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Autistische Türme, diffuse Konturen
Spectrum

Ein windschlüpfriges Oval; ein lustiger Turm mit Schnabel; eine palmenbekrönte High-Tech-Skulptur; und welche Entwürfe sonst noch gegen Jean Nouvels Siegerprojekt für ein Hochhaus am Wiener Donaukanal angetreten sind.

10. September 2005 - Christian Kühn
Die nördliche Kante des Wiener Donaukanals zwischen Rossauerbrücke und Aspernbrücke könnte zu den besten Adressen der Stadt gehören: Es gibt Blick aufs Wasser, die Altstadt liegt gleich gegenüber, und die Verkehrsanbindung ist erstklassig. Das dennoch bis heute eher bescheidene Image des Gebiets lässt sich aus der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg erklären. Zwar hatte es radikale Vorschläge zur Modernisierung gegeben, etwa von Lois Welzenbacher, realisiert wurde jedoch eine unglückliche Mischung aus gründerzeitlicher Parzellierung und einigen großvolumigen Einzelobjekten. Dazu kommt das niedrige technische und gestalterische Niveau der meisten Bauten, wie es für die unmittelbare Nachkriegszeit in Wien typisch ist.

Georg Lipperts Zentrale der ehemaligen Bundesländerversicherung von 1961, ein parallel zum Donaukanal breit gelagerter Quader, wirkte in diesem Umfeld zur Zeit ihrer Entstehung geradezu progressiv. Zur Rechtfertigung der größeren Bauhöhe ist das Gebäude hinter die vordere Baulinie gerückt; man schenkte damit der Stadt eine wenig einladende „Plaza“ Richtung Schwedenbrücke. Lipperts Bau war aber signifikant genug, um Hans Hollein bei seinem 2001 fertig gestellten Media-Tower als grundsätzliche Referenz für Bauhöhe und Fassade zu dienen.

Dass Hollein seinen Nachbarn mit einem leicht geneigten Glasturm an Höhe noch übertreffen durfte, lag schlicht daran, dass die Stadt Wien über kein stadtgestalterisches Konzept für dieses Gebiet verfügte. (Wenn man von der ziemlich allgemeinen Festlegung der Hochhausstudie absieht, dass an hochrangigen Knoten des öffentlichen Verkehrs zusätzliche Verdichtungen möglich sind, solange sie keine Schutzzone beeinträchtigen.) Damit steht bei jedem Einzelprojekt eine Neuverhandlung der umgebenden Stadtstruktur mit dem Investor auf dem Programm. Besser als ein schlechtes Konzept mag diese Konzeptlosigkeit allemal sein. Trotzdem bedeutet sie nichts anderes, als bei jedem Projekt auf eine Architektur zu hoffen, die aktiv zur Stadtentwicklung beiträgt und nicht primär vom Interesse an Gewinnmaximierung getrieben ist.

Holleins schlanker Turm hat jedenfalls einen neuen Maßstab für die Höhenentwicklung am Donaukanal gesetzt, der sich inzwischen flussabwärts an der Aspernbrücke im neuen Hauptquartier der Uniqa - der Nachfolgerin der Bundesländerversicherung - schon in wesentlich massiverer und in Bezug auf die Umgebung weit weniger sensibler Form manifestiert.

Anlässlich eines jüngst entschiedenen Wettbewerbs durfte man gespannt sein, wie die nächste Etappe in diesem Prozess des kontinuierlichen Neuverhandelns des Stadtbilds ausgehen würde. Nach der Übersiedlung aller Mitarbeiter in die neue Konzernzentrale plant die Uniqa-Versicherung, Lipperts Bau abzureißen und auf dem Grundstück ein multifunktionales Gebäude mit Büro- und Hotelnutzung zu errichten. Der Bauherr lud 13 Architekten ein, in einem zweistufigen Verfahren Projekte auszuarbeiten. Eine wesentliche Vorgabe war die optimale Einbindung des Bauwerks in den zweiten Bezirk sowie die Förderung der Anbindung an die Innenstadt. Für den repräsentativen Standort sollte ein entsprechend repräsentatives Gebäude mit attraktiver und öffentlich zugänglicher Sockelzone in Vernetzung mit den umliegenden Straßenräumen entstehen. Zugleich sollte die Verschattung der benachbarten Fassaden gegenüber dem Bestand verbessert werden.

