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Wien hat den Durchblick
Falter

Die gute alte Auslage hat ausgedient. Die Schaufenster werden zu Schaubühnen, auf denen der Konsum selbst inszeniert wird. Der neue Transparenz-Trend hat aber mitunter architektonisch bedenkliche Folgen.

10. Januar 2001 - Jan Tabor
Was nach 1919 für die Wiener Austromarxisten der Margaretengürtel war, das war nach 1934 für die Wiener Austrofaschisten die Operngasse: das ideologische Schaufenster des neuen Wohnens, der neuen Wohnbaupolitik, der neuen, autogerechten Stadt, der neuen politischen Machtverhältnisse, des neuen Lebensgefühls insgesamt - die Via triumphalis des Schwarzen Wien. Dazu aber später.

Cartier, Chanel & Co.

Im Frühjahr des vergangenen Jahres habe ich mir bei Bundy Bundy das Haar und den Bart schön blau einfärben lassen, in einer Filiale, die sich im Hof eines Barockhauses in der Ballgasse befindet. Lediglich eine kleine, blau lackierte Blechtafel über dem Straßentor verrät, dass sich dort das Lokal eines der begehrtesten Frisöre der Wiener Society befindet. Davor, in den Achtzigerjahren, beheimatete der umgebaute Lagerraum im Hof eine der allerbesten Adressen moderner Kunst in Wien: die Galerie Peter Pakesch. Auch sie war sehr schwer zu finden.

Längst ist alles anders. Mittlerweile fallen alle Schwellen. Der Luxus versteckt sich nicht mehr. Wohin man in Wien hinkommt und hinschaut: Die Wiener Schaufensterszenerie ist in Umbruch geraten. Aus dem Cafe Arabia am Kohlmarkt wurde kürzlich eine Filiale von Chanel. Das architekturgeschichtlich unersetzliche Cafe wurde 1950 von Oswald Haerdtl eingerichtet. Im einstigen Thonet-Verkaufslokal gleich gegenüber, von Eva und Karl Mang 1971 vortrefflich gestaltet, nistet sich die Filiale einer anderen internationalen Boutiquenkette, Luis Vuitton, ein und trägt damit zur beschleunigten Globalisierung der Sockelzonen in den Straßen der Wiener City bei. Aus der in den Siebzigerjahren von Anton Schweighofer ebenfalls vortrefflich gestalteten, legendären Kunstgalerie Würthle ist eine Prada-Filiale geworden. Das traditionsreiche, 1886 gegründete Herrenausstattungshaus E. Braun & Co an der Ecke Kohlmarkt/Graben ist wegen Umbaues eingezäunt - die Zaunwerbetapete kündigt die baldige Eröffnung einer Cartier-Filiale an.

Und so weiter. In den Zentren der Metropolen wird das Window-Shopping allmählich standardisiert: In von denselben Firmendesignern umgebauten und gleich gestalteten Filialen wird überall die gleiche exklusive Massenluxusware feilgeboten.

Bemerkenswert ist, dass die Gestalter der sich weltweit rasch verbreitenden Weltmarkenketten dem alten konservativen Prinzip der klassischen Schaufenster-Schwellenarchitektur nur zögernd abschwören und dem neuen Trend der avantgardistischen Transparenzschaufenster-Architektur nur zögernd folgen. In den voll verglasten Weltmarken-Schaufenstern verstellen meist Paravents den schnellen Einblick in das Innere des Geschäftes, in dem - wie man stets durch schmale Schlitze sehen kann - nur wenige, offensichtlich ungemein wertvolle Verkaufsartikel zelebriert werden, als wären es Reliquien würdiger Weihestätten. Dieses Weltmarken-Getue ist seit mindestens zwei Jahren passe. Das Flair, das die Filialen in den Straßen der Wiener City verbreiten, wirkt mehr abgestanden als mondän.

Die neue Transparenz

Auch das traditionelle Wiener Schaufenster, die so genannte „Auslage“, ist passe. Die psychologisch, um nicht zu sagen psychoanalytisch raffiniert verfeinerte architektonische Gestaltung, die dafür sorgen soll, dass nur derjenige das Geschäftslokal zu betreten wagt, dem dies zusteht, ist out. „Schwellenarchitektur“ nannte Günter Feuerstein dieses Portal- und Lokaldesign. Der Herrenausstatter Knize von Adolf Loos oder der Juwelier Schullin von Hans Hollein, beide am Graben, sind Beispiele für jene Ästhetik der Lokale für Ausgewählte und Eingeweihte, die bei allen anderen Menschen sofort und verlässlich das unangenehme Gefühl hervorzurufen vermögen, das man Schwellenangst nennt. Alles passe.

