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Perplex im Multiplex
Falter

Architektur zum Riechen: Wiens Multiplex-Kinos durchzieht der unwiderstehliche Duft frischen Popcorns. Und das ist nicht das Einzige, was die Entertainment-Bunker miteinander verbindet.

5. Juli 2000 - Jan Tabor
Überall: der warme Geruch von Popcorn. Besonders rein durchweht er das Apollo in der Gumpendorfer Straße und die Village Cinemas auf der Landstraßer Hauptstraße. Die Unverfälschtheit des Geruches hängt von der räumlichen Konstellation der jeweiligen Kinobaulichkeit ab. Die ist im Apollo-Kino deshalb so günstig, weil dort die Gänge eng, verwinkelt und zu einem einzigen riesigen Stiegenhaus verflochten sind, das das Aufsteigen von Dünsten aller Art begünstigt, die Durchlüftung hingegen beeinträchtigt. Außerdem verfälschen keine anderen Essensgerüche den Popcornduft, weil kein gastronomischer Betrieb mehr - etwa ein Altwiener Beisl oder eine Pizzeria - ins Apollo hineingepresst werden konnte.

Das traditionsreiche Apollo-Haus, das zwar wegen des theatralischen Gehabes seiner Gebäudeform (ursprünglich war es ein Kabaretttheater) und seiner bereits in der Zwischenkriegszeit amerikanisierten Fassade auf der hügeligen Kreuzung rundherum so prachtvoll mächtig und dramatisch erscheint, ist in Wirklichkeit ein verhältnismäßig kleiner Wiener Altbau und daher zu eng für einen echten Plex, wie etwa das Donau Plex in Kagran. Viel zu eng selbst für jene zwölf eher kleinen bis winzigen Kinosäle, die hineinzustopfen dem Architekten Walter Kral gelungen ist. Zwölf, immerhin. Und bereits 1993. Damals war das Apollo in Wien der erste Kinobehälter dieser Art. Eine architektonische Meisterleistung der Verschachtelung; ein wahres Wunder hinter der ausgehöhlten Art-deco-Fassade. Ein Wunder auch, dass diese zeitgenössische Interpretation (Postmoderne plus Memphisdesign) von Piranesis „Carceri“ bei der Baupolizei durchkommen konnte. Die Suche nach den Toiletten zum Beispiel gleicht dem Gang des Orpheus in die Unterwelt.

Der Geruch des Popcorns mischt sich hier im Apollo mit den Stimmen und Geräuschen der gerade laufenden Filmvorführungen, weil hier kein Platz für Kino-Vorzimmer übrig geblieben ist, die in den anderen Plex-Neubauten durchaus üblich sind und dem Betreten des dunklen Kinosaales die Würde eines sakralen Aktes verleihen. Für mich übrigens ist diese Mischung aus Kukuruzgeruch und Kinostimmen eine überaus bekömmliche, weil ich der Meinung bin (Kindheitserlebnisse aus den Fünfzigerjahren), dass vor Türen in Kinos stets die gerade gespielten Filme hörbar zu sein haben. So gesehen ist „Apollo / das kino“ - in der Aufschrift ist „das kino“ unter einem Bruchstrich und auf den Kopf gestellt angebracht - eine Ausnahme. Eine zweifache Ausnahme, genau genommen: Filmstimmen und keine Gastronomie, nur eine kleine Verkaufstheke. Reines Kino also. Sonst das gleiche Programm und der gleiche Plex-Kitsch wie überall.

