Artikel

Neufert trifft Buster Keaton
Neufert trifft Buster Keaton, Foto: Christian Kühn
Spectrum

Der EUROPAN-Architekturwettbewerb suchte Auswege aus der baulichen Ödnis der sogenannten „Speckgürtel“. Ergebnis: Es gibt Alternativen zu den Stereotypen des tristen Stadtrand-Massenwohnbaus.

15. Mai 2004 - Christian Kühn
Eines der augenfälligsten urbanistischen Phänomene der letzten Jahre ist die Verwandlung der ehemaligen Stadtränder. Der Stadtplaner Thomas Sieverts hat dafür den Begriff der „Zwischenstadt“ geprägt, eine charakteristische Ansammlung aus Shopping- und Entertainmentzonen, Betriebsgebieten, konturlosen Wohnsiedlungen und einem entsprechend raumgreifenden Verkehrssystem. In der Öffentlichkeit ist zuletzt immer öfter vom „Speckgürtel“ die Rede. Diese Metapher ist durchaus treffend: die Stadt als Herr in mittleren Jahren, dem beinahe unvermeidlich der Speck um die Mitte wächst. Eine Zeit lang wird mit „Brust-raus-Bauch-rein“-Übungen vor dem Spiegel die Illusion der schlanken Linie am Leben erhalten, aber letztendlich fügt sich das Selbstverständnis der Schwerkraft. Die Stadt ist aus den Fugen, und wir haben uns daran gewöhnt. Amerikanische Stadtforscher stellen zwischen Fettleibigkeit und „Suburbia“ übrigens sogar eine direkte Beziehung her: Weil das Häuschen im Grünen dazu zwingt, auch die alltäglichsten Besorgungen mit dem Auto zu unternehmen, ist der Anteil der Übergewichtigen dort inzwischen signifikant höher als in anderen Siedlungsformen. So finde, meinte kürzlich Ellen Dunham-Jones bei einer Konferenz an der Kunstuniversität Linz, der „Urban Sprawl“ seine Fortsetzung im „Human Sprawl“.

Bemerkenswert ist, dass es sich dabei um kein großstädtisches Phänomen mehr handelt. Der Speckgürtel ist überall, selbst in kleineren Gemeinden mit ein paar tausend Einwohnern. Wer heute mit offenen Augen durchs Land fährt, findet die immer gleichen Strukturen des Gleichgültigen, Kommerzschachteln ohne Beziehung zur Umgebung, die sich nur durch ihre Firmenlogos unterscheiden. Ausnahmen wie die „M-Preis“-Märkte in Tirol - die daher durchaus zu Recht als einer der österreichischen Beiträge zur diesjährigen Architekturbiennale nach Venedig ausgewählt wurden - bestätigen nur die Regel.

Der Wohnbau, der sich im Speckgürtel ausbreitet, ist entsprechend trist. Auf der einen Seite gibt es die üblichen Einfamilienhausteppiche in immer engerer Parzellierung. Auf der anderen Seite nutzen viele Wohnbaugenossenschaften das Fehlen jeglicher Strukturvorstellung für diese Zonen zum Bau geradezu skandalöser Stereotypen, die ihren Bewohnern alles vorenthalten, was eine zeitgemäße Wohnung zu kaum höheren Kosten an Komfort, Offenheit und Schönheit bieten könnte.

Dabei bietet gerade das Fehlen von etablierten Strukturvorstellungen eine Chance für Innovationen. Es ist kein Zufall, dass einer der wichtigsten Architekturwettbewerbe Europas, EUROPAN, seit Jahren auf dieses Thema ausgerichtet ist. Der EUROPAN-Wettbewerb, zu dem junge Planer bis 40 zugelassen sind, hat sich seit 1988 zu einer Institution entwickelt, die neue Ideen zum Wohnbau erforscht, diskutiert und umsetzt. Gerade in der Architektur, in der oft nur von Einzelprojekt zu Einzelprojekt gedacht wird, ist der langfristige Aufbau eines internationalen Netzwerks zur Reflexion über Ziele und Methoden ein Beitrag, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. EUROPAN 7, der aktuelle Wettbewerb, dessen Ergebnisse letzte Woche beim EUROPAN-Forum in Athen diskutiert wurden, befasste sich mit dem Thema „Suburban Challenge - Urbane Intensität und Vielfalt des Wohnens“. Damit ist EUROPAN endgültig in „Suburbia“ angekommen, nachdem sich frühere Wettbewerbe mit „Der Stadt über der Stadt“, also der Verdichtung innerstädtischer Räume, und mit dem Thema „Zwischenorte - Architektur im Prozess der urbanen Erneuerung“ befasst hatten.

