum, alles zu nutzen, was man für die Textilgestaltung brauchen kann.

TEC21: Neben den Stoffen für die Haute Couture bieten Sie seit 2008 auch eine Interior-Kollektion an. Was sind die Unterschiede zur Mode?

Bernhard Duss: Alle unsere Kreationen haben einen starken Hintergrund in der Mode. Bei uns im Haus gibt es keine Konkurrenz und keine Berührungsängste zwischen den Ressorts, unsere Textildesignerinnen sind jeweils in beiden Bereichen tätig. Dementsprechend gibt es viele Stoffe, die ihren Anfang in der Mode gefunden haben und dann für den Wohnbereich adaptiert wurden – aber auch umgekehrt.

Generell muss es bei den Einrichtungsstoffen etwas robuster sein, wegen der längeren Haltbarkeit. Aber wir machen hier auch verrückte Sachen, alles andere gibt es ja schon zur Genüge. Wenn sich Leute für unsere Stoffe entschliessen, dann suchen sie das Luxuriöse. Unsere Produkte werden oft als Eyecatcher verwendet, in Kombination mit etwas Einfachem. Im Einrichtungsbereich sind wir mit einer Kollektion pro Jahr eher klein. Eine Kollektion beinhaltet etwa zehn Neuheiten, sowohl bei den Stoffen als auch bei den Tapeten.

TEC21: Wo werden die Stoffe hauptsächlich eingesetzt?

Bernhard Duss: Vorwiegend im Dekobereich. Unser Angebot reicht von Stoffen mit Stickereien über Metallstoffe aus verwebten Drähten zu Besonderheiten wie ­Reflektormotiven auf Seidentaft, die sich je nach Licht und Standpunkt verändern. In der aktuellen Kollek­tion haben wir auch einen Stoff mit einer Gravur auf Reflektormaterial oder transparente Vorhänge aus superleichtem, mit Aluminium oder Messing beschichtetem und zusätzlich bedrucktem Monofil­gewebe. Mit 10 g/m2 ist es das leichteste Gewebe, das es gibt.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Paillettenstickerei für Interieurs. Unsere Pailletten sind Eigenentwicklungen. Wir verwenden eine grosse Auswahl an Pailletten, mit unterschiedlichen Farben und Oberflächen, matt, strukturiert oder holografisch glänzend. Mit unseren Stoffen kann man Geschichten bauen.

TEC21: Sie haben vorher die Tapeten erwähnt. Worum geht es da?

Bernhard Duss: Seit 2010 führen unsere eigene Tapetenkollektion, unter anderem inspiriert von den Bildtapeten des 19. Jahrhunderts, die wir neu interpretieren. Dafür arbeiten wir mit drei unterschiedlichen Grundmaterialien: einem matten Vlies, einer gesprenkelten Hologrammfolie und einer stark holografierenden Oberfläche. Alle Muster können wir auf alle Ober­flächen drucken. Daneben entwickeln wir vermehrt projektbezogene Tapeten auf Kundenwunsch, vor allem für den Objektbereich.

TEC21: Die Textilien sind sehr opulent, oft auch verspielt und wirken wie Haute Couture für die Wohnung. Wie gehen sie mit Sicherheitsnormen um, die im Hinblick auf die Kreativität eher bremsend wirken?

Bernhard Duss: Da gibt es eine Grenze. Wir werden immer wieder gefragt, ob es diesen oder jenen Stoff auch flammhemmend in Trevira CS gibt. Wir haben einige wenige im Programm, aber bei vielen unserer Techniken lässt sich das nicht umsetzen. Trotzdem findet man unsere Stoffe auch in öffentlichen Bereichen. Es kommt darauf an, wo und wie sie eingesetzt werden.

TEC21: Inwiefern ist Nachhaltigkeit bei Ihnen ein Thema?

Bernhard Duss: Unser Beitrag besteht in der langen Nutzungsdauer, den kurzen Wegen und der regionalen Wertschöpfung. Aber will man wirklich nachhaltig sein, bekommt man nicht all diese Farb- und Material­explosionen. Die Umweltfreundlichkeit von Textilien aus Recyclingmaterial ist wegen der dabei verbrauchten grauen Energie ohnehin umstritten. Unsere Produkte sind nachhaltig, weil man gezielt kauft und sie lang behält.

TEC21: Gibt es aktuelle Forschungsprojekte?

Bernhard Duss: Momentan haben wir haben ein Forschungsprojekt mit der Hochschule für Kunst und Design Luzern zum Thema «Dreidimensionaler Farbauftrag auf Stoff». Daraus ist unser neuestes Produkt «hyper­tube» entstanden, Stoffe für die aktuelle Haute-Couture-Kollektion: Es handelt sich um Spitzenmotive in Schwarz oder Weiss, die aus Silikon gespritzt werden – eine zeitgenössische Neuinterpretation der St. Galler Spitze.


[Ende Mai hat an der Oberen Zäune 6 in Zürich der Showroom von Jakob Schlaepfer mit Stoffen und Tapeten aus der Interior-Kollektion eröffnet.
Öffnungszeiten: Di–Fr 10–18.30 Uhr, Sa 10–16 Uhr.
Weitere Infos: jakobschlaepfer.com]

6. November 2015 TEC21

«Farbe bringen die Fahrgäste mit»

Der Regionalverkehr Bern-Solothurn RBS ersetzt nach 40 Jahren die Fahrzeuge der Linie S7 (Bern–Worb). Ulrich Reinert und Caspar Lösche erläutern Vorgehen und Herausforderungen beim Ersatz der als Mandarinli bekannten Züge.

Der RBS ist Teil der S­Bahn Bern und eines der innovativsten öV­Unternehmen der Schweiz. Als erster Schweizer öV­Ver­ bund hat er 1963 den Taktfahrplan, 1971 den Zonentarif, 1974 den S­-Bahn-­Betrieb und 1992 Niederflurzüge eingeführt.
Entstanden ist der RBS aus den Vorgängerbahnen Solothurn­-Zollikofen­-Bern Bahn SZB und den Vereinigten Bern­-Worb­-Bahnen VBW, die sich 1984 zusammenschlossen. Heute transportieren die 4 Bahn­ und 22 Buslinien jährlich über 25 Millionen Fahrgäste. Die aktuelle Beschaffung der neuen Mandarinli – der Name kommt von der auffälligen orangen Farbe – ersetzt die in die Jahre gekommene Flotte der S7.

Die Mandarinli des RBS müssen altershalber ersetzt werden. Sie beschaffen deshalb in den nächsten Jahren neue Züge für die S7. Wie gehen Sie vor?
Ulrich Reinert: Unsere Züge sind fast 40 Jahre alt und haben damit ihr wirtschaftliches Lebensalter erreicht. Der eigentliche Beschaffungsprozess erfolgt nach GATT-­/WTO­-Vorgaben und ist relativ technisch. Da wir als meterspurige S­-Bahn keine Standardzüge beschaffen können, müssen unsere neuen Züge zuerst entwickelt und konstruiert werden. Wir de nieren als Erstes, welchen Ansprüchen die Fahrzeuge genügen sollen. So hatten wir in den letzten zehn Jahren auf der S7 einen Nachfragezuwachs von rund 40%. Die neuen Fahrzeuge müssen deshalb so gestaltet werden, dass sie viele Fahrgäste aufnehmen können, aber dennoch komfortabel bleiben.

Von wie vielen neuen Zügen sprechen wir?
Reinert: Wir bestellen 14 neue Fahrzeuge mit der Optionen für eine Nachbeschaffung. Wir rechnen damit, dass das erste Fahrzeug 2018 bei uns ist und alle Züge ab 2020 im Einsatz sind.

Wie gross ist der technische und betriebliche Spielraum bei der Neugestaltung?
Reinert: Viele Vorgaben ergeben sich aus den technischen Randbedingungen der Infrastruktur. Die Gestaltungsspielräume beziehen sich deshalb vor allem auf den Innenraum. Zentral ist auch die Frage nach der Anzahl Türen und deren Anordnung. Im Vordergrund steht der schnelle Fahrgastwechsel in einem stark genutzten System. Wichtig war für uns zu wissen, wie sich der Fahrgast zum und im Fahrzeug bewegt, welche Bedürfnisse er hat und welche davon wir berücksichtigen können.

Um die Bedürfnisse der Fahrgäste kennenzulernen, wurden diese befragt. Wie sind Sie vorgegangen?
Caspar Lösche: Wir haben auf der unabhängigen Webplattform Atizo ein Crowdsourcingprojekt lanciert, um gemeinsam mit unseren Fahrgästen Lösungen zu entwickeln, wie wir die Fahrt in den neuen Zügen – vom Ein­ bis zum Ausstieg, in der Stosszeit wie in Randzeiten – angenehmer gestalten können. Immerhin muss man sich bewusst sein, dass die Züge wieder mehrere Jahrzehnte im Einsatz sein sollen. Deshalb wurden auch klare Spielregeln definiert.

Wie sahen diese Spielregeln aus?
Lösche: Die Ideen sollten erstens massentauglich, zweitens technisch und nanziell umsetzbar und drittens nachhaltig sein, also auch nach mehreren Jahrzehnten noch Sinn machen. Die Umfrage lief während fünf Wochen, danach haben wir die Ideen intern bewertet und die besten mit einer Prämie von insgesamt 2000 Franken honoriert. Konstruktive und umsetzbare Ideen haben wir in das Pflichtenheft für die neuen Fahrzeuge eingebunden. Die eingegangenen 600 Ideen verdichteten wir mit der Geschäftsleitung und der Marketingabteilung auf 25 Ideengruppen. Diese haben wir erneut den Fahrgästen in Form konkreter Fragen präsentiert. Die Fragen konnte man via Smartphone direkt während der Fahrt beantworten. In dieser zweiten Runde wollten wir konkrete Fragen stellen, die eher auf die individuellen Ansprüche abzielten. In der ersten Runde kamen durch die offene Formulierung auch einige unerwartete Ideen auf.

Zum Beispiel?
Reinert: Es gab zwar auch weniger ernst gemeinte Ideen, wie etwa einen aufrecht stehenden Schlafsarg oder Dunstabzugshauben über den Sitzen. Das meiste war aber konstruktiv: Den Fahrgästen ging es vor allem um das Sitz­ respektive Stehplatzangebot, um zügiges Ein­ und Aussteigen und um gutes Zirkulieren im Fahrzeug. Überrascht hat uns, dass es unseren Fahrgästen also weniger um indivi­ duelle Wünsche als um Massentauglichkeit ging. Das ist ein tolles Resultat, die Mehrheit der Fahrgäste hat sehr rationale Ansprüche.

Wie kam es zu diesem aufwendigen Verfahren?
Lösche: Der RBS hat im August 2014 seinen Social­-Media­-Auftritt gestartet. Es lag für uns auf der Hand, dass wir die Fahrgäste auch über diese Kanäle in die Beschaffung der Fahrzeuge einbeziehen wollten und so gleichzeitig auch unseren neuen Auftritt bekannt machen konnten. Der direkte Einbezug der Fahrgäste ist für den RBS aber nichts Neues: Bereits in den 1970er-­Jahren waren die Fahrgäste befragt worden, welche Farbe die damals neuen Mandarinli­Züge haben sollten.
Reinert: Der gewählte Weg konnte sehr schlank durchgeführt werden – zeitlich innert weniger Monate und auch kostenmässig mit wenigen Tausend Franken. Zudem konnten wir mit dem Onlineansatz das gesamte Spektrum abfragen – es ging nicht nur um einen Aspekt wie vor 40 Jahren bei der Farbgestaltung, sondern entwickelte sich eher Richtung Marktforschung.

Lösen Sie die Gestaltungsfrage intern oder in Zusam- menarbeit mit einem Designbüro?
Reinert: Da unsere Züge eine Massanfertigung sein müssen und speziell konstruiert werden, nutzen wir den Spielraum auch für ein eigenständiges Design. Bei der letzten Zugbeschaffung vor knapp zehn Jahren wurde das Design erst nach der Auftragsvergabe an Stadler Rail AG entwickelt: Die Gestaltung dieser Züge vom Typ «NExT» (Nieder­flur­-Express­-Triebzug) trägt die Handschrift von Uli Huber, dem ehemaligen SBB­-Chefarchitekten. Bei der jetzt anstehenden Beschaffung mussten wir aus ausschreibungstechnischen Gründen einen neuen Weg gehen und haben das Design bereits vor der Ausschreibung erarbeitet. Dafür haben wir letztes Jahr vier Designbüros eingeladen und die süddeutsche Tricon Design AG als Designpartner ausgewählt. Diese Firma hat sich auf Zuggestaltung spezialisiert und weltweit schon diverse Metro­ und Stadtbahnfahrzeuge gestaltet. Beim neuen S7­-Zug soll die mit dem «NExT» eingeführte Designsprache weitergeführt werden: Im Innern setzen wir auf eine auch farblich ruhige Gestaltung mit indirekter Beleuchtung. Die Farbe bringen die Fahrgäste mit.

Gehen Sie auch international auf Ideensuche?
Reinert: Selbstverständlich. Auch wenn wir in der Schweiz einen guten Standard im Fahrzeugdesign haben, gibt es ausserhalb interessante Lösungen und Konzepte, die wir für unsere Bedürfnisse adaptieren können. So gibt es bei Stadtbahnen im Ruhrge­ biet schon länger zusätzlich zu den Türtastern aussen optische Sensoren, die die Türen automatisch öffnen. Dies möchten wir für unsere neuen Züge adaptieren. Andererseits gibt es auch abschreckende Beispiele. Diese sieht man auch bei Messen, wo Hersteller ihre neuen Fahrzeuge präsentieren. Typische Beispiele sind hier sehr enge Bestuhlungen und Zirkulationsflächen. Man ist oft erstaunt, wo überall noch Sitze hineingepresst werden; Doppelstockzüge mit Klappsitzen unmittelbar vor den Treppen oder Ähnliches. Man wird dann den Eindruck nicht los, dass solche Züge von Personen konzipiert und beschafft werden, die diese selber kaum je nutzen.

Welche Aspekte sind für den hohen Schweizer Standard massgebend?
Reinert: Einerseits dürfte dies am hohen Lebensstandard hierzulande liegen, der zu einer entsprechenden Anspruchshaltung führt. Vor allem aber ist der öffentliche Verkehr in der Schweiz ein ziemlich klassenloses Verkehrssystem: Der Fahrgast wird nicht als Beförderungsfall betrachtet, sondern als Kunde, und auch eine Bundesrätin oder ein CEO eines Konzerns fahren Zug oder Tram. Dies ist in vielen Ländern anders.

Wie wichtig ist Nachhaltigkeit für die RBS?
Reinert: In Bezug auf Energieef zienz und Verschleiss ist die Bahn als Massentransportmittel per se eine nachhaltige Sache. Ein Fahrzeug wird für eine Einsatzzeit von rund 40 Jahren konzipiert, wobei es üblicherweise nach 20 Jahren eine Modernisierung mit neuer Elektronik oder neuer Innenraumgestaltung gibt. Dabei werden nach Möglichkeit rezyklierbare Materialien verbaut.

Sind bei der aktuellen Beschaffung auch technische Einbauten wie WLAN ein Thema?
Lösche: Gerade der Bereich Mobilkommunikation entwickelt sich rasant. Es ist dabei schwierig bis unmöglich, eine technische Lösung einzubauen, die auch in 40 respektive 20 Jahren noch verbreitet ist. Daher verzichten wir in den neuen Zügen auf den Einbau von WLAN, sehen aber Repeater für einen optimalen Mobilfunkempfang vor. Wir gehen davon aus, dass Daten atrates für mobiles Surfen künftig zum Standard werden und daher WLAN, so wie wir es heute kennen, unterwegs nicht mehr notwendig sein wird.

