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Architektur als Massstab der Demokratie
Neue Zürcher Zeitung

Zeitgenössisches Bauen in den arabischen Ländern

Folkloristischer Kitsch und Eklektizismus bestimmten lange Zeit die arabische Architektur. Doch mit wachsendem Demokratiebewusstsein und nicht zuletzt dank dem Aga Khan Award, einem der höchstdotierten Architekturpreise überhaupt, scheint sich zurzeit die Situation hin zu einem zunehmend kritischen Architekturdiskurs zu ändern.

11. Februar 2005 - Carole Gürtler
Seit ihrer Eröffnung vor zwei Jahren ist die Bibliothek von Alexandria das Wahrzeichen der ägyptischen Hafenmetropole. Die aussergewöhnliche Form des monumentalen, zur Hälfte aus dem Boden ragenden, zur Hälfte darin verborgenen, schräg gelagerten Rundbaus dominiert die Küstenlinie. Schwere Granitplatten, in die, als seien es moderne Hieroglyphen, Buchstaben von unterschiedlichen Alphabeten gehauen sind, umhüllen das Gebäude. Das Innere besticht durch eine zeitgemässe Infrastruktur mit Leseraum, Planetarium, Cafeteria und Ausstellungsbereichen. Konzipiert und umgesetzt wurde die Bibliothek vom norwegischen Architekturbüro Snøhetta in Zusammenarbeit mit den Architekten der lokal tätigen Firma Hamza Associates.

Der Aga-Khan-Architekturpreis

Unlängst wurde nun die Bibliothek zusammen mit sechs weiteren Projekten mit dem Aga Khan Award for Architecture ausgezeichnet. Der mit insgesamt 500 000 Dollar weltweit höchstdotierte Architekturpreis wird seit 1977 alle drei Jahre von der in Genf ansässigen Aga Khan Foundation als Würdigung herausragender Architektur in islamischen Ländern vergeben. Die prämierten Projekte müssen dabei beispielhaft sein, lokale Ressourcen nutzen und auf die Bedürfnisse und Werte islamischer Gesellschaften eingehen. Das eigentliche Ziel des Preises aber ist es, das Verständnis für islamische Kultur und deren Verbreitung zu fördern. Denn Architektur ist nach Meinung von Suha Özkan, dem Generalsekretär des Aga Khan Award, bei weitem die wichtigste künstlerische Ausdrucksform islamischer Gesellschaften.

Dem positiven Einfluss dieses Preises ist es anzurechnen, dass das Wettbewerbswesen in den islamischen Ländern wichtiger geworden und ein kritischer Architekturdiskurs in Gang gekommen ist. Gerade für die arabische Welt mit ihren grossen demographischen und städtebaulichen Veränderungen ist dies wichtig. Zentren wie Damaskus, Kairo oder Marrakesch, einst Hochburgen architektonischen Raffinements, werden immer chaotischer. Die Altstädte verkümmern, während die Vorstädte sich wie hässliche Geschwüre ausbreiten, ohne Mass, Plan, Regel oder Stil. Ihre Architektur ist pragmatisch, billig, auf das Notwendigste ausgerichtet und erschreckend lieblos.

Die Golfstaaten hingegen, die als Inbegriff arabischer Superlative gelten, haben in wenigen Jahren Städte aus dem Nichts gebaut und sich dabei ganz auf westliches Know-how verlassen. Die Folge sind Häuser aus Glas, Stahl und Beton, teils gute Architektur, teils blosse Zurschaustellung des Reichtums, vielfach ohne Bezug zum kulturellen Erbe und zur Umgebung. Oft werden hier die von Tourismusbauten her bekannten islamisierenden Architekturelemente wie Türmchen oder Spitzbögen gesetzt, im Glauben, der Tradition zu huldigen. Dabei hat diese Bauweise nichts mit der komplexen islamischen Architekturlehre zu tun, die auf der Einheit von Licht und Raum basiert.

Vor dem Schritt in die Gegenwart

Wenn auch die arabische Architektur auf ein ausgesprochen reiches Erbe zurückblicken kann und damit einen, laut Özkan, besonderen Stellenwert innerhalb der islamischen Baukunst einnimmt, hat sie doch den Schritt in die Moderne noch nicht wirklich geschafft. Das zeigt sich bereits bei der jüngsten Verleihung des Aga Khan Award for Architecture. Aus dem arabischen Raum wurde als Neubau einzig die Bibliothek von Alexandria geehrt. Die weiteren prämierten Werke stammen aus anderen islamischen Ländern. Darunter befinden sich Neubauten - von einer Primarschule in Burkina Faso über eine türkische Privatvilla bis hin zu den Petronas-Türmen in Malaysia -, aber auch die Restaurierung der Al-Abbas-Moschee in Jemen und ein Programm zur Wiederbelebung der Altstadt von Jerusalem.

