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Befreit den Rathausplatz!
Falter

Stadtessay. Der öffentliche Raum in Wien ist ver- und zugestellt oder in Reservate verbannt. Die neue Stadtregierung sollte die Chance nützen, die Sozialdemokratie vom Odeur der Kunstspießbürgerlichkeit zu befreien.

16. Mai 2001 - Jan Tabor
Rudi, räum auf! Das Leiden der Wiener öffentlichen Räume am Horror-vacui-Syndrom ist kaum noch zu ertragen. Jetzt kann es nur besser werden. Der Frühling ist da und mit ihm das atavistische Putzbedürfnis, und auch eine zart getönte Morgenröte zeichnet sich am politischen Horizont Wiens ab.

Die beiden neuen Stadträte, Andreas Mailath-Pokorny für die Kultur und Rudolf Schicker für Stadtplanung, beide, wie man hört, aufrechte Sozialdemokraten, werden wohl die Gunst der Jahreszeit zu nutzen wissen und ihrer Partei einen unerlässlichen Dienst erweisen: Sie könnten es schaffen, die Sozialdemokraten von ihrem unverwüstlichen Kunstspießbürger-Image zu befreien. Sie sollen den kulturpolitischen Dienst an ihrer Partei damit beginnen, dass sie die öffentlichen Räume radikal befreien, indem sie diese wirklich öffentlich machen. Ungeheure Abwehrkräfte wären gegen eine mutige Entkitschung des öffentlichen Raumes in Wien mobilisierbar. Man soll dabei radikal denken und alles in Frage stellen, womit die Plätze (die in Wien ohnehin nicht besonders großzügig bemessen sind) in den letzten Jahren bestückt wurden. Alles, auch die notwendigen, aber leider künstlerisch misslungenen Denkmäler auf dem Albertina- und dem Judenplatz.

Zunächst aber soll man demonstrativ im Inneren des Rathauses beginnen. Dort im Innenhof befindet sich seit einigen Jahren eine mit vielen Muhr-Skulpturen bestückte synthetische Alpenalm, eine Art Extrem-Schrebergarten als Ökozelle. Sofort und demonstrativ aufräumen soll man auch unmittelbar vor dem Rathaus. Durch die unsagbar banalen Dauerinszenierungen auf dem Rathausplatz wird nicht nur der Platz auf Dauer devastiert und damit das Gesamtkunstwerk Ringstraße lädiert. Das Rathaus als Machtzentrum gibt auf diese Weise auch sein Kulturverständnis preis und das allgemeine Niveau im Umgang mit öffentlichem Raum vor. Der Rathausplatz ruft dauerhaft, und die ganze Stadt folgt wie verrückt. Alles ist möglich, bloß gute, zeitgenössische, kontroversielle Kunst nicht. Sie wurde aus der Stadt in abgesteckte, abgeschirmte und verwaltete Reservate verdrängt. Ins Museumsquartier etwa. Hier ist eine Gestaltung des Streifens vor den Stallungen im Gang, deren Desaster sich bereits jetzt abzeichnet.

Das unsagbare Ruinenloch am Michaelerplatz, gestaltet von Hans Hollein, soll rückgebaut werden. Die Mahlerstraße soll von Wilhelm Holzbauers seltsamer Überdachung befreit werden, und auch für die beiden kitschigen Schmuckpfeiler vor Gustav Peichls Eingang zum Kunstforum ließe sich ein besserer Platz finden: Man könnte sie als Jugendstilkarikaturen vor Peichls Karikaturmuseum in Krems aufstellen. Nach diesen demonstrativen Befreiungsakten könnte man allmählich mit behutsamer Zurückdrängung der überhand nehmenden Schanigärten, Verkaufsbuden und Eventeinrichtungen beginnen. Es muss eine Neubewertung des öffentlichen Raumes vorgenommen werden.

Der Schriftsteller Franz Schuh glaubt, dass das Wort Raum unvermeidlich sei. In seinem „topophilen Feuilleton“, das er unter dem Titel „Der Raum im All“ für das von dem Architekten Peter Hanousek mit der Hand geschriebene Buch „Raumdeutsch“ von Frantisek Lesak verfasst hat, meint Schuh außerdem, dass das Wort Raum derart vielfältige Ausdrucksqualitäten besitzt, um sowohl in der Alltagssprache als auch terminologisch einsetzbar zu sein. Der bekannte Wiener Topophile (etwa: raumliebender Mensch) Schuh beklagt die Anwendungsbeliebigkeit dieses Wortes nicht, auf das manche Menschen überaus allergisch (topophob) reagieren. Zum Beispiel der Architekturtheoretiker Dietmar M. Steiner, der kürzlich in seinem Falter-Leserbrief die jubilierenden Raumplaner (30 Jahre Raumplanungsstudium an der Technischen Universität Wien) als Vertreter eines „unsäglichen Bastards“ von Disziplin bezeichnet hat. Viele Architekten, vermutlich die meisten, leiden an Topophobie. Die Wiener Stadtplaner an Horror vacui. Ich vermute, dass es ein nur scheinbar gefügiges, in Wirklichkeit aber ein hinterhältig aggressives Wort ist.