Wie wichtig ist der Sicherheitsaspekt?
Lösche: Betreffend die Züge ist zu unterscheiden zwischen der technischen Sicherheit und dem Sicherheitsemp nden der Fahrgäste. Immerhin ist zu beachten, dass wir teilweise metroähnliche Zustände haben und grosse Stehflächen anbieten müssen.

Mit welchen Massen wird gerechnet?
Reinert: Entscheidend ist, ob die angebotenen Sitzplätze und Stehflächen effektiv auch genutzt werden. So haben die heutigen Mandarinli­Züge sehr enge Sitzteiler, was dazu führt, dass auch in Spitzenzeiten nicht alle Sitzplätze genutzt werden. Analog gilt bei Stehplätzen, dass diese komfortabel nutzbar sind, dass Anlehn­ oder zumindest gute Haltemöglichkeiten vorhanden sind. Zu beachten ist auch, dass die Zirkulationsflächen besonders auf den Einstiegsplattformen nicht als erste belegt werden. So legen wir grossen Wert auf Übersichtlichkeit: Der einsteigende Fahrgast soll rasch erkennen, wo noch Sitzplätze frei sind. Generell rechnen wir bei Stehplätzen mit maximal drei Personen pro Quadratmeter. Bei Sitzplätzen ergibt sich ein rechnerischer Flächenbedarf von 0.45 m² pro Person.

Versuchen Sie auch, die Kommunikation zwischen den Fahrgästen aktiv zu fördern?
Lösche: Unsere Erfahrungen zeigen, dass dies gar nicht gewünscht ist. Der grösste Teil unserer Fahrgäste sind Pendler, die täglich mit uns reisen. Wir legen deshalb auch akustisch Wert auf eine ruhige Umgebung. Neben dem Vermeiden von technischen Geräuschen sind die automatischen Durchsagen auf das Erforderliche beschränkt – kein «Herzlich willkommen beim RBS» aus der Konserve oder Ähnliches. Zudem sind die Fussböden unserer Züge mit Teppichen belegt – dies schluckt einiges an Lärm.

Wie gehen Sie mit Hindernisfreiheit um?
Reinert: Mobilität für alle ist uns ein grundsätzliches Anliegen. Dass dies kein Lippenbekenntnis ist, verdeutlicht die Tatsache, dass wir bereits ab 1994 als erstes Schweizer öV­Unternehmen Züge mit Niederflureinstieg eingeführt und auch die Perrons und die Perronzugänge entsprechend ausgerüstet haben. Bereits vor Schaffung des Behindertengleichstellungsgesetzes haben wir in allen Zügen Niederflurangeboten und damit die physische Barriere für Mobilitätsbehinderte massiv reduziert. Nachholbedarf haben wir bei der Kundeninformation an den Stationen, hier sind entsprechende Projekte aufgegleist.

Arbeiten Sie mit Psychologen zusammen?
Reinert: Bisher nicht – man kann nicht aus allen Bereichen Fachleute beiziehen. Dafür befindet man sich mitten im Leben. Auch wenn man immer wieder von der Wirklichkeit überrascht wird – das ist das Spannende am öffentlichen Verkehr.

25. September 2015 TEC21

Wie vorher, nur besser

Das Hebelschulhaus im baslerischen Riehen ist ein aussergewöhnlich schönes Exemplar eines Pavillonschulhauses der 1950er-Jahre. Von 2011 bis 2014 wurde es an heutige Bedürfnisse angepasst – ohne dabei etwas von seinen Qualitäten zu verlieren. Möglich machte dies der überdurchschnittliche Einsatz der Planenden.

Es gibt sie noch, die architektonischen Erfolgsgeschichten – auch in Zeiten von Rezession, Sparzwang und überbordenden Vorschriften. Eine davon ist die von MET Architects realisierte Instandsetzung des Hebelschulhauses im baslerischen Riehen.

Klassisch, detailreich, kindgerecht

Das Hebelschulhaus ist ein klassischer Pavillonbau. Er ging aus einem offenen Wettbewerb hervor, den der damals 28-jährige Basler Architekt Tibère Vadi 1951 gewann. Als Wettbewerbssieger gründete er 1952 zusammen mit Max Rasser das Architekturbüro Max Rasser & Tibère Vadi und projektierte das Erstlingswerk mit viel Hingabe und genauem Blick fürs Detail.

Die teilweise zweigeschossige und unterkellerte Schule besteht aus vier Baukörpern mit Pultdächern (vgl. Pläne S. 22) und wurde 1994 von Rolf Brüderlin um einen weiteren Trakt parallel zum Langenlängeweg ergänzt (Trakt A). Die beiden originalen südostorientierten Klassentrakte (Trakt C und D) befinden sich in diagonaler Stellung zur erschliessenden Verbindungsachse (Trakt B). Als Flügel sind sie trotz Morgensonne aus energetischer Sicht zwar nicht optimal positioniert, doch aus räumlicher Sicht vorteilhaft: Sie sind lichtdurchflutet und bilden ruhige, hofartige Zwischenräume im Aussenbereich. Der Verbindungtrakt endet, über eine gedeckte Ter­rasse erreichbar, im Kopfbau, worin die ehemalige Turnhalle und ein Zeichensaal untergebracht waren (Trakt E). An den Schnittstellen der drei Korridore befinden sich jeweils die Treppenaufgänge und prägnante Pilzstützen (vgl. Abb. S. 24).

Der 1952 bis 1953 erstellte Bau entsprach den damaligen Bemühungen einer kindergerechten Schulhausarchitektur mit übersichtlicher Gesamtorganisation, starkem Bezug zu den Aussenräumen, grosszügigen Fenstern, geschützten Pausen- und Aufenthaltsbereichen, Querlüftungsmöglichkeiten und einem differenzierten Farbkonzept.

Respektvoll zum Erfolg

In den folgenden Jahrzehnten wurde das im Inventar schützenswerter Bauten aufgeführte Schulhaus bis auf den Anbau von Trakt A lediglich Pinselrenovationen unterzogen. Ihnen fiel die ausgeklügelte Farbigkeit der einzelnen Bauteile zum Opfer. Als 2010 die Turnhalle zu einer Aula umfunktioniert werden sollte, nutzte der Kanton Basel-Stadt als Eigentümer die Gelegenheit, den Bau hinsichtlich Erdbebensicherheit, Brandschutz, Energie und Gebäudetechnik den aktuellen Erfordernissen anzupassen. Dazu kam die Renovation der Kunstwerke sowie die Instandsetzung der Oberflächen und eine Anpassung des Raumprogramms gemäss dem im Mai desselben Jahres in Kraft getretenen ­HarmoS-Konkordat (Interkantonale Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule).

Für den Umbau der Turnhalle und die Gesamt­sanierung des Schulhauses schrieb der Kanton 2010 ein offenes Planerwahlverfahren aus. Erfolgreich daraus hervor ging der Entwurf der Basler Architekten Thomas Thalhofer und Roula Moharram, die sich daraufhin – wie dazumal Tibère Vadi – mit einem eigenen Büro, als MET Architects, selbstständig machten. Ihr Entwurf sah vor, die Halle um eine Achse zu kürzen, um Platz für Toiletten und Nebenräume zu schaffen. Der Rhythmus der Fassade konnte beibehalten werden. Die Nordfassade des Trakts erhielt grossflächige Glasschiebefenster – so entstand ein lichtdurchflutetes Foyer, das sich bei geöffneten Türen bis auf die teilüberdachte Terrasse zwischen Trakt E und dem eigentlichen Schulhaus erstreckt (vgl. Grundrisse S. 22 und Abb. S. 29).