Zurückzuführen ist das mässige Abschneiden der arabischen Länder auf mehrere Faktoren. Eklektizistisch und unkritisch ging man jahrelang vor, und noch heute wird mehrheitlich ein Stil gepflegt, der eigentlich keiner ist und der kaum auf lokale Gegebenheiten eingeht. «Es fehlen Gesetze und Behörden, die Bauwesen und Stadtplanung regeln», erklärt die libanesische Architektin Maha Nasrallah. Die Ausbildung ist mangelhaft und basiert auf einer überholten Vorstellung vom Architekten. Darin verkörpert nicht der Muhandis mi'mari, der entwerferisch und kreativ arbeitende Architekt, das Ideal, sondern vielmehr der Banna', der als Baumeister tätige Architekt. Die grossen Auftraggeber betrauen daher meist ausländische Büros mit wichtigen Projekten, weil die einheimischen Architekten oft nicht über das nötige Können verfügen.

Seit einiger Zeit gibt es aber Anzeichen, welche die arabischen Architekturkritiker hoffen lassen. Es ist das Umfeld, das sich verändert und eine für das Bauwesen durchaus stimulierende Dynamik fördert. Politische Bewegungen, fortschreitende Demokratisierungsprozesse und ein stärkeres Selbstbewusstsein üben wichtige Einflüsse aus. «Architektur ist ein Massstab für die Liberalisierung und den Pluralismus in einem Land», sagt Reinhard Schulze, Islamwissenschafter an der Universität Bern, der - ebenso wie der Basler Jacques Herzog - Mitglied der Wettbewerbsjury war. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade in Libanon die Baukunst dank Architekten wie George Arbid, Pierre Khoury oder Nabil Gholam durch Experimentierfreudigkeit auszeichnet. Ihnen und anderen, meist im Ausland ausgebildeten und oft auch dort lebenden arabischen Architekten wie Abdelwahed el-Wakil, Mohammed Makiya oder Elie Mouyal gelingt es, trotz Traditionsverbundenheit internationale Einflüsse aufzunehmen und daraus eine zeitgenössische arabische Formensprache zu entwickeln.

Spiel mit Fenstern und Türen

Schön lässt sich dies beim Salem-Haus von George Arbid verdeutlichen. Es handelt sich dabei um ein altes Gebäude, welches restauriert und erweitert wurde. Arbid baute einen Flügel an, der ähnlich hoch und breit wie der vorhandene Kubus, jedoch von diesem durch ein verglastes Atrium getrennt ist. Beide Mauerwerke sind aus Naturstein, doch der alte Teil besitzt eine roh behandelte Oberfläche, während die Fassade des Neubaus sandgestrahlt wurde. Ebenso raffiniert ist der Kontrast bei den Öffnungen. Das vorhandene Tor in der Form eines Spitzbogens trifft auf rechteckige, moderne Fenster im neuen Teil. Das Spiel mit Fenstern und Türen beherrscht auch el- Wakil. Für die Halawa-Residenz in Ägypten stützt er sich zwar auf vorhandene Muster, baut jedoch gleichzeitig neuartige Elemente ein, die modernen Lebensstilen und Bedürfnissen entsprechen. So ergänzen beispielsweise eine Loggia und ein Windfang den traditionellen Grundriss.

Derartige Lösungen sind selbstverständlich nur möglich, wenn sich Auftraggeber und Bauherr offen zeigen für Innovationen. «Eine neue Generation von jungen Auftraggebern, die ein viel besseres Verständnis für Architektur mitbringen, beginnt ihren Einfluss geltend zu machen», sagt Özkan. «Sie haben die Möglichkeit, die besten Architekten der Welt zu engagieren.» Norman Foster, Renzo Piano, Jean Nouvel und die gebürtige Irakerin Zaha Hadid, um nur einige zu nennen, waren oder sind in arabischen Ländern tätig. Kritische Stimme sprechen jedoch in diesem Zusammenhang bereits von einer neuen Form des Kolonialismus, die sich mittels Architektur ausdrückt. Auch das wohl aufsehenerregendste Projekt der arabischen Welt, das neue Ägyptische Museum bei Kairo, soll aufgrund eines internationalen Wettbewerbs von Ausländern, genauer dem irischen Büro Heneghan Peng, gebaut werden.

In Jordanien, Ägypten und - gemäss Mohamed Metalsi, einem Architekturfachmann am Institut du Monde Arabe in Paris - vor allem in Marokko gerät soziales und ökologisches Bauen zunehmend in den Fokus des öffentlichen Interesses. Vorbildliche Siedlungen werden realisiert, die auf intelligenten städtebaulichen und sozialen Planungen basieren und darauf zielen, der Armut und der religiösen Radikalisierung der arabischen Bevölkerung entgegenzuwirken oder der Landbevölkerung zeitgemässe Annehmlichkeiten wie Elektrizität und fliessendes Wasser zu bieten.

Die Weichen sind gestellt. Jetzt ist es an den Architekten und Auftraggebern, die neuen Entwicklungen zu nutzen und voranzutreiben. Das Wettbewerbswesen muss ausgebaut und vor allem in die Ausbildung muss investiert werden. Viele Fragen sind dabei offen. Von diesen steht eine im Zentrum: Wie lässt sich arabische Architektur auf heutige Lebensformen übertragen? «Es ist wichtig», betont Özkan, «dass die Vergangenheit nicht blind kopiert wird, sondern dass neue Wege gefunden werden.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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