Die Village Cinemas (Architekt Arthur Duniecki) sind einer jener in den letzten Jahren errichteten Konsum-Kino-Passagen-Bunker, deren Typologie noch im Werden ist und für die geltende Fachbegriffe noch fehlen. Geschickt wird man von den Kinokassen geradeaus und sehr eng an der mit Popcorn-Röstern und Coca-Cola-Zapfhähnen bestückten Theke vorbeigeführt, sodass man auch hier dem typischen Plex-Signal nicht widerstehen kann. Man kann nicht. Es ist ein pawlowscher Reflex. Der Geruch dringt direkt ins Unterbewusstsein ein und steigt als leicht süßliche Sehnsucht in den Kopf, Sehnsucht nach diesem Glücklichsein, dem wahrsten aller Kinobesuchsgefühle. Unterhalb der Cinemas in der Landstraßer Hauptstraße befinden sich außer einem kleinen Cafe keine weiteren gastronomischen Betriebe, dafür eine riesige Literatursupermarktfiliale von Amadeus. Und Bücher, insbesondere druckfrische, stinken kaum.

Auf der Ebene der Kinosäle und mit diesenüber eine geräumige Galerie unmittelbar verbunden befindet sich noch ein geräumiges und trotz einer Selbstbedienungsabteilung fast elegantes Lokal scheinbar gehobener Klasse, aus dem nichts Ordinäres zum Riechen herausdrängt. Von der erwähnten Galerie blickt man in die Buchhandlung wie in eine zerklüftete, verkarstete Landschaft (da übertreibe ich ein wenig). Und allmählich beginnt die Faszination der unüberblickbaren Menge zu wirken, obwohl es sich bloß um Kulturgut handelt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Menschen gibt, die nach dem Kinobesuch nicht ins Restaurant (mit seiner recht interessanten Speisekarte), sondern lieber hinunter zu den Büchern gehen; denn auch hier kann man sitzen, sogar in echten alten und bequemen Lesefauteuils. Das Büchersortiment ist stellenweise beachtlich (Filmliteratur), stellenweise miserabel (Kunst und Architektur), und das soeben eröffnete Village Center ist die Ausnahme unter den neuen Wiener Kinomultiplexcinemaxcentren.

In den anderen Kinoplexen gibt es zwar ein Übermaß an Lokalen, von einer Buchhandlung, und sei's auch eine ganz winzige, fehlt jedoch jede Spur. Das ist auch richtig so. Buchhandlungen gehören in Museen, nicht aber in Kinos. Der Film schließt das Buch aus und umgekehrt, das war schon immer so. Auch in der heroischen Pionierzeit des Kinos, als der Film noch Lichtspiel und das Kino noch Lichtspieltheater hieß, glich der Kinobesuch einem Theaterbesuch. Nach dem Theater ging man üblicherweise ins Restaurant, um dort zu essen, und nicht in eine Buchhandlung, um dort zu lesen. Auf eine Sinnlichkeit (des Zusehens) folgte eine weitere (des Essens) - und die Sinnhaftigkeit, über das kürzlich Genossene und das gerade zu Genießende gleichzeitig zu reden.

Diese Mischung der Genüsse bildet den eigentlichen psychosozialen Hintergrund des Phänomens namens Plex und ist keine kulturell neue Synergie, sondern bloß die Reanimation alter Erfolgsrezepte: Der Kinopalast aus den Dreißigerjahren wird ebenso verwertet wie das Premierenkino der frühen Sechzigerjahre und die klassische Genusskombination aus den Vorstadt- und Kleinstadtkinobuffets der späten Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts: Coca-Cola und Popcorn. Insofern stimmt die Architektur mit dem Inhalt überein: Es ist langweiliger, provinzieller Nutzbau, der nach Außen mehr signalisiert, als er drinnen tatsächlich leistet.

In der Kinopolis (Motto: „Mehr Kino geht nicht“), die sich im dritten Obergeschoß des Donau Plex (Architekt: Otto Häuselmayer) befindet (das äquivalente, etwa gleich große und gleich strukturierte Großgebäude aus den Achtzigerjahren heißt noch altmodisch „Donauzentrum“), werden Kids und Teens mit einem Lockangebot angesprochen, die diese massenhaft zelebrierte Verbindung von Essen- und Kinogehen vortrefflich illustriert: „Feier deinen Geburtstag im Kino! Du kannst dir als Geburtstagskind einen Film gratis anschauen und mit deinen Freunden bei Popcorn, Kuchen, Getränken anschließend feiern!“ Schwer zu sagen, ob man mit dem Film in die Gastronomie gelockt wird oder umgekehrt. Sieht man vom Apollo und den Village Cinemas einmal ab, so scheint der Kinobesuch jedenfalls bloß noch Teil eines gastronomischen Gesamterlebnisses zu sein.