Auch bei der anschliessenden Instandsetzung des Schulhauses folgten die Architekten einfachen Prämissen: Die Grundstruktur des Baus besitzt eine so hohe Qualität, dass darin die Lösungen für heutige Bedürfnisse bereits angelegt sind. Für das neue Raumprogramm bedeutete dies, dass die gewünschte Flexibilität nicht über die Wandelbarkeit der einzelnen Räume erreicht wird, sondern über die Wiederholung des immergleichen Systems – pädagogische Konzepte ändern sich schnell, aber der Nukleus der Schule, das Klassenzimmer, bleibt gleich. Dazu gehörte auch, «temporäre» Bedürfnisse nicht überzubewerten, sondern abzuwägen, was sich langfristig bewährt.

Alt ist das bessere Neu

Um die energetische Erfordernisse zu erfüllen, sanierten die Planer auch Dach und Gebäudehülle. Die alten Fenster wurden durch dreifach verglaste ersetzt, die Betonbrüstungen erhielten eine 100-mm-Innen­däm­mung, Putzflächen wurden mit 120 mm von aussen isoliert und erhielten einen neuen, 20 mm starken mineralischen Dickputz. Belegt wurde die energetische Ertüchtigung via Systemnachweis. Auch das Dach erhielt einen neuen Aufbau: 120 mm Dämmung und ein Furaldach (vgl. Instandsetzung Schulhaus Chriesiweg, Zürich, TEC21 20/2009), auf das in den Trakten C und D eine 400 m² grosse Photovoltaikanlage aufgebracht wurde. Um den schmalen Dachrand des Bestands zu erhalten, besitzt das Dach einen Rücksprung – aufwendig für den Spengler, aber überzeugend im Ergebnis. Der Bau verbraucht heute im Betrieb nahezu 75 % weniger Energie als vor der Instandsetzung.

Wo immer möglich verwendeten die Architekten alte Bauteile und Möbel, die sie eingelagert im Keller fanden. Unter anderem liessen sie die mit farbigem ­Linoleum belegten Innentüren restaurieren. Die Schäden behob ein Schreiner, indem er eine dünne Schicht des Oberflächenmaterials abtrug und zu einer spachtelfähigen Masse weiterverarbeitete, mit der er Kerben und Löcher schloss. So konnte der Originalfarbton der Türoberflächen und damit das kindgerechte Orientierungssystem ­beibehalten werden: Petrol für die Unterrichtsräume, Grau für Nebennutzungen, Gelb für die Administration. Ähnliche Lösungen fanden sich für die Schränke in den Klassenzimmern, die eingelagert waren und lediglich aufgefrischt werden mussten. Oder für die Beschläge der Fenster: Um sich deren filigraner ­Anmutung anzunähern, aber gleichzeitig die durch die neue Dreifachverglasung entstandenen zusätzlichen Lasten tragen zu können, liessen die Architekten das Gestänge für die Kippfenster nach historischem Vorbild nachbauen.

Die Wände der Flure und Klassenzimmer erhielten wie im Bestand einen Überzug aus Stramin, der wie ein massgefertigtes Kleid in einem Stück auf die bis zu 40 m langen Wandflächen aufgebracht wurde (vgl. Kasten oben). Beim anschliessenden Anstrich stützten sich die Planer auf das vom Zürcher Haus der Farbe aufgrund von Quellenstudien und Sondierungen ermittelte historische Farbkonzept, das analog zum Bestand jeweils einen Dreiklang vorsah: ein heller Farbton gegenüber dem Fenster, ein mittlerer Farbton an der Fassadeninnenseite und ein dunkler Farbton für die Decke. In der Neuinterpretation von MET Architects sind das in den Klassenzimmern warme Beige- und Grüngrau­töne, an der tafelseitigen Wand und an den Pinnwänden mit einem Lachsrosa ergänzt, das den Ton der neuen Sonnenstoren aufgreift.

Bedingt zur Nachahmung empfohlen

Wer nun meint, dass all die Handwerkerleistungen das Budget gesprengt hätten, wird eines Besseren belehrt: Mit einem Kubikmeterpreis von 656 Fr./m3 (BKP 2) liegt das Schulhaus kaum höher als andere Gesamtsanierungen, ist aber nicht ganz so ökonomisch wie das Original von Rasser   Vadi, das mit seinerzeit 86 Fr./m3 der günstigste Schulhausneubau des Kantons war. Nicht abgegolten ist damit allerdings der immense Recherche­aufwand, den die Architekten betrieben. Gemäss eigenen Angaben verbuchen sie ­diesen Einsatz unter Forschung und Entwicklung. Möglich wurde das ausser­gewöhnlich schöne Ergebnis, weil alle Beteiligten die Wertschätzung für den Bau teilten und sich in den Sinn der Sache stellten.


Literaturhinweise:
Zum Bestand: Bauen +Wohnen, 8/1954, S. 314 ff.
Ulrike Jehle-Schulte Strathaus: Rasser und Vadi. In: Isabelle Rucki, Dorothee Huber (Hrsg.): Architektenlexikon der Schweiz, 19./20. Jahrhundert. Basel 1998.
Jahresbericht 2014 der Basler Denkmalpflege, S. 36f.

28. August 2015 TEC21

Vom Tempel zum Klick

Der Detailhandel steht vor einem Entwicklungsschritt: Zunehmender E-Commerce eröffnet internationale Märkte, macht aber zugleich Druck auf traditionelle Ladengeschäfte. Was bedeutet das für unsere Innenstädte und – im kleineren Massstab – für den Ladenbau?

Ende Juli machte der Schweizer Detailhandel Negativschlagzeilen: «Stärkste Umsatzeinbusse seit 35 Jahren, Umsatzrückgang von 2.1%, 2 Milliarden Franken weniger in der Kasse.»[1] Während der Einbruch in Rekordhöhe in der Schweiz auch dem Einkaufstourismus in die Euroländer geschuldet sein mag, steht der Detailhandel allgemein schon länger unter Druck. Mit dem Aufkommen von Onlineplattformen und einfacher Software, die es auch kleinen Firmen erlaubt, ihre Ware weltweit zu vertreiben, ist zum einen die Konkurrenz gewachsen, zum anderen sieht sich die Branche einer bestens informierten Kundschaft gegenüber. Wie sich diese Technologien für den Handel nutzen lassen, ist denn auch das Thema, das die Anbieter beschäftigt.

Konsumtempel, Kiste, Klick

Einkaufen als Freizeitbeschäftigung ist ein relativ junges Phänomen. Ende des 19. Jahrhunderts sorgten der steigende Wohlstand immer grösserer Bevölkerungsschichten und die aufstrebende Konsumgüterindustrie dafür, dass sich das Einkaufen von der reinen Bedarfsdeckung zum Konsum als Erlebnis wandelte. Einhergehend damit entstanden Handelshäuser als Teil einer lebendigen Stadtstruktur – die ersten Warenhäuser mit repräsentativer Architektur kamen auf. Ein Schnitt erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg mit der zunehmenden Mobilität. Statt auf Repräsentation legten die Anbieter nun Wert auf schnelle Erreichbarkeit und effiziente Flächennutzung. Es enstanden die bekannten «dekorierten Kisten» auf der grünen Wiese, mit teilweise fatalen Folgen für den Detailhandel in den Innenstädten.

Seit einigen Jahren sieht sich die Branche einem ähnlichen Paradigmenwechsel gegenüber: der Verlagerung von realen zu virtuellen Handelsplattformen. Interessant sind dabei vor allem die Schnittstellen und das jeweilige Ausmass. Aktuell zeichnen sich drei grosse Trends ab: ausschliesslicher Onlinehandel, Integration von neuen Technologien in bestehende Konzepte sowie die Sehnsucht nach Authentizität und Bezug zum Produkt. Daneben gibt es Mischformen in allen Varianten.

