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Wie viel Spiel verträgt die Stadt?
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Vom Gründerzeitraster zum „Wiener Block“: „Lösungsorientiert und flexibel“ habe Karl Schiller die Bauordnung geprägt, befindet die Wiener Architektenkammer. Und verleiht ihm den Ehrenring.

11. Juni 2005 - Christian Kühn
Bauordnungsgesetze sind nicht unbedingt ein Lieblingsthema von Architektinnen und Architekten. Die Tatsache, dass sich ein Land von der Größe Österreichs neun unterschiedliche Bauordnungen leistet, ist inzwischen als Teil der österreichischen Folklore akzeptiert, an der nur im Rahmen einer Generalreform des Föderalismus zu rütteln wäre. Ansonsten gelten Bauordnungen als lästige Randbedingungen der Architekturproduktion, mit denen man möglichst geschickt umzugehen hat.

Umso erstaunlicher ist, dass die Architektenkammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland Ende Juni den ersten Ehrenring ihrer Geschichte an Obersenatsrat Karl Schiller verleihen wird, jenen Juristen, der seit über 40 Jahren - von 1964 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 - als Beamter der Gemeinde Wien maßgeblich an der Verfassung der Wiener Bauordnung beteiligt war. Als Begründung für die Auszeichnung wird einerseits das Bemühen Schillers genannt, in der Bauordnung möglichst große Freiheit der architektonischen Gestaltung zuzulassen, andererseits generell die Bedeutung des Gesetzes für die Entwicklung der Stadt in formaler wie funktioneller Hinsicht hervorgehoben. Die Wiener Bauordnung, die im vollen Wortlaut „Stadtentwicklungs-, Stadtplanungs- und Baugesetzbuch“ heißt, regelt nämlich nicht nur die Bautechnik und Mindestmaße für Raumhöhen, sondern ist zugleich gesetzliche Grundlage für die Stadtentwicklung inklusive Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung.

Wie groß die Bedeutung dieses Regelwerks für das städtische Leben ist, zeigt beispielsweise die Einführung der Schutzzonen in einer Novelle aus dem Jahr 1972, durch die besonders erhaltenswerte Gebiete der Stadt in ihren „prägenden Bau- und Raumstrukturen und in der Bausubstanz“ erfasst und unter Schutz gestellt werden können. Was auf den ersten Blick wie ein Gesetz zur erweiterten Denkmalpflege aussieht, war der Versuch, die Innenstädte vor Verödung und spekulativer Vernachlässigung zu bewahren, indem in diesen Zonen unabhängig vom Denkmalschutz der Abriss von Gebäuden verhindert wurde. Ebenso wichtig ist aber eine zweite Regelung, die auch die Nutzung der Immobilien in Schutzzonen insoweit einschränkte, als bestehende Wohnungen nicht oder nur zu einem sehr geringen Anteil als Büroflächen genutzt werden dürfen. Diese Beschränkung von Eigentümerinteressen hat der Wiener Altstadt das Schicksal vieler Innenstädte etwa in Deutschland erspart, die überwiegend kommerziellen Nutzungen dienen und nach Büro- und Geschäftsschluss schlagartig veröden.

Dass derartige Gesetze von Juristen nicht erfunden werden, sondern Ergebnis einer politischen Willensbildung sind, ist klar. Der Einfluss der Beamten darf dabei jedoch nicht unterschätzt werden. Die Architektenkammer begründet die Auszeichnung für Schiller vor allem damit, er sei „immer lösungsorientiert und konstruktiv“ gewesen und hätte prinzipiell nach Regelungen gesucht, die Spielräume zulassen. Die normative Kraft des Faktischen spielt dabei oft eine Rolle: Die ursprüngliche Formulierung der Bauordnung, Neubauten in Schutzzonen müssten sich an den Bestand angleichen, wurde nach der Errichtung von Hans Holleins Haas-Haus am Stephansplatz, das sich nur mit viel gutem Willen als „angeglichen“ charakterisieren lässt, dahingehend verändert, dass Neubauten sich auch „auf zeitgemäße Weise in das Stadtbild einordnen“ dürfen.

