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Nachruf 1
Nachruf 1, Foto: Stefan Kaindl Hönig
UmBau
18. Juni 2005 - Christian Kühn
»Die Schule neu denken«: Unter diesem Titel hat der deutsche Pädagoge Hartmut von Hentig 1993 seine Reflexionen über das Bildungssystem im zu Ende gehenden 20. Jahrhundert zusammengefasst. Ein Grundgedanke Hentigs ist die Verwandlung der Schule von einem Ort der Belehrung in einen Ort der Erfahrung, an dem Schüler Selbstbestimmung und Solidarität als gleichermaßen zentrale Werte begreifen lernen. Diese Schule ist nicht Aufbewahrungs- und Gleichrichtungsanstalt, sondern lebendiger, offener Teil des Gemeinwesens. Mit Architektur hat das nicht zwangsläufig etwas zu tun. Auch in einem konventionellen Schulgebäude lassen sich neue Formen des Unterrichts erproben. Aber wer die Schule wirklich neu denken will, wird das auch räumlich ausdrücken wollen. Und so ist jeder Wettbewerb für ein neues Schulhaus heute auch ein Maßstab dafür, wie weit Schulerhalter und Lehrer sich tatsächlich eine andere Schule vorzustellen bereit sind. Der Wettbewerb im Jahr 2004 für das Polytechnikum in Mattsee/Salzburg gab Anlass zur Hoffnung. Einstimmig hatte die Jury das Projekt von Thomas Forsthuber und Christoph Scheithauer zur Ausführung empfohlen, eine raffiniert in die Landschaft gesetzte, aus drei Elementen gebildete Bauskulptur mit hohem Funktionswert: Ein Sockelgebäude mit Werkstätten umschließt U-förmig einen Werkhof. Der Klassentrakt ist quer dazu angeordnet und begleitet den Weg zum See. Über dem Werkstättensockel schwebt auf Stützen ein kleines Jugendzentrum. Bald nach Bekanntgabe des Ergebnisses erregte sich die Volksmeinung. Verdächtig erschien eine Zeichnung der Architekten mit Skateboard fahrenden Jugendlichen, die auf der Dachlandschaft des Projektes ihre Künste vorführen. Mattsee liegt zwar nur 20 Kilometer außerhalb der Stadt Salzburg, aber so viel urbane Jugendkultur sollte sich vom Land wohl besser fern halten. Vor allem stießen sich die Kritiker des Projektes aber daran, dass es nicht nur nicht aussieht wie ein Schulhaus, sondern nicht einmal wie ein Haus. Die zukünftigen jugendlichen Nutzer hätten damit wohl kein Problem: Warum soll man nicht auf einem Schiff in die Schule gehen oder in der Eisenbahn? Für Pädagogen ist die fest gemauerte, nach außen klar abgegrenzte Institution aber offensichtlich unverzichtbarer Bestandteil ihrer Identität. Die Direktorin der Schule, selbst in einem geraniengeschmückten, gaupenbekrönten Haus wohnhaft, die sich in der Jury noch von den Fachpreisrichtern eines Guten hatte belehren lassen, stand bald in vorderster Front der Projektgegner. Bürgermeister und Gemeinderat erklärten sich zur besseren Jury, klagten über höhere Kosten und beschlossen, den drittgereihten Entwurf eines lokalen Architekten – eine kongeniale Fortführung des bestehenden Baus aus den 1950er-Jahren – zur Ausführung zu bringen. Das Land Salzburg, das für einen Großteil der Finanzierung aufkommt, beugte sich der Entscheidung. Für die an Skandalen nicht gerade arme Salzburger Wettbewerbskultur ist das ein schlechtes Zeichen. Die Warnung, die Otto Kapfinger nach den Wirren um das kleine Festspielhaus und das Salzburger Stadion an potenzielle Juroren und Wettbewerbsteilnehmer ausgesprochen hat, gilt weiter: »Meidet Salzburg!«

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Für den Beitrag verantwortlich: UmBau

Ansprechpartner:in für diese Seite: Sonja Tomandloffice[at]oegfa.at

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