In den neuen Schaufenstern ist unvergleichlich mehr zu sehen, als man gewohnt war: beinahe alles, was drinnen ist und sich dort abspielt. Die neuen Schaufenster sind keine Schaufenster mehr, es sind Glashäuser. Die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, wie der Kulturtheoretiker Georg Franck die bewegende und prägende Kraft der Gegenwartskultur nennt, prägt auch den gegenwärtigen Schaufenstertrend. Kaufen allein macht nicht mehr glücklich. Allein das Wahrgenommenwerden vermag die neue Glückseligkeit zu stiften.

Die Angehörigen der Zweidrittelgesellschaft, besonders die jungen, halten es mit Oscar Wilde: Auch sie können auf alles verzichten - außer auf den Luxus. Sie lieben den preiswerten Luxus und genießen die erschwingliche Erotik des Konsums. Sie wollen, dass ihre frische Konsumverliebtheit und ihre hedonistische Genussfähigkeit sowie ihre offensichtliche monetäre Potenz öffentlich sichtbar werden. Und in den Geschäften werden nicht mehr Waren oder Dienstleistungen, sondern der Kunde und der Akt des Konsums selbst ausgestellt. Der Kunde im Augenblick des Konsumierens.

Wurde beim klassischen Frisör „Der Nächste, bitte“ aufgerufen, so könnte man in den transparenten Hairstudios die wartenden Kunden mit „Ihr Auftritt, bitte“ zum Styling bitten. Das Schaufenster ist im Begriff, endlich das zu werden, was es eigentlich immer schon sein wollte: eine Schaubühne. Wir, die unbekannten Passanten, sind das manchmal dankbare, manchmal gleichgültige Publikum - von Haarwäsche, Telefongesprächen oder Mahlzeiten, die uns völlig fremde Menschen in den völlig transparent gewordenen Szenelokalen einnehmen. Aber so wie die vollständige Transparenz der Schaufenster die Straße zum Mittelpunkt des urbanen Lebens aufwertet, so findet - zugleich mit der Demokratisierung des Luxus - die Entprivatisierung des Intimen statt. Die neue Schaufensterkultur holt bloß nach, was längst im Gang ist.

Dass Transparenz per se demokratisch sei, ist einer der zahlreichen Irrtümer der 68er. Vielmehr liegt der Transparenz etwas Rücksichtsloses zugrunde, vielleicht gar Faschistoides oder Faschistisches, auf jeden Fall etwas immanent Unfeines, Fragwürdiges, Unheimliches. „Il Fascismo e una casa di vetro.“ Der Faschismus, meinte sein Erfinder Benito Mussolini, sei ein Glashaus. Die FPÖ, ahmte Jörg Haider ihn nach, sei eine gläserne Partei. Dies nur nebenbei.

Schauplatz Operngasse

Stellenweise ist Wien eine einzigartige, um nicht zu sagen absurde Großstadt. In keiner europäischen Großstadt geht das Zentrum derart abrupt und ohne Vorwarnung in die Peripherie über wie in Wien. Es ist so, als würde die Peripherie das Zentrum belagern wie einst die Türken; als würde die Peripherie wieder in die Innenstadt einzudringen versuchen, wo sie sich bis zu ihrer Erschließung mit der U-Bahn in den Siebzigerjahren bereits befunden hat. Stellenweise kann man sich auch über die entgegengesetzte Entwicklung freuen. Punktuell und in Ansätzen könnte es der Wiener City gelingen, in die sie umringende Peripherie einzudringen. Neuerdings ist dieses in europäischen Großstädten übliche, in Wien höchstens seltene Phänomen der Stadtentwicklung in der Operngasse zu beobachten. Nicht direkt neben der Oper, erst an ihrem Ende hinter dem Karlsplatz, nahe der die Operngasse kreuzenden Schleifmühlgasse, im so genannten Freihausgrätzl.

In diese noch immer recht verschlafene Gegend mit deutlicher Neigung zur Slumbildung zogen vor etwa einem Jahr einige der wichtigsten Galerien zeitgenössischer Kunst aus der City um: Kargl, Senn, König, Engholm, Trabant. Mit ihren transparenten Auslagen ermöglichen sie den Passanten den Galeriebesuch, auch ohne die Galerie betreten zu müssen. Sie verleihen dem so genannten Freihausviertel ein wenig vom Flair einer modernen Weltstadt. Davor waren einige Szenegastronomen da, nun folgen die Szenefrisöre - mitlerweile vier, fast nebeneinander.

Sollte die gegenwärtige Entwicklung anhalten, dann wird ein altes stadtpolitisches und urbanistisches Kalkül doch endlich aufgehen und die Operngasse zu einem Boulevard werden, der die City mit dem durch den Karlsplatz getrennten Margaretenviertel verbindet. Nach mehr als sechzig Jahren. Allerdings würde durch den Umbau der ursprünglich einheitlich gestalteten Schaufensterzone der zwischen 1936 und 1938 errichteten Wohn- und Geschäftshäuser ein einzigartiges, sowohl von der Öffentlichkeit als auch von Architekturexperten und Stadtgestaltern kaum beachtetes Denkmal der Wiener Baukulturgeschichte bis zur stilistischen Unkenntlichkeit und architekturgeschichtlichen Bedeutungslosigkeit lädiert werden: die Operngasse als die urbanistische Antithese des Austrofaschismus zu den kommunalen Wohnbauten der im Februar 1934 besiegten und entmachteten Sozialdemokraten.

