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Ares macht Andromeda an
Falter

Wien braucht Hochhäuser, Türme, Wolkenkratzer. Der Umgang mit ihnen ist aber nur teilweise geglückt.

14. November 2001 - Jan Tabor
Am 21. Mai 2001, einen Tag nach dem Wien-Marathon (an dem ich selbstredend nicht teilgenommen habe), ist mir endgültig aufgefallen, wie sehr sich Wien in den letzten zehn Jahren verändert hat. Auf dem Titelfoto des Standard war eine von Menschenmassen bedeckte Brücke zu sehen. Den vertikalen Gegensatz zu dieser kollektiven horizontalen Anstrengung bildeten die im Hintergrund gen Himmel strebenden neuen Hochhäuser, die man heutzutage bei uns „Tower“ nennt.

Wien braucht Menschen, die gern Marathon laufen. Solche Menschen streben nämlich auch Marathonlebensläufe an, und das ist gut für eine Metropole. Die Marathon-Menschen wiederum brauchen für ihre Leistungen eine richtige Kulisse. Im ersten Augenblick hatte ich allerdings gedacht, es handle sich bei dem Standard-Foto um eine Aufnahme aus einer größeren australischen Provinzstadt. Dieser Eindruck kam nicht von ungefähr, denn im Vordergrund der neuen Kulisse auf dem linken Donauufer steht der Kaisermühlen-Tower des austroaustralischen Architekten Harry Seidler, der für seine australische Botschaft in Paris berühmt geworden ist und in Australien viele einprägsame Towers errichtet hat.

Als alter Fuchs unter den Wiener Tower-Erbauern hat Seidler allen Skyline-Konkurrenten die Show gestohlen. Seine städtebauliche Gesamtlösung für die völlig verfahrene Situation in der Gegend an der Reichsbrücke ist ebenso altmodisch wie genial. Er wusste: Wer den Brückenkopf besetzt, gewinnt den Kampf um die Skyline. Und: Wer hier eindrucksvoll bauen will, der darf sich nicht um die UNO-City kümmern.

Im Unterschied zu den anderen Tower-Architekten, die sich mit ihren möglichst glatten stereometrischen Baukörpern an der Wolkenkratzer-Formdoktrin der Sechziger- und Siebzigerjahre orientiert haben, geht Seidler mit der zu bewältigenden Wohnungsmasse offensiv um: Statt die immer gleichen Balkone, Loggien und Fensterbänder zu verstecken oder zu kaschieren, zelebriert er sie in einem expressiven Spiel zwischen scharf geschnittenen horizontalen Linien und dem vertikal gefalteten Baukörper, dessen weiße Wandflächen in starkem Kontrast zu den dunklen Fenster- und Loggieneinschnitten stehen. Von jedem Blickwinkel aus weist der barock bewegte Baukörper mit der expressionistisch neogotischen Spitze eine andere Gestalt auf.

Seidler, der sein Handwerk souverän beherrscht, ist kein Fehler unterlaufen. Nicht zuletzt, weil er die Bibel kennt und weiß: Der Erste wird der Letzte sein. Das ist Wilhelm Holzbauer passiert, der zwar ebenfalls ein alter Baufuchs, aber auch ein grundlegender Freund des Horizontalen ist. Mit dem Turmbau hatte er keine Erfahrung, und Städtebau zählt nicht zu seinen Stärken. Den Kampf um den ersten Bau auf der so genannten Expo-Platte, der zugleich der Kampf um den ersten Turm nach dem zu Beginn der Neunzigerjahre gelockerten Hochhausverbot war, hat er gewonnen. Die Platte war noch wüst, und die UNO-City beherrschte die Gegend uneingeschränkt. Holzbauer legte seinem Tower, der den hübschen Namen Andromeda trägt, die anmutige (also weibliche) Form einer Ellipse zugrunde, zog diese auf 115 Meter hoch (was der damals als ultimativ geltenden Höhe der UNO-City entspricht) und platzierte das Bauwerk so in die konkaven Flächen der UNO-City, als würde er es in den schützenden Schoß einer dicken Matrone legen. Ein verhängnisvoller Fehler: Der an sich eindrucksvolle Turm ist mittlerweile in den um die UNO-City angehäuften Baumassen verschwunden. Neuerdings wird das Mauerblümchentürmchen Andromeda von einem Tower-Kerl namens Ares (Architekt: Heinz Neumann) nachbarlich bedrängt. In der neuen Silhouette auf der Platte spielt die kantige Glaskiste keine hervorragende Rolle mehr. Die beansprucht noch immer der Mischek-Tower von Delugan Meissl.

Über Hochhäuser zu reden ist in Wien schon rein sprachlich ein Problem. Man weiß nämlich nicht so recht, ab welcher Höhe ein Hochhaus zum Turm oder gar zum Wolkenkratzer wird. Die nach wie vor gültige Wiener Bauordnung erklärt alle Häuser über 26 Metern zu Hochhäusern. Hätten Boris Podrecca und Gustav Peichl nicht einen „Millennium-Tower“ gebaut, sondern bloß ein „Jahrtausendwende-Hochhaus“, dann hätten sie mit derselben Form, derselben Höhe von 212 Meter und auf derselben Stelle mit ärgsten Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Im Wettlauf um den ersten Turm nach dem Turmverbot haben sie den zweiten Platz belegt und sind doch Erste geworden: auf der rechten, städtebaulich wichtigeren Donauseite.