Ein Bereich, in dem die Schaffung von Spielräumen besondere Brisanz hat, ist die Stadtplanung. Mit einem Bebauungsplan kann die zukünftige Bebauung eines Grundstücks theoretisch bis ins Detail festgelegt werden, von der Baulinie, Bauklasse und dem Ausnutzungsgrad bis hin zu Details der Farbgebung oder der Gestaltung von Vorgärten. Das sichert ein bestimmtes Stadtbild, bietet aber auf der anderen Seite wenig Möglichkeit für Innovation. In der Wiener Bauordnung finden sich eine Reihe von Möglichkeiten, flexiblere Festlegungen zu treffen. Seit 1976 besteht die Möglichkeit einer sogenannten „Strukturwidmung“, in der im Prinzip nur die Maximalkubatur und Bebauungsfelder vorgegeben sind, die exakte Ausformung des Stadtraums aber der weiteren Planung überlassen bleibt. Bei Bauträgern ist diese Widmung allerdings keineswegs beliebt, da sie explizit weitere Ausnahmeregelungen ausschließt, etwa nach dem Paragrafen 69 für „unwesentliche Abweichungen von den Bebauungsbestimmungen“, der zu den Zeiten seiner liberalsten Handhabung Mitte der 1990er-Jahre bis zu 20 Prozent zusätzliche Kubatur bringen konnte und etwa den Millenniumstower um 20 Meter Bauhöhe (und damit sechs gewinnbringende Etagen) nach oben schießen ließ.

Eine Idee, diese Strukturwidmung auch auf den gründerzeitlichen Stadtraster zu übertragen, der sogenannte „Wiener Block“, wurde in einer Arbeitsgruppe aus beamteten Stadtplanern und externen Experten 2001 entwickelt und von den Architekten Mascha und Seethaler ausgearbeitet. Für zusammenhängende Grundstücke von mindestens 2500 Quadratmeter Fläche sollte die Möglichkeit bestehen, eine aufgrund der bestehenden Widmung ermittelte Kubatur anders zu verteilen, als es die Baulinien vorgeben. Eine Überprüfung des Projekts durch die Magistratsabteilung für Stadtgestaltung sollte sicherstellen, dass die Planung das Stadtbild bereichert und nicht beeinträchtigt. Eine solche Regelung könnte nordöstlich gelegene Parzellen sinnvoll bebaubar machen, aber auch energetisch effizientere Kubaturen und Ausrichtungen erlauben.

Dass diese Regelung sich bis heute nicht in der Bauordnung findet, liegt nicht zuletzt an den Bedenken auch vonseiten der Architektenschaft, ob die Stadtplanung, die sich ja um das „große Ganze“ zu kümmern hätte, damit nicht ihre wichtigsten Instrumente an private Interessen und deren ästhetische Vorlieben auslagert. Ein hohes Maß an Flexibilisierung, bei der viele Entscheidungen letztlich bei einzelnen Beamten liegen, braucht als Ergänzung eine Stadtplanung, die klare Ziele vorgibt, sich zu stadtgestalterischen Prinzipien bekennt und deren Erreichung möglichst transparent betreibt. Wien hat in der Stadtplanung seit den 1990er-Jahren eine Tradition des Sich-nicht-festlegen-Wollens, die alles möglich macht und auf die stadtplanerische Kompetenz der „unsichtbaren Hand“ der Marktkräfte vertraut.

Dass die flexibleren Instrumente, die unter Karl Schillers Ägide implementiert wurden, grundsätzlich sinnvoll sind, steht aber außer Zweifel. Vielleicht sollte die Architektenkammer die nächste Auszeichnung jenen Personen in der Wiener Stadtplanung versprechen, die auf diesen Instrumenten auch verantwortungsvoll zu spielen verstehen.

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