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Dort, in Transdanubien
Falter

Der Architekturfotograf Rupert Steiner war mit einer Großformatkamera im 21. und 22. Wiener Bezirk unterwegs, um die eigenartige urbane Semiotik dieser weiten und langsamen Gegend zu ergründen.

18. November 1998 - Jan Tabor
Kahle Fassade eines allein stehenden grauen Fertigteilhauses vor einer kahlen grüngrauen Wiese. Kleine braune Jugendstilkirche vor der graublauen konkaven Glasfassade eines riesigen Bürogebäudes. Weinkellerstraße. Rotgelb strahlende Werbesäule einer McDonald's-Drive-in-Filiale. Nackte Sonnenanbeter im grünlichen Schatten von Pappelbäumen. Kleiner hölzerner Würstelstand am Rande einer endlosen Erdäpfelplantage. Im Freien tanzende Pensionisten. Pensionisten, die im Freien Schach spielen. Kleines Ruderboot unter einer hohen, futuristisch-silbernen U-Bahn-Brücke. Ein Schotterteich mit Schotterbaggern und auf dem Schotter liegenden Badenden. Eine grüne Mulde mit mehreren kleinen Straßen und mehreren Ortstafeln mit der rot, diagonal durchgestrichenen Aufschrift „Wien“ nebeneinander. Großbaustelle mit vielen hohen gelben Baukränen. Ein allein stehendes erdgeschossiges Haus mit der großen Aufschrift „Fremdenzimmer“, davor der Schatten eines Kamerastatives und eines Mannes.

Der Schatten sieht wie ein altmodischer Pleinair-Maler mit der Staffelei aus. Es ist das Selbstporträt des Fotografen. Er steht abseits. Er ist fremd hier. Mit der Kamera macht er Aufnahmen, die als 20 mal 25 Zentimeter große Kontaktabzüge vom Farbnegativ ausgearbeitet werden. Diese Arbeitsweise erzwingt langsames, also bedächtiges Vorgehen. Die Bilder zeichnen sich durch besondere Tiefe und Schärfe aus, die durch die zentralperspektivische Komposition verstärkt wird. Er fotografiert, als würde er wie Caspar David Friedrich malen - seine Aufnahmen sind mittig komponiert und durch eine Horizontale meist in der Mitte aufgeteilt. Dadurch verleiht er seinen Bildern künstlerische Qualität und Handschrift und jedem Ort eine besondere, beinahe metaphysische Würde.

Die Ausstellung heißt „Transdanubien“. Leider habe ich dieses sympathische Fremdwort im Fremdwörterbuch-Duden nicht gefunden und im „Großen Groner Wien Lexikon“ auch nicht, sodaß ich nicht genau weiß, wo das ist beziehungsweise was das ist, dieses Transdanubien. Das ist in Ordnung so, es entspricht dem Anlaß. Rupert Steiner, der dort herumfotografiert hat, hat auch nicht genau gewußt, wo er ist und was das ist, was er da mit seiner langsamen Kamera aufgenommen hat, wie es sich an den eindrucksvollen, ebenso stimmigen wie auch stimmenden (das heißt mit dem, wie es dort tatsächlich ist, übereinstimmenden) Bildern, erkennen läßt.

Transdanubien klingt wie Patagonien. Patagonien gibt es wirklich und ist zugleich ein literarischer Begriff für ein mystisches Land, eine spöttisch-poetische Umschreibung eines geografisch-geistigen Zustandes am Ende der Welt.

Natürlich kann man sagen, Rupert Steiner hat an der oder die Stadtperipherie fotografiert, das aber würde nicht zutreffen, denn das dort ist keine wahre Peripherie, also eine spezifische Form der Großstadt, das spezifische Resultat eines besonderen Großstadtmagnetismus. Diese stadtformende Anziehungskraft fehlt hier zwar nicht ganz, sie ist aber zu schwach, um die für Peripherie typische Verbauungsgeschwindigkeit und das daraus resultierende städtebauliche Chaos zu bewirken. Denn dieser als Transdanubien benannten Gegend hat die Hauptvoraussetzung einer jeden Stadtperipherie gefehlt: die kompakte Stadt, die Kernstadt, die Stadtmitte, an der sich die Peripherie ballen kann. Von dort aus, dem 21. und 22. Bezirk, betrachtet, befindet sich diese Stadtmitte (Wien) weit entfernt hinter der Donau, sie hat mit Hirschstetten, Eßling, Kaisermühlen, Stadlau, Stammersdorf, Jedlersdorf, Kagran, Jedlesee, Süßenbrunn, Leopoldau, Floridsdorf, Aspern, Biberhaufen, Copa Cagrana und wie all die hübschen alten Ortsnamen hier heißen mögen, nichts zu tun.

