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Baukunst im politischen Kontext
Neue Zürcher Zeitung

Winfried Nerdingers Aufsätze zu Architektur und Macht

16. März 2005 - Jürgen Tietz
Kaum ein anderer deutscher Architekturhistoriker hat sich so fundiert mit dem Bauen im «Dritten Reich» auseinandergesetzt wie Winfried Nerdinger. Aus Anlass seines 60. Geburtstags ist nun eine Sammlung seiner Aufsätze erschienen, die um die Themen Architektur, Macht und Erinnerung kreisen. Aufnahme in den Band fand auch Nerdingers einleitender Katalogaufsatz zur Ausstellung «Bauen im Nationalsozialismus» in Bayern. Diese nach Bauaufgaben gegliederte Schau bot 1993 erstmals einen Gesamtüberblick über das Bauschaffen der Nazizeit in einem deutschen Bundesland. Dabei arbeitete Nerdinger heraus, dass der kollektiven Nichtbeachtung der Naziarchitektur im Nachkriegsalltag eine «kunsthistorisch ideologiekritische Analyse» von Einzelobjekten gegenüberstand.

Es bleibt das Verdienst von Nerdingers bayrischer Bestandsaufnahme, umfassend aufzuzeigen, dass auch die Baupolitik in dem «alles dominierenden Hauptziel des NS-Staates, dem Aufbau von Rüstungsindustrie und Militär», lag. Mit differenzierter Argumentation und geschärftem Blick auf architektonische Details versteht es Nerdinger, in seinem Essay «Baustile im Nationalsozialismus: zwischen Internationalem Klassizismus und Regionalismus» jene Forschungsansätze zu widerlegen, die sich bemühen, die Naziarchitektur durch einen Vergleich mit zeitgleichen neoklassizistischen Strömungen der dreissiger Jahre zu verharmlosen oder zumindest zu relativieren. Sein Vergleich zwischen «Palazzo Littorio und Reichskanzlei» arbeitet im Gegenteil die architektonische Mittelmässigkeit etlicher nationalsozialistischer Projekte auf. Selbst die schiere Grösse von Bauten wie Albert Speers Neuer Reichskanzlei zeigt für ihn lediglich «eine neureiche Spiessigkeit sowie ein Protzen in luxuriösen Materialien».

Am Beispiel der Verwendung von Achse, Symmetrie und Monumentalität in den zwanziger Jahren sowie im «Dritten Reich» führt Nerdinger vor, dass bei der Bewertung von Architektur der Blick auf den gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang entscheidend ist. Nicht die Verwendung von Achsen an sich sei verdammenswert, sondern deren kultur- und gesellschaftspolitische Funktion. Gleiches gilt laut Nerdinger auch für die gläserne Architektur, die nicht von sich aus demokratisch sei. Dass solche Feststellungen weit mehr sind als blosse Binsenweisheiten, verdeutlicht ein Blick auf die jüngere deutsche Architekturgeschichtsforschung. Denn dort sind Tendenzen zu beobachten, die Architektur des «Dritten Reiches» nur unter stilistischen Überlegungen zu betrachten und sie dabei ihres politischen Kontextes zu entkleiden. Vor diesem Hintergrund kommt Nerdingers Aufsatz über «Giuseppe Terragni und die Verantwortung des Architekten», der in dem vorliegenden Band zum ersten Mal veröffentlicht wird, eine besondere Bedeutung zu. Verdeutlicht er doch, dass eine rein auf das Formenvokabular Terragnis ausgerichtete Würdigung seines architektonischen Schaffens eine fatale Verkürzung bedeutet. Architektur ist - wie jede Kunst - für Nerdinger stets in ihrem kulturgeschichtlichen und politischen Kontext zu bewerten. Auch in diesem Sinne bieten seine Essays eine dringend benötigte geistige Grundnahrung.

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