Für den reinen Onlinehandel steht in Mitteleuropa wohl kaum ein Name so sehr wie der Bekleidungshändler Zalando: Eine Vielzahl an Marken ist via Website bestellbar, wird kostenfrei nach Hause geliefert und kann ohne Gebühr retourniert werden. Der Auftritt des Händlers definiert sich allein durch dessen Website und Marketingmassnahmen – Plakatwerbung, TV-Spots und seit Kurzem auch wieder über gedruckte Kataloge (und zwei physische Outlet-Stores). Das seit der Firmengründung 2008 international expandierende System bedingt Lagerhäuser in Ostdeutschland und entsprechenden Güterverkehr. Ein ähnliches Konzept verfolgt die ebenfalls 2008 gegründete chinesische Supermarktkette Yihaodian. Sie verkauft ihre Ware via Displays in Metrostationen. Diese zeigen ein Bild einer Auslage, wie in einem herkömmlichen Supermarkt. Per App kann der Kunde einen Code des gewünschten Produkts mit dem Smartphone fotografieren und sich die Ware via Internet nach Hause liefern lassen. Neben diesen Extremen gibt es allerhand Differenzierungen wie Bezahlung per Smartphone, Self-Check-out-Kassen in Supermärkten (die im angelsächsischen Raum schon wieder auf dem Rückzug sind – zu hohe Inventurdifferenzen), Apotheken mit virtueller Sichtwahl (realer Verkaufstresen, virtuelles Produktdisplay mit Touchscreen) oder elektronische Regaletiketten, die per App Produktinformationen liefern.

Vielversprechend ist die Entwicklung zur qualitativen Differenzierung anstelle von quantitativem Wachstum. Ein sinnliches Erlebnis kann nur der reale Handel bieten. Erfolgreich entwickelt sich momentan der Trend, das Einkaufen mit interessanten gastronomischen oder kulturellen Angeboten zu verknüpfen – gern auch unter Einbindung neuer Technologien. Das zeigen Beispiele wie die Concept-Mall «Bikini Berlin» (vgl. «Sexy, nicht arm», S. 28) oder eine Auswahl an aktuellen Shopdesigns in Barcelona (vgl. E-Dossier «Retail Architecture» auf www.espazium.ch).


Anmerkung:
[01] Tages-Anzeiger, «Frankenschock wird zum Detailhändler-Schock», 30.07.2015 (online)

29. Mai 2015 Markus Stucki
TEC21

Sonderbarer Solitär

Vor 50 Jahren starb Le Corbusier. Sein Zürcher Ausstellungspavillon Centre Le Corbusier / Museum Heidi Weber wurde zwei Jahre nach seinem Tod eingeweiht. Der Bau ist so komplex wie seine Entstehungsgeschichte.

Nicht weniger als eine Synthese von Architektur und Kunst hatte Le Corbusier (1887–1965) beim Entwurf im Sinn, einen Hybrid aus Ausstellungsbau und Wohnhaus (vgl. «Schöpferisches Destillat», S. 26), einen Prototyp seiner patentierten Stahlkonstruktion – kurz: ein gebautes Manifest. Es sollte sein Gesamtwerk verkörpern: die Überlegungen zu Raum und Proportion, Konstruktion und Farbgestaltung, zu Innenausbau und Möbeln, aber auch seine Kunst in Form von Collagen, Lithografien und Skulpturen.

Die Initiative für den Bau ging von der Zürcher Innenarchitektin und Galeristin Heidi Weber aus (Kasten S. 24). 1960 kam Le Corbusier zu einer ihrer Ausstellungen nach Zürich.[1] Bei einem Spaziergang durch den städtischen Park am Zürichhorn präsentierte sie ihm ihre Vision eines Ausstellungspavillons an diesem Ort. Kein Le-Corbusier-Mausoleum sollte es werden, sondern ein lebendiges Haus, gewidmet der Vermittlung von Werk und Ideen des Meisters.

Le Corbusier zeigte sich jedoch zunächst ab­lehnend: «Non, je ne ferai plus rien pour les Suisses. Les Suisses n’ont jamais été chic avec moi.»[2] Heidi Weber vermochte aber zunächst ihn zu überzeugen und dann auch die Stadt Zürich, die nach einigen Anlaufschwierigkeiten das Grundstück für 50 Jahre im Baurecht zur Verfügung stellte. Von 1961 bis 1967 entstand unter der langjährigen Bauleitung des Zürcher Architekten Willy Boesiger ein konstruktiv und funktional be­sonderer Bau, der weit über die Schweizer Grenzen strahlte – Le Corbusiers letztes geplantes und sein einziges in Stahl und Glas realisiertes Projekt.

Duale Funktion, dialektische Konstruktion

Das strukturelle Konzept, die Trennung in ein zweiteiliges, schützendes Stahldach und einen separaten Baukörper, hatte Le Corbusier bereits rund zwölf Jahre vorher angedacht – beim Entwurf des (nicht realisierten) «Pavillon des expositions temporaires pour la synthèse des arts majeurs» an der Porte Maillot in Paris.[3] Auch die Dimensionen seines Zürcher maison-musée beruhen auf dem Masssystem «Modulor», das Le Corbusier 1942 bis 1955 aufbauend auf den menschlichen Proportionen entwickelt hatte. (Das verwendete Rastermass von 226×226×226 cm entspricht der Körpergrösse eines 183 cm grossen Menschen mit ausgestrecktem Arm). Dieses Raster übertrug er sowohl auf die Ausstellungs- als auch auf die Wohnräume. Der 22.6×11.3 m grosse zweigeschossige Pavillon ist eine geometrische Demonstration, präzise und abstrakt, weit entfernt von Le Corbusiers restlichem Spätwerk, das von organischen Formen geprägt ist.

Auffallend ist die Unterteilung in ein wetterschützendes Stahldach (parapluies-parasols) auf sechs Stützen und die daruntergeschobenen Raumkuben (corps de logis), die keine Berührung mit dem Dach aufweisen. Die Tragstruktur entwickelte der Architekt gemeinsam mit dem Ingenieur Louis Fruitet (vgl. «Schirm und Skelett», S. 29). Untergeschoss und Erschliessungen (Rampe und Treppe) sind aus Stahlbeton, die Kuben aus Stahlprofilen, Glas und emaillierten Wandpaneelen. Der Bauprozess entsprach dieser Konstruktionsweise: Zuerst wurde das vorgefertigte gefaltete Stahldach auf das Untergeschoss gestellt, danach die Raumkuben autonom montiert. Diese von Le Corbusier patentierte Montage[4] kam hier erstmals zur Anwendung und bedingte eine kostenintensive Trockenbauweise: Die Winkelprofile mit über 20000 Edelstahlschrauben mussten sichtbar bleiben, um die Zerlegbarkeit des Systems zu demonstrieren. Der Innenraum wirkt trotz dem engen Stützenraster offen und bietet differenzierte Durch- und Ausblicke. Die sorgfältige Farbgebung und Materialisierung mit Holzpaneelen im Innern schaffen einen vielfältigen Hintergrund für Le Corbusiers Kunst.

1965, kurz vor seinem Tod, signierte Le Corbusier die Skizzen und Pläne für den Bau. In einem Brief an James Johnson Sweeney, den damaligen Direktor des New Yorker Guggenheim-Museums, urteilte er 1961: «Dieses Haus wird das kühnste, das ich je in meinem Leben gebaut habe.»[5] Als Le Corbusier im August 1965 77-jährig beim Schwimmen am französischen Cap ­Martin ertrank, übernahmen seine langjährigen Mitarbeiter Alain Tavès und Robert Rebutato die Planung.

Rezeption gestern, heute, morgen

Während sich die Fachwelt in Bezug auf die architektonische Bewertung des Pavillons anfangs eher verhalten zeigte, besuchten im Eröffnungsjahr 1967 über 47?000 Interessierte den Bau. Seither betreute Heidi Weber eine Vielzahl von Ausstellungen und Aktivitäten zum künstlerischen Werk Le Corbusiers.