Überall also dieser eigenartig angenehme Popcorngeruch (sogar im Künstlerhauskino, das freilich nicht in die hier betrachtete Kategorie gehört). Meist ist er mit dem Geruch von Pizza, Sushi oder anderen Speisen (falls diese überhaupt nach etwas riechen) und mit lauter Musik vermengt. Diese Mischung - die das Phänomen ergibt, das mit „Plex“ bezeichnet wird - ist in der „Lassalle Kinowelt“ (auch UCI genannt) auf der Lassallestraße besonders stark ausgeprägt. „Ihre Mittag-, Freizeit- und Abendinsel präsentiert sich jetzt neu: als Ess-, Spaß- und Filmtheater“, verkündet die elektronische Laufschrift am Eingang des neuesten Wiener Plexes. Man betritt einen dreischiffigen Konsumdom, in dem das Hauptschiff eine Passage ist und die Seitenkapellen mit kleinen Restaurants aller Art bestückt sind, die an die Jahrmarktbuden erinnern. Das Essen hier gleicht tatsächlich einem Theater: Sobald sie sich in den Restaurants niedergesetzt haben, werden die Besucher zu Akteuren, die von anderen Besuchern angeschaut werden.

Dass die Funktion „Filmtheater“ an letzter Stelle genannt wird, ist verständlich. Selbst unmittelbar vor dem Vorstellungsbeginn in den Kinos trifft man in allen Plexkinos nur wenige Menschen an, die Wochenendtage vielleicht ausgenommen. Dem Besuchin der Kinowelt haftet etwas Abgehobenes, ja Erhabenes an. Es ist die Ästhetik eines Separees für Massen, die hier geboten wird. Die Fußböden und zumeist auch die Wände sind mit weichen Spannteppichen bedeckt, am häufigsten in den erotischen Farbkombinationen Rot mit Dunkelblau beziehungsweise Schwarz. Spiegel. Popcorn- und Cola-Theken wie Bars auf einem Ozeandampfer.

Auf diese Weise wurden einst die Theater, Opernhäuser und Varietes sowie die besseren Stundenhotels ausgestattet. Der Rest der Einrichtung ist den Filmpalästen der Dreißigerjahre nachempfunden - dem Art deco, der Streamline-Ästhetik. Man wird an die Weltausstellung 1933 in Chicago und 1967 in Montreal erinnert. Stark bemüht, großstädtisches Flair zu erzeugen, beherrscht diese Bauten die reinste Nostalgiearchitektur, eine Art amerikanisierter Cinecitta, die beweisen soll, dass die glamouröse Filmwelt nicht untergegangen ist, und suggeriert, dass sie nie untergehen wird.

Der Kinopalast wurde also wiederbelebt. Der „Cineplexx Palace“, den der Architekt Harry Seidler in unmittelbarer Nähe der Reichsbrücke und im Vorfeld der von ihm errichteten Wohnhaussiedlung am Rand von Kaisermühlen gebaut hat, ist eine Ausnahme unter den Wiener Plex-Kinos. Während es sich bei der Kinopolis in Kagran bloß um eine Erweiterung des vorhandenen Shoppingzentrums und beim UCI Lassallestraße um einen Bestandteil der Passage handelt, ist der Cineplexx Palace ausschließlich dem Film gewidmet - in Verbindung mit Gastronomie und Spielautomatenhallen, die erst eingerichtet werden. Sieht man von einer kleinen Schmuckboutique auf dem Korridor vor den Kinoeingängen ab, die der ganzen anonymen Großkinowelt eine geradezu liebliche und persönliche Note verleiht, sind hier keine weiteren Einkaufsmöglichkeiten vorhanden.