Rotes und Schwarzes Wien

Der Margaretengürtel wurde als „die Ringstraße des Proletariats“ bezeichnet, neue riesige Wohnhausanlagen säumten die künftige breite Via triumphalis des Roten Wiens. Das Vorhaben des sozialistischen Stadtumbaues wurde Anfang der Zwanzigerjahre mit der Errichtung des Metzleinstaler- und des Reumann-Hofes begonnen, mit denen der Architekt Hubert Gessner, ein Wagner-Schüler und bekennender Sozialdemokrat, den „Volkswohnpalast“ erfand, der für den kommunalen Wohnbau des Roten Wiens als mustergültig gelten sollte.

Am Ende der Operngasse, an der Kreuzung mit der Schleifmühlgasse, steht ein staatliches Wohnhaus, das durch seine auf die so genannte „Stadttorwirkung“ zielende städtebauliche Platzierung und turmartige Gestaltung den Anfang der Operngasse markiert. Es ist das wichtigste Bauwerk des Wagnerschülers Franz Gessner in Wien und wohl auch das wichtigste von den wenigen Wohnbauten, die während des Ständestaates in Wien errichtet wurden. Ein wenig Tratsch: Franz Gessner (1879-1975) war der jüngere Bruder von Hubert Gessner (1871-1943) und ebenfalls Sozialdemokrat. Zuerst arbeiteten die beiden aus Mähren stammenden Architekten zusammen, zerstritten sich aber wegen einer Frau und blieben für den Rest des Lebens Feinde.

Der erwähnte Bau von Franz Gessner ist aus mehreren Gründen interessant. Der für die Wohnhäuser in der Operngasse mehr oder weniger maßgebliche Einfluss der italienischenArchitektur aus der Mussolini-Zeit ist hier am stärksten ausgeprägt. Und die für die Großstadtarchitektur der Dreißigerjahre charakteristische, der Ästhetik des Ozeandampfers entliehene Modernitätsgeste ist Gessner hier besser gelungen als beim Bärenhof der beiden Wagner-Schüler Hermann Aichinger (1885-1962) und Heinrich Schmid (1885-1949).

Tiefste Peripherie

Die Operngasse ist zwar eine Schutzzone, die Wohnhäuser aber stehen leider nicht unter Denkmalschutz. Vor etwa zwei Jahren wurde das beinahe im Original erhaltene, von Aichinger und Schmid gestaltete Bärenhofcafe (Cafe Janele) geschlossen und durch den Umbau zu einem der entsetzlichen Wettbüros („Sportwetten Admiral“) völlig zerstört. Für die Architektur der qualitätsvollen klassischen Moderne, zu denen die Bauten in der Operngasse unbedingt zu zählen sind, gilt: Oft selbst geringfügige unsensible Eingriffe können das labile Gleichgewicht ihrer Ästhetik erheblich beeinträchtigen oder gar zerstören. Als am anderen Ende der Operngasse der Teppichhändler aus dem Lokal auszog, wartete der für einen Szenefrisör tätige Architekt Klaus Ludwig mit einem Umbauentwurf auf, der die heikle Eckgestaltung zu beschädigen drohte. Dem Schutzzonen-Beauftragten der Stadt Wien, Dr. Milos Kruml, ist es jedoch gelungen, mit dem Umbauherren und Umbauarchitekten eine akzeptable Lösung zu finden. Das „Hair Concept Patricia Grecht“ in der Operngasse 25 ist nicht nur supertransparent geworden, sondern auch ein vortreffliches Beispiel dafür, dass man modernisieren kann, ohne die vorgefundene architektonische Qualität zu beeinträchtigen. Da werde ich mir demnächst mein Haar blau einfärben lassen.

Ende gut, alles gut? Leider nicht. Gleich gegenüber nämlich wurde ein wenig früher ein für das Stadtbild ebenfalls außerordentlich wichtiges Ecklokal ins Transparente umgebaut: Das von Architekt Wolfgang Rausch gestaltete Lokal „Point of Sale“ (Schleifmühlgasse 12-14) wurde an das rustikale, gänzlich untransparente „Johnnys Pub“ vis-a-vis stilistisch angepasst und das Eisenportal durch weinrot lackierte Holzstangen ersetzt, wodurch sich nun eine absurde Mischung aus Transparenztrend und nachempfundener Irish-Pub-Folklore ergibt. Ermöglicht durch den Auslegungsspielraum des Paragraphen 85/1997 der Schutzzonenvorschriften der Wiener Bauordnung wurde ein Stück Stadt in unmittelbarer Zentrumsnähe in tiefste Peripherie verwandelt. Entsetzlich.

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Für den Beitrag verantwortlich: Falter

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