2014 lief der Baurechtsvertrag aus, die Stadt übernahm den Bau und stellte ihn unter kantonalen Denkmalschutz (vgl. «Quer in der Landschaft», S. 31). In den Sommermonaten ist das Architekturjuwel jeweils für die Öffentlichkeit zugänglich und wird mit wechselnden Ausstellungen belebt.


Anmerkungen:
[01] Originalinterview in: Rassegno 3/1980, erneut (gekürzt) abgedruckt in Heimatschutz/Patrimoine 1/2014, S. 7 f.
[02] Tatsächlich war die Beziehung zur Schweiz nicht nur eine negative. Etlichen gescheiterten Projekten wie dem Völkerbundpalast in Genf (1927), verschiedenen Über­bauungen im Zürcher Seefeld und dem Direktionsgebäude der Schweizerischen Rentenanstalt (1933), ebenfalls in Zürich, stehen die Ehren­doktorwürden der Universität Zürich (1934) und der ETH Zürich (1955) gegenüber oder der Auftrag für das Schweizer Studentenwohnheim in der Pariser Cité Universitaire (1931–1933). Vgl. Schweizer Ingenieur und Architekt 11/1988, S. 313 f.
[03] Catherine Dumont d’Ayot/Tim Benton, Le Corbusiers Pavillon für Zürich, Zürich 2013, S. 30 ff., s. Buchhinweis S. 28
[04] A.a.O., S. 50 f., 54–55.
[05] Brief an James Johnston Sweeney, 27. September 1961, in: Jean Jenger, Le Corbusier. Choix des lettres, Basel 2002, S. 472–475. Vgl. Dumont d’Ayot/Benton, 2013, S. 18.
[06] Dumont d’Ayot/Benton, 2013, S. 21.

17. April 2015 TEC21

Strahlende Königin?

Hotelpaläste, Ferienhäuser, Ruinen, Leerstand – Aufbruch? Seit Anfang des 19. Jahrhunderts prägen starke Brüche Bautätigkeit und Tourismus auf der Rigi. Nun zeigen sich zaghafte Zeichen eines Neustarts.

Die Rigi wird auch die «Königin der Berge» genannt. Der Begriff geht auf eine Beschreibung des Einsiedler Stiftdekans Albrecht von Bonstetten zurück, der sie 1479 als «Montium Regina» und eigentlichen Mittelpunkt der Welt bezeichnete. Anders als die abenteuerumwobenen Drei- und Viertausender wie Eiger und Matterhorn liegt das Rigimassiv mit seinen maximal 1797.5 m ü.?M. in den Voralpen, in einer Insellage zwischen Vierwaldstätter-, Lauerzer- und Zugersee. Und der wohl grösste Unterschied: Die Rigi ist ein gezähmter, ein bebauter Berg.

Mythos und Zerfall

Die ersten Bergreisenden waren Pilger, die sich von der 1585 geweihten Felskapelle in Rigi Kaltbad und der rund 100 Jahre später erbauten Kapelle «Maria zum Schnee» in Rigi Klösterli Wunder erhofften. In der Felskapelle war die Pilgerfahrt mit einem Bad im namengebenden kalten Wasser der örtlichen Quelle verbunden – frühe Wurzeln der späteren Molke- und Wasserkuren.

Die touristische Reisetätigkeit auf die Rigi begann Anfang des 19. Jahrhunderts, als deutsche und britische Adlige, aber auch wohlhabende Zürcher zunächst noch zu Fuss, auf Pferden und Sänften den Berg entdeckten. Letztere finanzierten 1816 gar den Bau des ersten Wirtshauses auf Rigi Kulm. Damit setzte ein regelrechter Tourismusboom ein: Um den legendären Sonnenaufgang auf dem Gipfel zu erleben – dem wichtigsten Programmpunkt einer Rigireise –, musste man nun nicht mehr den mehrstündigen Aufstieg im Dunkeln ab Klösterli oder Kaltbad auf sich nehmen. Um dem Ansturm Herr zu werden, entstanden in der Folge weitere Gasthäuser in Klösterli und Kaltbad, und der Bau auf Kulm wurde erweitert, sodass bis 1825 bereits sieben Gastbetriebe mit 200 Betten existierten.

1837 ging die Dampfschifffahrt auf dem Vierwaldstättersee in Betrieb, was die Anreise erleichterte und sich in den Übernachtungszahlen niederschlug. Hatte die Schifffahrt die Nachfrage angekurbelt, liess sie der Bau der ersten Bergbahn Europas explodieren. Die Vitznau-Rigi-Bahn führte ab Mai 1871 von Vitznau über Rigi Kaltbad nach Rigi Staffel.[1] Vier Jahre später folgte die Arth-Rigi-Bahn mit einer Verbindung von Arth-Goldau nach Rigi Kulm. In kurzer Folge entstanden weitere Gasthäuser und die grossen Hotelpaläste der Belle Epoque – darunter Kurhaus Scheidegg (1840), Hotel Rigi Kulm (1847), Grandhotel Kaltbad (1849), Regina Montium (1856/57, Kulm), Hotel Bellevue (1874, Kaltbad), Grandhotel Schreiber (1875, Kulm) und Hotel Rigi First (1875). Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich das Angebot an Gästebetten auf 2000 verzehnfacht. Gut erschlossen, in gesunder Höhe und mit spektakulärem Ausblick – die Rigi als Inbegriff des Schweizer Aussichtsbergs war geboren.

Der Krieg und die anschliessende Weltwirtschaftskrise beendeten die goldenen Zeiten. Die ausländischen Gäste blieben aus, gleichzeitig manifestierte sich ein Schweizer Unbehagen gegenüber den in den Bergen als urbane Fremdkörper empfundenen Bauten der Belle Epoque und gegen die Eliten, als deren Sinnbild sie galten. Einige der Hotels auf der Rigi verfielen, andere wurden zu einfachen Pensionen rückgebaut. Jahrzehntelang befeuerte der 1905 gegründete Schweizer Heimatschutz eine Kampagne gegen die «verlotterte Erbschaft aus der schlechtesten Zeit des letzten Jahrhunderts».[2] Der Bund unterstützte die Initiative zum Um- und Rückbau der grossen Berghotels als Erwerbsmöglichkeit für die Arbeitslosen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. 1951 widmete der Heimatschutz den Erlös der jährlichen Schoggitaler-Verkaufsaktion der «Säuberung des Rigi-Gipfels». Von 1952 bis 1954 wurde das Grandhotel Schreiber abgerissen, auf dem ehemaligen Westflügel entstand ein neuer – heimatschutz- konformer und wesentlich bescheidenerer – Bau nach Plänen von Landidörfli-Architekt (und Heimatschutzbauberater) Max Kopp (vgl. Abb. links unten).

Rückzug ins Private

Der Wandel von der glamourösen Feriendestination zum Tagesausflugsziel hatte allerdings bereits in den 1930er-Jahren begonnen: Statt Grandhotels entstand Parahotellerie, man baute einfache Gäste- und Ferienhäuser, vor allem am Hang über Kaltbad. Auf den ausländischen Adel folgten die neuen bürgerlichen Eliten: Wohlhabende Zuger, Luzerner und Zürcher liessen sich hier ihre Sommerfrischen bauen.

Wie schon ihre Vorgänger beauftragten auch die neuen Bauherrschaften teilweise namhafte Architekten, darunter Alfred Roth, Werner Stücheli und Hans Vollenweider. Einer davon war der Obwaldner Heimatstilarchitekt Robert Omlin, der 1934 für die örtliche Hotelpionierin Rosa Dahinden das Kinderheim und spätere Hotel «Bergsonne» im Chaletstil errichtete sowie Ferienhäuser für den Hotelier Robert Stierlin (nach 1930) und den Zürcher Bauunternehmer Wilhelm Halter (1939). Ebenfalls ein Holzhaus entwickelte 1930 der Werber Paul O. Althaus gemeinsam mit der Holzbau Lungern AG, die das «Schnäggehüsli» als Fertighausmodell im selben Jahr auf der Wohnbauausstellung in Basel vorstellte. Dem Heimatstil eher kritisch gegenüber stand der Architekt und Gründer des Glarner Heimatschutzes Hans Leuzinger. Der Vertreter einer moderaten Moderne baute 1940 ein Ferienhaus für den Basler Rechtsprofessor und Sohn des gleichnamigen Bundesrats Robert Haab. Der Bau zeichnet sich durch die präzise Platzierung in der Landschaft sowie eine Mischung von ländlichen und modernen Elementen wie Laubengang und offenem Terrassenaufgang aus.