Der Gebäudekomplex ist klar und einfach gegliedert. Die zur Reichsstraße hin orientierte Hälfte ist dem Kinobetrieb gewidmet. Der Gastronomietrakt ist als eine Querpassage angelegt und befindet sich auf der anderen Seite des kistenförmigen Gebäudes. Wobei es offensichtlich den Kleingastronomen überlassen wurde, welcher Einrichtungskitsch ihnen zusagt. Zwischen diesen beiden parallel ausgerichteten Bereichen befindet sich eine über alle zwei Obergeschoße gezogene Halle, die die beiden etwa gleichmäßig bedeutenden Bereiche verbindet und zugleich voneinander trennt und die mit einigen offensichtlich gehobenen Restaurants und Cafes bestückt ist.

Dieser gastronomische Teil ist mit gut 25 Meter hohen Filmkulissen bestückt, die den Hollywood- oder Ufa-Filmateliers aus der Anfangszeit des Filmes nachempfunden wurden: eine Kombination aus einem Rokokosalon, einem römischen Palast mit Säulenarkaden und der unterirdischen Fabrik aus Fritz Langs „Metropolis“. Reiner, wunderbar aufrichtiger Kitsch. Kitsch als Manifest. Kulissen als Metakulissen. Die Teilung, die auch eine Art Arbeitsteilung unter einem Dach ist, funktioniert hervorragend. Während die Luft im Foodcourt mit den zahlreichen und recht verschiedenartigen Essensgerüchen übersättigt ist, sind die Kulissenrestaurants von geruchloser Atmosphäre. Im Kinotrakt mit den roten Teppichwänden und blauschwarzen Teppichfußböden riecht man wieder ausschließlich Popcorn, stark und rein. Praktisch ist die Farbkombination allerdings nicht. Nachdem die Besucher ihre Plätze in einem der 14 Kinosäle bezogen haben, muss der elegant uniformierte Cinema-Butler den Staubsauger in Betrieb nehmen. Verstreutes Popcorn sieht hier, in dem eleganten Kinopalast, wirklich scheußlich aus.

Wie spannend diese neuen Wiener Kinobunker sozialpsychologisch auch sein mögen (überall das gleiche), ästhetisch sind sie völlig uninteressant. Der billigen und banalen Bauweise entspricht die langweilige und altmodische Gestaltung, die den Geist einer Metropole vortäuscht, sich aber kaum von der architektonischen Einfältigkeit unterscheidet, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren die mittlere Provinz beherrschte.

Dass es auch anders geht, haben Coop Himmelb(l)au vor fünf Jahren mit einem völlig neuen Multiplex-Typus für Dresden bewiesen, dem Stolz der Stadt. Trotz Popstimmung und Jugendkult wird die neue Wiener Kinonostalgie den Hauch von Nekrophilie nicht los. Vielleicht drücken die Plex-Architekten bloß aus, was man diesen neuen Kinoriesen nachsagt: dass in Wien zu viele zu planlos errichtet werden und dem Kinosterben - das diese Plex-Ungetüme genauso gnadenlos beschleunige, wie einst die Supermärkte die Greißler erledigten - bald ein Plexsterben folgen wird, das auch die Stadtplanung vor große Probleme stellen wird.

Städtebaulich betrachtet ist der Cineplexx Palace eine Katastrophe. Scheinbar eine baulich kaum nutzbare Stelle einnehmend, verhindert der Bau eine städtebaulich ordentliche Lösung am Brückenkopf der Reichsbrücke, gerade dort, wo es für den neuen Stadtteil um die UNO-City besonders wichtig wäre. Nach außen sieht das Bauwerk wie ein Teil der bisher eher desperat als planvoll vorgenommenen Bebauung der Donaucity aus. Drinnen ist er eindeutig der anderen, nicht weniger eindrucksvollen Nachbarschaft zuzuordnen: der Copa Cagrana. Sonst wie überall: das gleiche Programm. Zutreffender wäre: die gleiche Speisekarte.

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