Der Raumtheoretiker und Raumkünstler Frantisek Lesak, Professor für Plastische Gestaltung an der TU Wien, hat es kürzlich aufgegeben, die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten des Wortes Raum weiter zu erfassen. Fünf Jahre lang sammelte er dieses merkwürdige deutsche Wort in all seinen Verknüpfungsvarianten in Zeitungen, Gedichten, Fachbüchern, Gesprächen etc. Als seine Sammlung, die er „Raumdeutsch“ nennt, den Umfang von 1.300 Einträgen erreichte, brach er ab. Er habe genug, sagt er, er sehe keinen Sinn mehr darin, weiter zu sammeln. Nun stellt er zwei Drittel seiner Sammlung - zusammen mit seinen anderen, höchst anregendenRaumexperimenten - im Künstlerhaus aus.

Lesak hat über 800 von einem Zufallsgenerator ausgewählte und gereihte Raumwörter an die Stirnwand des Stiftersaales anbringen lassen. Die monumentale dunkelblaue Schrifttafel beginnt militant mit „Raum des Kampfes“ und endet weitherzig mit „Raum des Geschehens“. Lesak will Postkarten drucken lassen, die jeweils eine der Raum-Wendungen und freien Raum für eine Zeichnung enthält. Verschiedene Menschen sollten von der vorgedruckten Raum-Wendung ihre jeweiligen Vorstellungen von Raum hineinzeichnen. Lesak meint, dass jeder Mensch seine eigenen, individuell unterschiedlichen Vorstellungen hat. Das dürfte stimmen. Ich vermute, Lesak ahnt längst, dass „Raum“ in Wirklichkeit einer der unzähligen Namen Gottes ist. Da hat er Angst bekommen und aufgehört zu sammeln. Deshalb erinnert seine Wand im Künstlerhaus auch an einen Altar - an eine abstrakte Version von Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle.

Schade, dass Frantisek Lesak keine verbalen Räume mehr sammelt. Gerade habe ich eine Wendung gefunden, die er garantiert noch nicht hat und die meine These vom göttlichen Ursprung des Wortes erhärtet: „Raum des Schicksals“. Im Katalog zur Ausstellung „Anna-Lülja Praun. Möbel in Balance“ wird aus dem 1922 veröffentlichten Aufsatz „Neue Wege in der Wohnungseinrichtung“ des Wiener Architekten Oskar Strnad zitiert: „Zunächst: die Begriffe Raum und Möbel klar auseinander halten! Raum ist Schicksal. Sich vom Schicksal befreien ist: Weg schaffen, Raum begrenzen. Das Möbel vom Raum unabhängig empfinden.“ Anna-Lülja Praun feiert ihren 95. Geburtstag. Das Strnad-Zitat illustriert kongenial ihre Arbeitsauffassung: Wiener Raumkunst der Zwischenkriegszeit. In den monumental kahlen Räumen des Wittgensteinhauses haben Lisa Fischer und Judith Eiblmayr zu Ehren der „Grande Dame der Innenarchitektur“ eine sehenswerte Ausstellung zusammengestellt. Sie ist eine Mischung aus Biografie und Werkschau, aus Entwürfen und Originalmöbelstücken - darunter die berühmte Sitzbank vor Kamin (1959) für Herbert von Karajan oder den viel bewunderten Arbeitspult (1980) für György Ligeti.

Statistik: Franz Schuh hat Recht. Dieses Wort ist nicht zu vermeiden. Unter den 972 Wörtern dieses Essays kommt „Raum“ 36-mal vor. Undenkbar, dass darunter nicht auch solche Exemplare zu finden sind, die in Frantisek Lesaks Sammlung fehlen. Vielleicht schreibt er uns ja einen Leserbrief.

Die Ausstellung „Raumdeutsch. Skizzen zur Architektur“ von Frantisek Lesak ist noch bis zum 20.5. im Künstlerhaus (1., Karlsplatz 5) zu sehen.

Die Ausstellung „Anna-Lülja Praun. Möbel in Balance“ läuft noch bis zum 24.5. im Haus Wittgenstein (3., Parkg. 18). Der von Lisa Fischer und Judith Eiblmayr herausgegebene Katalog (88 S., 150 Abb., öS 290,-) ist beim Salzburger Verlag Anton Pustet erschienen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Falter

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