1959 baute der Zürcher Architekt Ernst Gisel für seine Familie ein «regelrechtes kleines Meisterwerk».[3] Das von aussen unscheinbar wirkende Häuschen überzeugt im Innern durch eine ausgeklügelte Raumkomposition. Vier Jahre später schuf Gisel die heute unter Denkmalschutz stehende Bergkapelle in Kaltbad. Besonders sind dabei vor allem die vertikale Raumfolge und die raffinierte Lichtführung. Ein weiterer Protagonist der Ferienhausarchitektur auf der Rigi ist Justus Dahinden, Enkel der bereits erwähnten Rosa Dahinden. Für seinen Vater plante er 1954 in Unterstetten das Zelthaus. Das erste realisierte Projekt Dahindens ist eine asymmetrische Dachpyramide auf Stelzen – die reduzierte Form ist ganz auf die Aussicht ausgerichtet und perfekt an die Witterung angepasst.

Trial and error

Ab Ende der 1960er-Jahre war die Bautätigkeit auf der Rigi vor allem durch fehlgeschlagene oder wenig gelungene Vorhaben geprägt. So plante in den 1990er-Jahren ein privater Verein zusammen mit einer Stuttgarter Unternehmensberatung auf Rigi Staffel das Projekt «Rigi Arche 2000». Die Vision scheiterte letztlich an den Finanzen: Die vorgesehenen 11.5 Mio. Franken für das Ausstellungsgebäude konnten nicht aufgebracht werden. Ein Beispiel für eine gestalterisch wenig überzeugende Lösung ist das Eventzelt, das seit 2007 auf Rigi Staffel anstelle des Hotels Rigibahn steht.

Irrungen und Wirrungen gab es vor allem im Dorfkern von Kaltbad. 1998 kaufte ein deutscher Investor das heruntergekommene Hotel Bellevue, einen der letzten Repräsentanten der Haute Hotellerie auf der Rigi. Geplant war ein Neubau mit Ferienwohnungen, den Wettbewerb gewann das Basler Büro Diener?&?Diener. Statt einer fulminanten Eröffnung zum Millennium folgte dem raschem Abriss und Baubeginn aber Stillstand: Ende 1999 wurde der Investor wegen krimineller Machenschaften verhaftet, übrig blieb bis 2006 die Bauruine als weithin sichtbares Symbol des Scheiterns.

Neben dem Bellevue gab es ein weiteres Sorgenkind, die 1962 bis 1964 anstelle des 1961 durch Brandstiftung zerstörten Grandhotels Kaltbad erbaute «Hostellerie» von Justus Dahinden. Die als Grossprojekt konzipierte und nur teilweise ausgeführte Anlage aus Hotel, Ferienwohnungen und Sportzentrum im zeitgenössischen «Mövenpick-Stil»[4] war 30 Jahre später sanierungsbedürftig, entsprechende Vorhaben scheiterten zunächst aber jeweils an der Finanzierung.

2005 präsentierte der Nebikoner Bauunternehmer Peter Wüest eine ehrgeizige Vision, Kaltbad als touristischen Hotspot neu zu erfinden. Dazu sollte neben der Instandsetzung der Hostellerie und dem Bellevue-Ersatzneubau ein Bergbad von Mario Botta gehören. Zwei Jahre später zog sich der Generalunternehmer zurück, es kam erneut zu einem Marschhalt. Erst mit dem neuen Gestaltungsplan der Gemeinde 2009, der eine Redimensionierung beinhaltete, sowie zwei neuen Betreibern kam wieder Schwung ins Projekt.[5] Im Juli 2012 wurde die renovierte Hostellerie, jetzt Hotel Rigi Kaltbad, eingeweiht, zusammen mit dem – leider enttäuschenden – Mineralbad. Dass beschnittene finanzielle Mittel die Planungen beeinflussten, ist offensichtlich: Statt atmosphärischer Dichte herrscht im Umkleidebereich Hallenbadflair, die Sauna ist karg und bietet statt Bergsicht freien Blick auf ein Wohngebäude. Auch der Granit der Fassade aus Domodossola passt nicht recht zur Nagelfluh der Rigi.

2014 folgte das neue Bellevue mit 18 Ferienwohnungen (Architektur Lischer Partner AG, Luzern). Jüngster baulicher Neuzugang und letztes Puzzleteil im Gestaltungsplan ist das im März eröffnete Bahngebäude der Rigi-Vitznau-Bahn (Strüby Konzept AG) – räumlich gelungen, aber in der Materialisierung (Fassade und Dach teilweise aus Kupfer) erneut ein zusätzliches Element in der ohnehin bereits heterogenen Erscheinung von Kaltbad. Berg und Bauten bleiben ein Konglomerat. Heute besuchen jährlich rund 600?000 Gäste die Rigi, ihnen stehen 300 Gästebetten zur Verfügung. Nach den Wirren der vergangenen Jahre gibt es Anzeichen für eine positive Zukunft. In der RigiPlus AG, die 2012 aus einem interkantonalen Projekt der Neuen Regionalpolitik NRP hervorgegangen ist, sind alle Akteure auf und am Berg vertreten. Das Ziel ist ein gemeinsamer Auftritt der zwei Kantone, neun Gemeinden, neun Bergbahnen und 40 Gastronomiebetriebe – damit die Königin wieder strahlt.


Anmerkungen:
[01] Konzipiert wurde sie 1869–1871 von Niklaus Riggenbach, Ferdinand Adolf Naeff und Olivier Zschokke. Zum Einsatz kam das nach Riggenbach benannte und in Frankreich patentierte Zahnradbahnsystem mit Leiterzahnstangen.
[02] Ernst Laur, Die Säuberung des Rigi-Gipfels – das grosse Talerwerk des Jahre 1951/52. In: Heimatschutz/Patrimoine, Bd. 46, 1951, S. 56.
[03], [04] Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Das kleine Haus auf dem Rigi – eine autobiografische Betrachtung. In: Bruno Maurer et al. (Hrsg.), Ernst Gisel Architekt, gta Verlag, Zürich 2010, S. 81.
[05] Bauunternehmer Rolf Kasper ist Besitzer von Bellevue und Hotel Rigi Kaltbad. Die Aqua-Spa-Resorts AG betreibt das Mineralbad & Spa Rigi Kaltbad.

21. März 2014 TEC21

Japanische Falten

Shibori, die jahrhundertealte japanische Textilfärbetechnik, ist in Europa angekommen. Junge Textildesigner entwickeln das Verfahren weiter: Statt Kimonos schmücken die Stoffe nun Haute Couture und Interieurs.

Landschaften aus Miniaturvulkanen, Spuren von Wind im Sand oder Stacheln einer Koralle – die Vielfalt an Formen und Mustern der japanischen Shibori-Stoffe scheint nahezu grenzenlos. Jahrhundertelang veredelten Shibori-Künstler in aufwendiger Handarbeit die Stoffe für Kimonos. In den letzten Jahren feierten die Textilien ihren Einzug in die zeitgenössische Mode, so in Kollektionen von Issey Miyake, Yohji Yamamoto oder Oscar de la Renta. Nun erobern sie auch die Innenräume: als Überzüge von Leuchten und als Wohntextilien.