Das Besondere des EUROPAN-Wettbewerbs liegt in seiner Organisation. Ein wissenschaftlicher Beirat legt alle zwei Jahre ein Thema fest. Dann bewerben sich in den inzwischen 16 Partnerländern Städte, die entweder direkt über die Gemeinde oder bereits über einen Bauträger Grundstücke anbieten und zugleich die Finanzierung der Jury und der EUROPAN-Administration übernehmen. Aus dieser Liste werden dann vom regionalen EUROPAN-Büro - dem in Österreich Klaus Kada als Präsident und Bernd Knaller-Vlay als Sekretär vorstehen - die Partnerstädte für den Wettbewerb ausgewählt. Die Jurierung erfolgt zweistufig: Zuerst wird etwa ein Fünftel der eingereichten Arbeiten - insgesamt über 2000, allein für die österreichischen Standorte 168 - von den lokalen Jurys ausgewählt und dann bei einem europaweiten Treffen aller Juroren diskutiert. Dann erfolgt die Endjury in den Ländern, bei der jeweils ein Projekt zur Ausführung, weitere Projekte für die Publikation vorgeschlagen werden. Bisher sind europaweit 200 Projekte realisiert oder befinden sich - wie etwa ein Wohnbau in Innsbruck von Frötscher/Lichtenwagner, ein Preisträger des Jahres 1996 - in Realisierung.

Beim aktuellen EUROPAN-Verfahren wurden in Österreich Projekte in Wien, Graz, Salzburg, Innsbruck und Krems bearbeitet. Einer Umsetzung am nächsten ist das Projekt in Salzburg-Lehen, wo die Gruppe Nil (Herold/Touzimsky) Wohnen für Senioren mit anderen Nutzungen in einer offenen Großform zusammenführt. In Innsbruck wird das Siegerprojekt von „architektur bn“ (Bradic/Nizic) in Hinblick auf eine höhere Dichte überarbeitet. In Krems könnte auf der Basis der Projekte von Sammer/ Streeruwitz mit ihren „Vorstadtzutaten“ und den diagrammatischen Ansätzen von Müller/Quednau ein neues Konzept für ein erweitertes Planungsgebiet entstehen. In Wien hat das expressive Siegerprojekt von Pallarés, Castellanos und Molina (Alicante/ London) gute Chancen auf eine Weiterbearbeitung in einem „Optimierungsverfahren“, in dem zuerst die wesentlichen Qualitäten des Projekts generell spezifiziert und dann von Bauträgern unterschiedliche Varianten der Umsetzung ausgearbeitet werden. Am weitesten von konventionellen Vorstellungen entfernt ist das Grazer Projekt mit dem Titel „Das nachgeholte Treffen von Neufert, Tessenow und Buster Keaton: Situationismus 2003“ von Benze/Kutz. Für Spezialisten: Eine simple Hülle (Tessenow) wird mit einem Katalog an Elementen (Neufert) gefüllt, deren Programmatik jedoch etwas bizarr anmutet (Buster Keaton). Das Ergebnis lässt höchst vergnügliche Wohnkombinationen erwarten, die alle Standards sprengen.

Der EUROPAN-Wettbewerb beweist, dass eine Weiterentwicklung des Wohnbaus auch jenseits rein marktgetriebener Strukturen möglich ist und dass es noch genug Architektenteams gibt, die bereit sind, ihre Kompetenz dabei einzubringen. Ähnlich intelligente Verfahren auch außerhalb von EUROPAN zu fördern sollte ein öffentliches Anliegen sein. Immerhin fließt ja - in Form von Wohnbauförderung und bereitgestellter Infrastruktur - auch in die übelsten Beispiele des Massenwohnbaus öffentliches Geld.


[Details zu den österreichischen Projekten finden sich unter www.europan.at. Von 5. Juni bis 11. Juli stellt das Vorarlberger Architektur-Institut alle europäischen
Siegerprojekte aus (Dornbirn, Achstraße 1, Montag bis Freitag 9 bis 18, Samstag, Sonntag 11 bis 18 Uhr) und bietet ein Begleitprogramm mit Vorträgen und Diskussionen.]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: