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An der Schnittstelle
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Glaswelten zwischen Ein- und Ausblick

24. Dezember 2005 - Jürgen Tietz
In unregelmässigem Rhythmus drücken die nächtlichen Sturmböen die grosse Fensterscheibe der Terrassentüre nach innen. Mit jedem Windstoss verzerren sich die Spiegelungen auf der Glasfläche wie in einem Spiegelkabinett auf dem Jahrmarkt. Unheimlich quillt das Licht der Schreibtischlampe auf, nur um im nächsten Augenblick wieder von der planen Fensterscheibe zurückgeworfen zu werden, ganz so, als habe es nie eine Sturmböe gegeben, die uns das Fürchten lehrte. Dabei ist es nur eine dünne Glashaut, die uns vor Regen, Wind und Kälte schützt, dahinter tobt weiter der Sturm.

Das Glas hat die Architektur und mit ihr unsere Welt verändert. Längst gehört das Haus aus Glas zu den sich wiederholenden Motiven der modernen Architektur. Das gilt für Mies van der Rohes Farnsworth House ebenso wie für Werner Sobeks würfelförmiges Haus R 128 in Stuttgart. Denn Glas verwandelt abgeschlossene Innenräume in geschützte Aussenräume, indem es den Gegensatz von innen und aussen optisch aufhebt. Der Blick wandert ungehindert durch die Scheiben hinaus in die Natur und von dort zurück. So vermischen sich die private und die öffentliche Welt miteinander, bis die Dämmerung hereinbricht. Dann lässt es sich gut in das hell erleuchtete Glashaus schauen. Doch von dort sieht man nur noch die Spiegelung der Innenwelt. Dahinter breitet sich die geheimnisvolle Dunkelheit der Nacht aus. Das Glashaus bezieht sich nur noch auf sich selbst. Bis die Vorhänge zugezogen werden.

Gläserne Geschichten

Die Erfolgsgeschichte des Glases setzte nicht erst mit der industriellen Revolution ein, als es zusammen mit Stahl und Beton zur Trias der neuen Baustoffe aufstieg. Schon der Gotik war das Glas Triebfeder für eine andere Architektur, eine neue Weltsicht. Immer feingliedriger wurden die Kathedralen, immer mutiger die zarten Konstruktionen aus Pfeilern, die die Gewölbebögen trugen und die steinernen Wände ablösten. Die Zwischenräume, die das filigrane Masswerk liess, füllten die Künstler mit farbigen Glasfenstern, welche die magische Strahlkraft von Edelsteinen verströmten. Es entstanden Räume eines geradezu überirdischen Lichts. Noch heute gehört die Magie der farbigen Glaswände zu den Leitmotiven des Sakralbaus, wie der Lichtraum von Egon Eiermanns Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin zeigt.

Ahnte Joseph Paxton, welche Wege das Bauen mit Glas gehen würde, als er vor gut 150 Jahren den Londoner Crystal Palace verwirklichte, der am Beginn der Geschichte des modernen Glasbaus steht? Immer wieder erlagen Architekten und Ingenieure der Faszination des Glases, seiner Ambivalenz zwischen Einblick und Ausblick, zwischen Spiegelung und Durchlässigkeit. Wie die gotischen Kathedralen bargen auch die ersten Glashäuser des 19. Jahrhunderts das Versprechen einer befreiten Leichtigkeit. Immer weiter wurden die massiven Wandflächen zurückgedrängt, bis hin zu ihrer vollständigen Auflösung in Glas.

Die gläsernen Häuser liessen nicht nur möglichst viel Licht in das Innere. Sie stehen auch für eine neue Ästhetik, wie etwa das Bauhaus von Walter Gropius (1925/26) in Dessau zeigt. Selbstbewusst setzt es sich über die tradierten Formen von Dekoration hinweg. Damit erweist es sich als Erbe jenes expressionistischen Aufschreis, der mit Bruno Tauts «Alpiner Architektur» eine filigrane Glasbaukunst gefordert hatte. Kristallin in der Form, aber vor allem farbig glänzend und wie von innen heraus leuchtend sollte sie sein. Eine gebaute Märchenwelt, die Taut bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf der Kölner Werkbundausstellung mit seinem Glashaus formuliert hatte. Ein Juwel, von «lockender Schönheit», so schwärmten die Kritiker voller Begeisterung von diesem Bau. «Das Glas bringt uns die neue Zeit, Backsteinkultur tut uns nur leid», verkündeten die frechen Verse des Dichters Paul Scheerbart von der Fassade des Glashauses herab.

Vor allem die Warenhauswelten waren ohne Glas nicht denkbar. Immer kühner wurden die Abmessungen der Vitrinen. Dabei nahmen sie Vorbilder aus den Vereinigten Staaten auf, wie bei Bernhard Sehrings Warenhaus Tietz in der Leipziger Strasse in Berlin. Damals flankierten noch üppige Karyatiden wie steinerne Fleischberge die zarte Stahl-Glas-Konstruktion der Schaufenster, hinter denen sich - gut einsehbar für die Passanten - die Verlockungen des Konsums offenbarten. Wer den Eingang dieser prächtigen Einkaufstempel durchschritt, der fand sich in mehrgeschossigen, von farbig leuchtenden Glasdecken überwölbten Lichthöfen wieder. Hier tauchte er ein in eine verheissungsvolle Zauberwelt, deren Waren sich beileibe nicht jeder leisten konnte.

In den zwanziger Jahren stieg das Glas endgültig zum Baustoff der Grossstadt auf. Kunstvoll spielte Erich Mendelsohn auf der Klaviatur der Moderne. Mit den langgestreckten Fensterbändern seiner Geschäftshäuser formulierte er das Symbol einer transparenten Avantgarde. Dank den farbigen Leuchtschriften und den taghell erleuchteten Auslagen verlor die Nacht ihren Schrecken, trug der Rhythmus der Grossstadt ihre Bewohner bis in den nächsten Tag hinein. Plötzlich schien sie da zu sein, die neue, kristalline Welt der Glasarchitektur, transparent bei Tage, verzaubert bei Nacht, wenn sich auf den regennassen Strassen das Scheinwerferlicht der Automobile mit den Lichtern der Reklamen und der Vitrinen zu einer einzigen schillernden Farbkaskade vermischte.

So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Architektur ganz von ihrer steinernen Vergangenheit befreien wollte. Ludwig Mies van der Rohe träumte bereits 1921 von jenen gläsernen Hochhäusern, die er nach dem Zweiten Weltkrieg bauen sollte. Und Frits Peutz errichtete 1934/35 mit dem Glaspalast in Heerlen auf sechs Geschossen eine vollständig in Glas aufgelöste Fassade, hinter der sich bis heute der Raster der pilzförmigen Stahlbetonstützen abzeichnet. Gläser aller Arten, vom transparenten Fahrstuhlzylinder bis zur geschwungenen Gebäudeecke, wurden zu ästhetischen Markenzeichen einer dynamischen Grossstadtarchitektur, lange bevor nach dem Zweiten Weltkrieg das Glas mit den «curtain walls», den Vorhangfassaden, im wahrsten Sinne des Wortes zum austauschbaren Verkleidungsmaterial für die Gebäudekonstruktion wurde.

Transparenz und Spiegelungen

Doch während die gläsernen Hallen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ungläubiges Staunen auslösten, sind sie heute längst zum Alltag geworden. Das kunstvolle Spiel zwischen innen und aussen wurde durch eine geradezu exhibitionistische Transparenz ersetzt. Seine Unschuld aber hat das Bauen mit Glas spätestens in den siebziger Jahren verloren, als die spiegelnden Glaskuben, die zwar Ausblicke gewährten, Einblicke aber verwehrten, die Idee gläserner Architektur auf den Kopf stellten.

Wie riesige Spiegel stehen die schwarz, braun oder blau glitzernden Hochhäuser zu Hunderten in den Metropolen. Durch den Raster ihrer Fassadenplatten zersplittern sie das Abbild der Stadt wie in einem Kaleidoskop. Grobschlächtig fragmentieren sie so die Zusammenhänge der Umgebung und vertrauen darauf, dass der Betrachter diese Bilder in seinem Kopf schon wieder zur bekannten Gesamtkomposition zusammensetzen wird. Spiegelnd lenken sie von sich ab, werden zur Nicht-Architektur, zum Brennglas architektonischen Versagens. Doch den Blick auf die Möglichkeiten einer offenen, weil transparenten Architektur sollten diese Fehlschläge nicht verstellen. Gerade in einer neu erwachten Auseinandersetzung zwischen geschlossener Wand und transparenter Öffnung, im Spiel zwischen durchscheinendem Glas und farbigen Fenstern bietet sich - wie etwa das neue Novartis-Gebäude von Roger Diener in Basel zeigt - ein ganzer Kosmos von Möglichkeiten, die Schnittstellen zwischen Innenwelt und Aussenwelt neu zu definieren. Dort wird noch heute jenes Versprechen spürbar, das Paul Scheerbart vor hundert Jahren mit der Gewissheit eines Visionärs verkündete: «Ohne einen Glaspalast wird das Leben eine Last.»

[ Der Kunsthistoriker Jürgen Tietz lebt als Publizist in Berlin und schreibt regelmässig in der NZZ über Architektur und Denkmalpflege. Im Frühjahr 2006 erscheint sein neustes Buch, «Was ist gute Architektur», in der Deutschen Verlags-Anstalt. ]

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