Die Wettbewerbsergebnisse, die noch bis 12. September im Architekturzentrum Wien ausgestellt sind, lassen sich in zwei Gruppen gliedern: autonome Großplastiken auf der einen und aus dem Kontext entwickelte Strukturen auf der anderen Seite. (Dass auch die Großplastiken auf den Standort reagieren müssen und dass jeder Kontextbezug auch über eine plastische Form hergestellt werden muss, schwächt diese Unterscheidung nicht prinzipiell). In einer speziellen Situation war hier Hans Hollein, der mit dem Media-Tower den Kontext vor Jahren wesentlich mitgestaltet hat und nun zu einer kraftschlüssigen skulpturalen Verbindung mit sich selbst ansetzte, die von der Jury aber schon in der ersten Stufe als überzogene Geste ausgeschieden wurde. Autonome Türme mit markanter Figur wurden von rund der Hälfte der Projektanten angeboten. In die zweite Stufe kamen ein windschlüpfriges Oval von Helmut Jahn, das an fast jeden Ort der Welt gepasst hätte, ein lustiger Turm von Gustav Peichl mit gießkannenartigem Hausschnabel und eine palmenbekrönte High-Tech-Skulptur von Richard Rogers. Warum sich die Jury das Urteil „Vergewaltigung des Orts“ ausgerechnet für die kompromissloseste Großskulptur, einen beeindruckenden oktogonalen Kristall von Adolf Krischanitz, der in der ersten Stufe ausgeschieden wurde, aufgespart hat, bleibt rätselhaft.

Die Entscheidung fiel am Ende zwischen einem sehr kultivierten Entwurf von Paul Katzberger, einer schräg gestellten Hochhausscheibe, und dem Projekt von Jean Nouvel, einem auf den ersten Blick wenig harmonisch wirkenden, leicht gekippten Block auf einem Sockel mit schräg geneigter Glashülle. Nouvel, der seine Arbeit immer schon als Generalangriff auf die autistische „autonome Architektur“ gesehen hat, stellt hier seine Meisterschaft unter Beweis, ein Projekt aus dem jeweiligen Kontext zu entwickeln und trotzdem einen absolut eigenständigen Beitrag zu leisten. Nouvel arbeitet nicht mit Baukörpern, sondern mit Linien und Flächen, die Sicht- und Beschattungslinien aufnehmen. Der Betrachter soll keine Gesamtfigur mehr wahrnehmen, sondern diffuse, scheinbar widersprüchliche Konturen, Spiegelungen und fließende Übergänge von Außen- und Innenräumen.

Wie Nouvel den Hoteltrakt, von zwei verspiegelten Pfeilern getragen, auf den Glaskörper kippt, wie er die Untersichten von Baukörpern zu Projektionsflächen macht, die weit in den Stadtraum hineinwirken, oder wie er die vier Fassaden des Hotels je nach Himmelsrichtung unterschiedlich ausbildet, stellt viele eingefahrene Regeln der Architektur auf den Kopf, ohne in eine selbstverliebte Virtuosenarchitektur abzugleiten.

Wenn Nouvel die Stimmungen, die er in seinen Zeichnungen andeutet, tatsächlich erreicht, könnten in diesem Gebäude Räume entstehen, die zu den innovativsten der letzten Jahre gehören und unsere Vorstellungen von Architektur verändern. Wer von der Umsetzung von Nouvels Projekten in Wien bisher ein wenig enttäuscht war, darf diesmal aufs Maximum hoffen: Bauaufgabe und Bauherr sollten für ein adäquates Budget sorgen. Und dass „die Materialisierung der Fassade mit der zuständigen Magistratsabteilung abzustimmen ist“, wie man im Juryprotokoll liest, wird das Projekt wohl auch überleben.

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