Man muß sich die anderen Stadtteile von Wien vergegenwärtigen, die man als Peripherien bezeichnet, den Süden von Wien vor allem, um die Unterschiede zum im Norden liegenden Transdanubien begreifen und in den rätselhaft einfachen Farbfotos von Steiner auskosten zu können. Im Süden wird die Landschaft von der bodengefräßigen Großstadt rasch und systematisch wie von einer gigantischen Mähmaschine weggemäht und flächendeckend mit Neubauten aller Art bedeckt, sodaß von dem ursprünglichen Land und dem ursprünglichen Gegensatz zwischen Stadt und Land und dem ursprünglichen Weichbild der Stadt nichts übrigbleibt. Dort aber, hinter der Donau, geht alles viel langsamer, weniger brutal, weniger entschlossen und, falls geplant, dann ohne Planungserfolg vor sich. Da wächst eine neue Siedlung, dort entsteht ein neuer Betrieb, und dazwischen bleiben Getreide- und Zuckerrübenfelder bestehen, jede Menge Zwischenbrachland, von dem man nicht genau sagen kann, wo es ist und was es ist und was daraus einmal werden wird.

Obwohl unvergleichbar vielfältiger, scheinen die Zustände hier viel weniger chaotisch zu sein als im Süden von Wien. Dort, im Süden, herrscht zielbewußt der unwirtliche frühkapitalistische Städtebau; im Norden hingegen gedeiht noch die spätfeudalistische Weit- und Beiläufigkeit, die man Gemütlichkeit nennen kann. Es ist weder Stadt noch Land oder ist sowohl Stadt als auch Land - und das, diese beiläufige Art der weitläufigen Stadt dort, macht die Orte so interessant und so angenehm. Es ist ein Dort, was Rupert Steiner jeweils aufgenommen hat, keine Peripherie.

Dort ist ein Ort, der nicht festlegbar ist, weil es hier so geworden ist, wie es ist: undefinierbar, unfaßbar und daher auch unplanbar. Es ist dies hier aber nicht ein Nicht-Ort oder gar ein Un-Ort, weil das, was Rupert Steiner aufgenommen hat, stets eine Identität aufweisen kann, eine weit gestreute Identität allerdings. Jedes Bild ist ein Weichbild und hat jeweils eine andere, weiche Identität.

Das Dort da, verstreut über eine Fläche von 3869,58 Hektar, ist eine andere Welt mit einer anderen Chronologie und einer anderen Zeitgeschwindigkeit als die sonstige Stadt mit ihren wirklichen Peripherien. Diesen Unterschied, diese Einzigartigkeit und Vielfalt der ortsgebundenen urbanen Lebensweisen hat Rupert Steiner aufgespürt. Wenn man sich einige Gebäude oder einige Situationen genauer anschaut, die Freilufttanzenden etwa oder die Weintrinkenden, so sieht man, daß hier die fünfziger Jahre weiterhin dauern, noch immer lebendig sind. Bei vielen Bildern kann man nicht sagen, wann sie aufgenommen wurden, erst heuer oder doch bereits vor 40 Jahren. Außerdem kann man nicht genau sagen, wo man sich befindet, in welcher Zeit und in welchem Land. Ist es erst die Slowakei oder schon Ungarn, oder ist es noch östlicher, in der Ukraine, oder noch südlicher, in Mazedonien. Dabei ist der Blick des Fotografen nicht ein nostalgischer, nicht ein romantisierender, das heißt, er macht die Gegend nicht besser oder schöner, als sie ist. Sie ist furchtbar, aber voll von hübschen und komischen Ecken und kleinen unauffälligen Privatparadiesen, das zeigt er.

Der liebevoll abschätzige Begriff Transdanubien, den es, wie ich vermute, seit Mark Aurel und dem Limes gibt, wird kaum mehr verwendet. Transdanubien ist ein Wort, das verschwindet wie die Orte dort und ihr Flair und ihre Weichbilder. Gleich hinter der Donau ist bereits eine zweite Stadtmitte entstanden, und die Weitläufigkeit und Beiläufigkeit beginnen sich langsam in Peripherien zu verwandeln. Das hat Rupert Steiner aufgenommen.

Die Ausstellung „Transdanubien“ ist bis 2.12. (täglich 16-21 Uhr) in der Kinogalerie des Künstlerhauses zu sehen.

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