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Gebaute Emotionen
Neue Zürcher Zeitung

Untersuchungen zum Skulpturalen in der Architektur

13. Mai 2004 - Jürgen Tietz
Die Meinungen gehen auseinander: Für die einen bilden skulpturale Bauten wie das Grazer Kunsthaus von Peter Cook und Collin Fournier oder Norman Fosters gurkenförmiger Swiss Re Tower in London spannende architektonische Akzente, ästhetische Blickfänge, die zu Recht Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch gerade das diskreditiert diese Bauten in den Augen anderer - vor allem gewisser Architekten. Mit Blick auf Frank Gehrys Guggenheim-Museum sprechen sie abschätzig vom Bilbao-Effekt, von reiner Show- Architektur, die sich nicht um den Kontext schere. Kalt lässt skulpturale Architektur jedenfalls die wenigsten Betrachter.


Austausch zwischen den Gattungen

Auch die Architekturhistoriker beschäftigt das Verhältnis zwischen Architektur und Skulptur. Gerade einmal zwei Jahre sind vergangen, seitdem der Kunsthistoriker Klaus Jan Philipp sich dieser «fruchtbaren Beziehung» - so der Untertitel seines Buches - widmete. Dabei hat er in seinem auf einer Vorlesungsreihe basierenden Buch weit in die Architekturgeschichte zurückgegriffen und sich auch einzelnen Bauteilen wie den antiken Karyatiden und Atlanten oder der Bauplastik des Mittelalters gewidmet. Ging es Philipp um einen Versuch, Schnittstellen und Unterschiede zwischen Plastik und Architektur über die Epochengrenzen hin aufzuzeigen, so legt der Architektursoziologe Werner Sewing in seinem jüngst erschienenen Buch «Architecture:Sculpture» einen anderen Schwerpunkt. Wo bei Philipp in der Fülle des ausgebreiteten Materials gelegentlich die argumentative Schärfe verloren geht, beschränkt Sewing seine Fragestellung in dem einleitenden Essay auf die Entwicklung skulpturaler Formen in der Architektur seit der Französischen Revolution. Das hat seinen Preis: geht ihm dabei doch der wichtige Austausch zwischen den Gattungen Architektur und Skulptur verloren.

Die Anfänge der skulpturalen Architektur liegen im späten 18. Jahrhundert. Sie gingen mit der Loslösung vom Erbe Vitruvs einher, gegen das Etienne-Louis Boullée mit seiner Revolutionsarchitektur polemisiert hatte. Mit ihr begann eine autonome, sich auf stereometrische Grundformen ausrichtende Baukunst jenseits der tradierten Säulenordnungen, welche in Klassizismus und Historismus eine letzte Blüte erleben sollten. Mit seiner Veröffentlichung der lange vergessenen Entwürfe der Revolutionsarchitekten knüpfte schliesslich Emil Kaufmann zu Beginn der dreissiger Jahre ein direktes Band von der Epoche der Französischen Revolution zur zeitgenössischen Architektur - von Ledoux zu Le Corbusier.

Skulpturale Architektur (die dem Wortsinn nach im Deutschen besser als plastische Architektur bezeichnet werden sollte) besass ihren festen Platz in der vielschichtigen Moderne der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Deren - nachträgliche - Reduzierung auf eine soziale und technologische Avantgarde bezeichnet Sewing angesichts expressionistischer und organischer Strömungen, für die Architekten wie Erich Mendelsohn, Hugo Häring und Hans Scharoun stehen, folgerichtig als Mythos. Doch auch konservative Architekten wie Wilhelm Kreis mit seinem Burschenschaftsdenkmal bei Eisenach oder Bruno Schmitz mit dem Völkerschlachtsdenkmal in Leipzig bedienten sich um die Jahrhundertwende abstrakt-skulpturaler Formen zur Steigerung der Wirkung ihrer Bauten. Gleichwohl gab es zwischen Rationalisierung und Objektivierung zunehmend weniger Raum für skulpturale und expressive Ideen im Kontext der modernen Architektur, resümiert denn auch Sewing. Dasselbe gilt für die Avantgarde in der Sowjetunion, wo unter Stalin das «Laboratorium für Architektur» (Sewing) zugunsten der Vorherrschaft von sozialistischem Realismus und Zuckerbäcker- Neoklassizismus «geschlossen» wurde.


Kein eigenständiges Genre

Doch gerade die Vorliebe der Diktaturen für den Neoklassizismus öffnete der skulpturalen Architektur nach 1945 ein neues Zeitfenster. Carola Giedion-Welcker verkündete gar ein «Sculptural Age». Darin fügte sich trefflich die ausdrucksstarke Formensprache von Le Corbusiers Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp oder Hans Scharouns Spätwerk der Berliner Philharmonie ein. Doch damit ist noch keineswegs die ganze Bandbreite skulpturaler Architektur erfasst, die Sewing in dem Bildteil seines Buches vorstellt - der sich jedoch leider nur auf prominente Beispiele beschränkt: Den minimalistischen Monumentalismus eines I. M. Pei zählt er ebenso dazu wie die High-Tech-Architektur von Richard Rogers und das Pariser Centre Pompidou von Renzo Piano und Rogers. Damit verdeutlicht der Autor, dass skulpturale Architektur keineswegs ein eigenständiges Genre beschreibt, sondern die Grenzen der architektonischen Stile überschreitet. Keineswegs zwangsläufig monumental, wird sie vor allem durch die Aura des Nichtalltäglichen geprägt. Und die hat nicht nur ihre ästhetischen Reize, sondern ist - wie der Blick auf Gehry, Zaha Hadid oder Daniel Libeskind lehrt - inzwischen durchaus marktgängig. Zudem beschränkt sie sich nicht auf edle Bauaufgaben wie Museen oder Kirchen. Sie hat auch im Wohnungsbau ihren Platz. Nicht nur im ambitionierten Möbius-Haus von Ben van Berkels Un-Studio (Niederlande, 1998), das Sewing anführt, sondern in einer Vielzahl von Werken zeitgenössischer Architekten.

Mit den biomorphen und expressiven Entwürfen der neunziger Jahre erhält die Architektur der Gegenwart nicht nur reizvolle Anstösse. Auch die Visionen der Grossväter- und Vätergeneration von Bruno Taut bis Archigram kommen - dank den CAD-Entwürfen - zu späten Ehren. Gleichwohl ist Vorsicht geboten. Denn der Pfad zwischen einer gelungenen, plastisch geformten Architektur und dem architektonischen Super- GAU, der eher einem explodierten Hühnchen statt guter Architektur gleicht, bleibt schmal.


[Werner Sewing: Architecture:Sculpture. Prestel-Verlag, München 2004. 144 S., Fr. 100.-. - Klaus Jan Philipp: Architektur Skulptur. Die Geschichte einer fruchtbaren Beziehung. DVA, München 2002. 128 S. Fr. 120.-.]

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