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Bergsee
Spectrum

Ein Wohnwagen, ein Whirlpool, ein Musikzimmer, eine Werksküche. Alles im offenen Gerüst. „Ad on“, die begehbare Skulptur auf dem Wiener Wallensteinplatz: nur ein weiteres Dauerspektakel auf einem öffentlichen Platz?

16. Juli 2005 - Christian Kühn
Als vor ein paar Wochen die ersten Teile des Gerüsts aufgestellt wurden, das heute den Wallensteinplatz im 20. Bezirk beherrscht, waren die Anrainer ein wenig ratlos: Ein 20 Meter hohes Baugerüst, wie es sonst bei der Sanierung von Fassaden verwendet wird, aber mitten auf dem Platz, weit weg von jeder Fassade, die es hätte einrüsten können? Aufgebaut wurde es von einer Gruppe von Architekturstudenten der Technischen Universität Wien, gefördert von einer Initiative der Stadt für „Kunst im öffentlichen Raum“, gesponsert von privaten Unternehmen, die Baumaterial und Maschinen zur Verfügung stellten. In diesem Gerüst verfangen haben sich auf unterschiedlichen Höhenlagen ein Wohnwagen, ein Whirlpool, ein Musikzimmer, eine Internetlounge, Toiletten, eine Werksküche und auf der höchsten Ebene ein winziger Bergsee mit künstlichen Seerosen und einem Felsen aus Kunststoff, über den man in ein Panoramacafé für zwei Personen klettert. Weil dort kein Ober mehr hineinpasst, kommt der Kaffee aus einem Münzautomaten.

Der Aufstieg lohnt sich offenbar trotzdem. 600 Besucher pro Tag klettern über die Stufen und Terrassen nach oben, und das Publikum ist genauso bunt gemischt wie die Versatzstücke des Wohnens, aus denen sich diese räumliche Collage zusammensetzt. Wer sich hier etwas länger aufhält, beginnt sich nach und nach wie in einem Haus ohne Wände zu fühlen, und bald kommen ihm die umgebenden Häuser mit ihren blickdichten Gründerzeitfassaden gar nicht mehr so selbstverständlich vor. Vielleicht wäre ein offenes Gerüst mit ein paar Biwakschachteln doch eine Alternative zu den „eigenen vier Wänden“, die schützen, aber immer auch einschließen? Für die Kinder, die mit Begeisterung in diesem vertikalen Erlebnispark herumtollen, ist diese Frage klar zu beantworten: Das Gerüst ist besser als jedes Baumhaus, und wenn man noch selbst daran weiterbasteln dürfte, wäre es der optimale Abenteuerspielplatz. Die anderen Besucher werden das Spektakel genießen und dann nach Hause gehen, vielleicht die Vorhänge aufziehen und sich fragen, warum sie von ihren Nachbarn eigentlich kaum mehr kennen als den Namen auf dem Türschild.

Für Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper, die für Konzept und Realisierung von „add on“ verantwortlich zeichnen, ist das delikate Verhältnis zwischen öffentlichem Leben und angeblich ausschließlich privatem Wohnen ein zentrales Thema. Im normalen Wohnalltag verdichten sich seit einigen Jahren zwei scheinbar gegenläufige Phänomene: Auf der einen Seite die völlige Auflösung aller Grenzen zwischen öffentlich und privat in den Spektakeln der „Big-Brother“-Inszenierungen, auf der anderen Seite eine immer stärkere Abkapselung der individuellen Wohneinheit als Fes- tung gegenüber einer bedrohlichen Außenwelt. Das „add-on“-Gerüst ist eine begehbare Skulptur, die darauf hinweist, dass gerade die Zwischenzonen und Hybride, in denen sich auch Zufälliges ansiedeln kann, die eigentliche Qualität des Wohnens ausmachen. Ein von Vitus Weh kuratiertes Rahmenprogramm von Performances über Vorträge und Modeschauen bis zu Filmvorführungen macht den Wallensteinplatz noch bis 31. Juli für 42 Tage zum kulturellen Zentrum des Bezirks. Für Künstler, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen, gibt es im „add-on“-Gerüst kleine Artists-in-Residence-Boxen, in denen für ein paar Tage halböffentliches Wohnen geprobt werden kann.