Für den Millennium-Tower gilt das Gleiche wie für Seidlers Turm: Er steht städtebaulich absolut präzis. Formal keineswegs untadelig - der kantige Aufsatz sieht von manchen Blickwinkeln plump aus -, hat er doch die richtige Höhe, sodass er eine wirkliche Bereicherung des ansonsten extrem langweiligen Donauufers darstellt. Lobenswert sind darüber hinaus auch noch folgende Vorzüge: Der Turm steht gleich neben einem wichtigen Knotenpunkt der öffentlichen Massenverkehrsmittel (U- und Schnell-Bahn), sein unmittelbares Umfeld wird kommerziell und baulich intensiv genutzt und aufgewertet. Der Bezirk Brigittenau, der bisher keinerlei Höhepunkte aufzuweisen hatte und schon leicht zu verslumen drohte, bekommt plötzlich ein eindrucksvolles Wahrzeichen und ein eindeutiges Zentrum.

Damit erfüllt der Millennium-Tower exakt jene Forderungen, die Coop Himmelb(l)au in ihrer „Wiener Hochhausstudie“ aufgestellt haben, die im August 1991 erschienen ist, also zu einer Zeit, als die Towers noch Hochhäuser hießen. Ein ähnliches Meisterstück an städtebaulicher Präzision ist den Wiener Stadtplanern und den Architekten Nehrer & Medek in Ottakring gelungen. Man nützte die normative Kraft der neuen U6-Linie beziehungsweise ihrer Endstation, um dem Bezirk ein Zentrum zu geben, ein Assanierungsgebiet erfolgreich zu sanieren und auch gleich ein weithin sichtbares Zeichen zu setzen: ein Wohn-Hochhaus für die Krankenschwestern des AKH.

Aber Achtung! Unweit des Millennium-Tower ist auf dem sowohl für das Stadtbild im Donautal als auch für die unmittelbare Umgebung nicht wirklich wohltuenden Platz zwischen der Floridsdorfer Brücke und Floridsdorf der so genannte Florida-Tower errichtet worden. Architektonisch uninteressant - ein Verschnitt zwischen dem Andromeda- und dem Millennium-Tower, dem er offensichtlich Konkurrenz machen will -, steht er an einer falschen Stelle: weit entfernt von einer U- oder S-Bahn-Station, in einem gemischten und verkehrsmäßig bereits geplagten Gebiet, das man lieber in Ruhe hätte lassen sollen.

Angesichts dieser Fehlplanung beginnt man zu fürchten, Brigittenau und Ottakring könnten Ausnahmen, ja Zufälle sein. Denn von diesen zwei Bezirken abgesehen haben die Wiener Stadtplaner die so genannte Hochhausfrage genauso wenig im Griff wie vor zehn Jahren, als der Hochhausbau zugelassen wurde. Neben den prinzipiell richtigen, städtebaulich aber desperaten Bebauungen mit Hochhäusern, Türmen und Towers an der Wagramer Straße und auf der Platte wird das auch auf dem Wienerberg deutlich. Dort wurde das mit Abstand beste Bauwerk, das in den Neunzigerjahren in Wien entstanden ist, nämlich der Twin Tower des römischen Architekten Massimiliano Fuksas, zwar unübertrefflich richtig ins Stadtbild einer schlecht bestückten Stadtkante hineingesetzt. Allerdings steht er am falschen Ort und wird demnächst in einem Haufen von hochgezogenen Mittelmäßigkeiten verschwinden, die ebenfalls Tower genannt werden. Was für ein hoher Architektur-Maßstab der Twin Tower ist, sieht man, wenn man ihn an das benachbarte Businesscenter anlegt. Erst jetzt fällt dessen miserable Architektur von Atelier 4 so richtig unangenehm auf.

Die Frage ist, ob Wien Hochhäuser braucht. Die Architekten Pichler & Traupmann beantworten diese Frage radikal eindeutig: Wien brauche Türme, schon um überhaupt zu überleben - und zwar dort, wo sie städtebaulich benötigt werden. Den Gürtel etwa könne man nur dann sanieren und weiterentwickeln, wenn man dort Türme, etliche Türme, verschiedene Türme errichte. Die Rechnung ist einfach und wird am Beispiel eines besonderen Wiener Baumythos vorgeführt, des Karl-Marx-Hofes (der übrigens als eine Art horizontaler Wolkenkratzer betrachtet werden kann). Als der größte zusammenhängende Wohnhof 1927 eröffnet wurde, wohnten in den 1325 Wohnungen rund sechstausend Menschen. Inzwischen wurden viele der Kleinwohnungen zusammengelegt und auch die Belegziffer pro Wohnung ist drastisch zurückgegangen. Die riesigen Innenhöfe werden kaum genützt, die Infrastruktur ist verschwunden. Das Fazit der Architekten: Will man den Karl-Marx-Hof retten, so muss man mehr Menschen hineinbringen, muss man also verdichten. Und verdichten kann man nur, indem man Türme hineinbaut. Wegen der ideologischen Anschaulichkeit und um zu zeigen, wie unterschiedlich Architekturkonzepte für die gleiche Funktion und verwandte Ideologie sein können, setzten Pichler & Traupmann dem Karl-Marx-Hof die so genannten Wolkenbügel ein, die El Lissitzkij für Moskau zur gleichen Zeit entworfen hat. So wie es um den Karl-Marx-Hof stehe, so stehe es um ganz Wien. Und gleich sieht man: Die nie verwirklichten Wolkenbügel würden sich an manchem Ort in Wien ganz hervorragend ausnehmen. Für den Gürtel sind sie wie geschaffen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Falter

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