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Visionen am Tejo
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Grossprojekte für Lissabon

Die Weltausstellung von 1998 bescherte Lissabon ein neues Wohn- und Arbeitsquartier am Tejo. Danach aber war es in Sachen Städtebau in Lissabon ruhig, bis ein Plan vorgelegt wurde, gemäss dem internationale Architekten ganze Quartiere bauen sollen. Das ambitiöse Projekt würde Lissabon zu einer europäischen Metropole machen.

21. Oktober 2005 - Carole Gürtler
Im Rahmen der Expo 98 wurden von namhaften portugiesischen Architekten Ausstellungsbauten errichtet, die nach der Grossveranstaltung für Verwaltung, Kultur, Sport und Vergnügen zur Verfügung stehen und den Kern eines neuen, vom Oriente-Bahnhof Calatravas erschlossenen Quartiers bilden sollten. Doch nach der Weltausstellung gewannen Stagnation und touristisch kultivierte Melancholie wieder Oberhand, bis ein ganz neuer städtebaulicher Ehrgeiz aufhorchen liess. Die Stadt am Tejo machte einen neuen Versuch, sich den Anforderungen einer globalisierten Welt zu stellen, um mit anderen europäischen Metropolen um Attraktivität und Standortvorteil zu konkurrieren.

Nachdem die Mitgliedschaft in der Europäischen Union dem Land ganz neue Perspektiven eröffnet und Gelder zum Fliessen gebracht hatte, nahmen Wohnungsnot und Spekulation drastisch zu. Im Grossraum Lissabon leben heute 2,5 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Im Zentrum jedoch sinkt nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch die Lebensqualität. Die meisten Gebäude müssten restauriert werden. Doch die Eigentümer kümmern sich nicht darum, da die Mieten seit Salazars Zeiten eingefroren sind. Gleichzeitig bilden sich vor den Toren der Stadt Siedlungen, die jeder städteplanerischen Erkenntnis spotten.

Sanierungen und Neubauten

Um den Ausbau der Hauptstadt kontrolliert anzugehen, wurde ein entsprechender Plan ausgearbeitet. In der Hoffnung, die Tücken eines Masterplans umgehen zu können, entschied man sich für eine kooperative Stadtplanung, die eine effiziente und marktorientierte Umsetzung erlaubt. Der Hauptteil der Investitionen soll aus dem Ausland kommen. Der Plan sieht unter anderem die Belebung des Zentrums vor. 450 Häuser in den historischen Vierteln Baixa, Barrio Alto, Chiado und Alfama sollen teilweise oder ganz renoviert werden.

Erste Resultate lassen sich in der Rua de São Bento oder in der Rua Madalena besichtigen: Dort strahlen im heissen Sommerlicht bereits einige Häuser mit geputzter Fassade. Sie sind der Stolz der Befürworter eines neuen Lissabon und werden werbewirksam eingesetzt, um die Einwohner von den neuen städtebaulichen Ideen zu überzeugen. Es braucht solche Mittel, denn nicht alle sind von der Verschönerung ihrer Quartiere begeistert. Wegen der Renovationsarbeiten sind viele Bewohner gezwungen, ihre Häuser für einige Monate zu verlassen. Obwohl sie von der Regierung finanziell unterstützt werden, leiden die Betroffenen unter der Mühsal eines temporären Umzugs und fürchten, dass die Mieten steigen werden. Dass dies der Fall sein wird, ist sehr wahrscheinlich. Ein Gesetzesentwurf, der die Mietregelung lockern soll, steht nämlich schon zur Diskussion.

Unweit der Avenida da Liberdade, der Prachtsstrasse Lissabons, plant Frank O. Gehry die Bebauung des Parque Mayer, eines rund 18 000 Quadratmeter grossen, teilweise als öffentlicher Parkplatz genutzten Areals, auf dem ein ehemaliger Theaterkomplex steht. Gehry will die denkmalgeschützten Theatergebäude aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit einer dem Anschein nach einstürzenden Turmlandschaft verbinden. Darin sollen sich wieder ein Theater, aber auch ein Hotel, ein Shoppingcenter, ein Museum, eine Mediathek und ein unterirdischer Parkplatz befinden. Es entspricht dem Anliegen der Stadt-Strategen, Lissabon als moderne Kultur- und Eventstadt bekannt zu machen. Festivals, Modeschauen oder Designermessen sollen für internationale Aufmerksamkeit und zahlungskräftige Besucher sorgen. Eine Architektur, die von Stars wie Gehry entworfen wurde, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Sie soll der Stadt ein neues Image verschaffen und dem Stadtmarketing sowie dem Tourismus dienen.

Der Traum von Alcantara

Die spektakulärsten Projekte sollen jedoch ausserhalb des historischen Zentrums entstehen. Namhafte Architekten wie Alvaro Siza, Norman Foster, Jean Nouvel und Renzo Piano zeichnen verantwortlich für die Bebauung brachliegender Gelände im Osten und im Westen des Stadtzentrums. Am weitesten fortgeschritten ist «Alcantara 21», ein 43 Hektaren grosses ehemaliges Industriegebiet, das zu einem Wohn- und Geschäftsviertel umgewandelt werden soll, wobei Nouvel für die Uferzone und Siza für das dahinter liegende Terrain zuständig ist. Die alten Fabriken sollen als Büros und Geschäfte genutzt und 600 Wohneinheiten sowie drei neue Metrostationen erstellt werden. Die Ausgangslage ist nicht einfach. Das Gelände liegt in nächster Nähe eines stark befahrenen Viaduktes und ist durch Bahnlinien vom Ufer getrennt. Der Zugang zum Fluss ist jedoch wichtig, da sich seit der Expo 98 entlang des Ufers eine attraktive Promenade mit Restaurants und Bars entwickelt hat. Siza hat sich aus diesem Grunde für grosszügig angelegte Fussgängerbrücken, mittels welcher die Gleise auf angenehme Art überquert werden können, entschieden sowie für drei Türme unterschiedlicher Höhe und Form. Die Türme - rund, rechteckig und trapezförmig - schirmen das Gelände von der Autobrücke ab und bilden gleichzeitig das Wahrzeichen Alcantaras. Da ihre Höhe die bisher gültigen Vereinbarungen übersteigt, ist aber die Realisation noch ungewiss. Als Zeitrahmen für die Verwirklichung aller Projekte werden die nächsten zehn Jahre angegeben, obschon kaum ein Projekt im Detail ausgearbeitet ist. Durch Schnelligkeit, Flexibilität, Ausnahmeregelungen und Sonderbewilligungen, Attribute moderner Stadtplanung, hat sich Lissabon allerdings bisher kaum ausgezeichnet. Zudem hat der Plan seine grösste Verfechterin, die alte Regierung, verloren. Noch ist offen, wie leidenschaftlich sich die Sozialisten für die städteplanerischen Visionen ihrer Vorgänger einsetzen werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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