Inwiefern unterscheidet sich dieses Projekt von Dauerspektakeln wie etwa am Wiener Rathausplatz, die aus der Stadt einen großen Erlebnispark machen wollen? Auf den ersten Blick ist der Unterschied nicht groß: viele Menschen, viel Lärm, viel Licht. Auf dem Rathausplatz geht es um eine Umcodierung des öffentlichen Raums, der mit Macht und Autorität assoziiert wird, in einen Raum des reinen Spektakels. Trotz allen Wirbels bleiben die Besucher passive Zuschauer und Konsumenten. Die Aktion auf dem Wallensteinplatz hat dagegen zumindest den Anspruch und das Potenzial, die Besucher zum Nachdenken über ihre Position in der Welt zu bringen. Und weil sie trotz aller perfekten Logistik einen improvisierten Eindruck macht, vermittelt sie das Gefühl, dass die Welt gestaltbar auch für die ist, die nicht an irgendwelchen Schalthebeln der Macht sitzen.

Ob es sich dabei um eine Illusion handelt, sei dahingestellt. Peter Fattinger hat nach seinem Studium ein Jahr im Atelier von Joep van Lieshout (AVL) in Rotterdam gearbeitet, dem zurzeit eine Ausstellung im Wiener Museum für angewandte Kunst gewidmet ist. Lieshout hatte 2001 mit seinem Atelier einen „Staat“ als Kunstwerk gegründet. Auf eigenem Territorium baute das Kollektiv Nahrungsmittel an, sorgte für eigene Energieproduktion und Wohnmöglichkeiten. Als „AVL-Ville“ schließlich ankündigte, auch staatliche Errungenschaften wie Waffen und Bomben herstellen zu wollen, stoppte die Rotterdamer Stadtverwaltung das Projekt. Einiges von der Idee der improvisierten Selbstbestimmung hat sich in den Projekten Fattingers erhalten. Dass „add on“ letzte Woche von Sympathisanten des Ernst-Kirchweger-Hauses - eines seit 1990 besetzten Hauses in Favoriten, das letzten Herbst von der kommunistischen Partei an private Investoren verkauft wurde und nun wahrscheinlich vor der endgültigen Räumung steht - für einen Abend lang besetzt wurde, entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie.

Joep van Lieshout befasst sich inzwischen mit der Umkehrung seiner selbst bestimmten Welten. Werktitel wie „Der Disziplinator“ weisen in die Richtung eines gesellschaftlichen Alptraums, der zwar immer noch improvisiert wirkt, aber darum nicht weniger bedrohlich. Der „Disziplinator“ ist ein Arbeitslager für 72 Insassen, denen 24 im Drei-Schicht-Betrieb genutzte Betten zur Verfügung stehen. Ziel des Betriebs ist die Herstellung von Sägemehl durch die Bearbeitung von Baumstämmen mit kleinen Feilen.

Der fröhlichen Wohnskulptur am Wallensteinplatz ist im Unterschied zu solchen Inszenierungen ein Erfolg beim breiten Publikum sicher. Dass sie im Kunstdiskurs wenig Neues zu bieten hat, mag sein. Als Beitrag zur Durchlüftung des einigermaßen selbstgefälligen Wiener Wohnbaudiskurses hätte sie allerdings einiges beizutragen. Die Initiative „Kunst im öffentlichen Raum“ wird immerhin nicht nur von Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny, sondern auch von den Stadträten für Wohnbau und für Stadtentwicklung, Werner Faymann und Rudolf Schicker, getragen. Vielleicht finden die beiden Letzteren ja noch Zeit für ein Gipfeltreffen im Panoramacafé für zwei.

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