Knautschen gegen Farbe

Shibori sind reservegefärbte Stoffe. Nähte oder sogenannte Abbindereservierungen (das enge Umwickeln einzelner Stoffpartien) verhindern, dass das Textil an diesen Stellen die Farbe annimmt. Je stärker der Stoff gepresst wird, desto weniger Farbe gelangt ins Innere der Faltung. Früher verwendete man dafür meist Indigo, Randen oder Färberkrapp, heute sind es synthetisch hergestellte Farben. Löst man die Reservierungen, zeigen sich in den Mustern die Spuren der Vorbehandlung – der Stoff behält die Erinnerung an die Form.

Der Begriff «shibori» umfasst sowohl die Technik als auch das fertige Produkt. Der Ursprung des Worts – der Infinitiv «shiboru» bedeutet «wringen, pressen, drücken» – betont allerdings weniger den Aspekt des Färbens als das, was vorher mit dem Stoff geschieht: Durch Falten, Knautschen, Heften, Flechten, Verdrehen und Zupfen kreieren die Shibori-Künstler eine dreidimensionale Form aus dem flächigen Textil. Ähnliche Verfahren werden in vielen Kulturen verwendet, so in Westafrika (adire), Indien (bandhani) oder in Malaysia (plangi). Im englischen Sprachraum ist die Praktik unter der Bezeichnung «tie-dying» bekannt. Nirgendwo ist die Technik jedoch so vielfältig und differenziert wie in Japan: Hier gibt es über hundert verschiedene Arten von Shibori. Für ein Werkstück benötigen die Handwerker 10 bis 20 Tage.

Abbinden statt applizieren

In Europa werden die auf diese Weise gefärbten Stoffe oft unter dem Begriff «Batik» zusammengefasst. Tatsächlich handelt es sich jedoch um zwei verschiedene Techniken: Beim Shibori wird das gewünschte Dessin über die Flexibilität des Stoffs, über das Eindrehen, Zusammenfalten oder Abbinden einzelner Stoffpartien erreicht. Bei der aus Indonesien stammenden Batik (mbatik = mit Wachs schreiben) trägt man Muster mit flüssigem Wachs auf den Stoff auf, die bedeckten Stellen bleiben anschliessend vom Färben ausgenommen. Im Gegensatz zu diesen Mustern, die sich durch Präzision und scharfe Kanten auszeichnen, wirken die Bilder des Shibori weich und leicht verschwommen.

Nach Japan gelangte das Verfahren etwa im 8. Jahrhundert aus China. Baumwoll-, Hanf- und Seidenstoffe für Kimonos wurden auf diese Weise veredelt. Im 19. Jahrhundert nahmen Produktion und Bedeutung der Stoffe ab, bis sie nach dem Zweiten Weltkrieg, auch durch die Adaption westlicher Mode, weitgehend in Vergessenheit gerieten. Erst in den 1980er-Jahren erlebte Shibori ein Comeback. Vor allem in Kyoto und in Arimatsu-Narumi, heute ein Teil der Millionenstadt Nagoya auf der Insel Honshu an der japanischen Ostküste, lebte die Tradition hingegen fort und wurde weiterentwickelt. Das Aufkommen synthetischer Stoffe wie Polyester erlaubt es heute beispielsweise, die dreidimensionalen Strukturen, die durch das Abbinden entstehen, über eine Hitzebehandlung zu fixieren. Die Transformation von flächigem Textil zu räumlichem Stoff eröffnet eine Vielzahl an neuen Gestaltungsmöglichkeiten.

Holz und Streifen, Sturm und Spinnen

Shibori umfasst drei Arbeitsschritte – Schablonieren, Binden, Färben –, die jeweils von einem Spezialisten ausgeführt werden. In einer ersten Phase wird das gewünschte Design auf einen Bogen Papier gezeichnet. Anschliessend hämmert der Shibori-Künstler entlang der Konturen kleine Löcher in das Papier. Diese Schablone wird nun auf den Stoff gelegt und mit Farbe bestrichen, sodass das Muster auf den Stoff gelangt. Die Konturen zeigen an, wo der Stoff in einem zweiten Schritt zusammengeheftet wird. Die unzähligen Varianten des Shibori lassen sich grob in vier Gruppen einteilen: Zusammenbinden, Heften, Falten und Wickeln (nachfolgend wird je ein Beispiel pro Gruppe erläutert). Häufig dient ein Holzständer (tesuji dai) als Hilfsmittel, vor dem man sitzend arbeitet. Je nach Technik ist dessen Spitze unterschiedlich ausgebildet (Abb. Seite 23).

Zusammenbinden: An Spinnweben erinnern die Muster des Kumo Shibori. Diese Technik ist eine der ältesten: Bilder aus dem 12. Jahrhundert zeigen diese Muster, oft sind sie auch auf Holzschnitten der Edo-Zeit (1603–1868) zu sehen. Dabei werden Partien des Stoffs mit einem Winkelhaken aus Metall zu kleinen Hörnern zusammengezogen und mit einem nassen Faden umwickelt (Abb. Seite 23 und Titelbild).

Heften: Mokume Shibori (Holzmaserung) besticht durch seine Gleichmässigkeit und den wellenförmigen Kontrast zwischen Hell und Dunkel. Um diesen zu erzielen, ordnet der Shibori-Künstler parallel zum Schussfaden verlaufende Heftnähte übereinander an. Jeder Faden wird am Ende verknotet, sodass sich der Stoff zusammenziehen lässt. Die dabei entstehende Faltung erinnert an ein Akkordeon. Beim Färben bleiben die Innenseiten der Falten von der Farbe unberührt, es bildet sich ein enges lineares Muster, das der Maserung von Holz gleicht (Abb. links).

Falten: Für das Tesuji Shibori (Streifen von Hand) benötigt man den Holzständer, in dessen Basis ein Bambusstab mit einer V-förmigen Öffnung an der Spitze fixiert ist. Der feuchte Stoff wird in Plisséefalten gelegt und mit einem Faden umwickelt. Der Handwerker legt die Spitze der Rolle in den Bambusstab, das andere Ende hält er straff, indem er darauf sitzt. Nun umwickelt er die Falten im Abstand von etwa 4 cm eng mit einem Faden.

Wickeln: Ein bekannter Vertreter dieser Technik ist der Arashi Shibori (Sturm). Dafür wird der Stoff – traditionell ist es ein 3.60 × 12.8 m grosses Kimonotuch – um einen 3.65 m langen, leicht konischen polierten Holzstab geschlungen. Der Stoff wird nun im Abstand von etwa 4 cm eng mit einem Faden umwickelt. Anschliessend wird er zusammengeschoben, sodass sich kleine Falten bilden, wo der Stoff zusammengedrückt wird. Nach dem Färben zeigt sich ein Muster, das an windgepeitschten Regen erinnert.

Nach diesen Vorbereitungsarbeiten kann der Stoff in einer dritten Phase gefärbt werden. Zum Schluss löst man die Reservierungen, und das Muster kommt zum Vorschein. Liegt der Schwerpunkt auf den dreidimensionalen Formen statt auf der Färbung, wird auf Letztere verzichtet, stattdessen erfolgt eine Hitzebehandlung.

Die Qualität des Zufälligen

Wie traditionelles Handwerk ganz allgemein hat auch Shibori stark an Bedeutung verloren. Zwei Jahre an einem einzigen Kimono zu arbeiten – früher durchaus üblich – passt nicht mehr in eine Zeit, die von Effizienz geprägt ist. Gleichzeitig findet vor allem in den Shibori-Zentren Kyoto und Arimatsu-Narumi eine Rückbesinnung auf die ästhetischen und haptischen Qualitäten der Stoffe statt. Neben aller Könnerschaft ist das Endergebnis auch dem unkontrollierbaren Moment zu verdanken, in dem die Farbe auf den Stoff trifft. Die Kombination aus profundem Wissen und Zufall lässt sich für die Weiterentwicklung der Technik ebenso nutzen wie für die hiesige Gestaltung von Räumen.