Artikel

Zerbrechliche Avantgarde
Neue Zürcher Zeitung

Der ambivalente Umgang mit dem Erbe der Moderne

Die Bauten der klassischen Moderne waren schon zu ihrer Entstehungszeit umstritten. Und noch heute besitzt der Umgang mit ihnen zwei Gesichter: Während Le Corbusiers berühmtes Doppelhaus in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart jüngst restauriert wurde, droht von Moskau über Tel Aviv bis Zürich der Verlust bedeutender Denkmäler.

3. Februar 2006 - Jürgen Tietz
Das Neue Bauen der zwanziger Jahre fand zwar schnell den Weg in die Architekturgeschichte, aber nur langsam in den Blickwinkel der Denkmalpflege. Erst Ende der siebziger Jahre begann man damit, genauer auf die Pionierbauten der klassischen Moderne zu schauen. Zu einer Zeit also, als sie langsam die Farbe ihres Anstrichs und ihr ursprüngliches Gesicht verloren. Vielleicht brauchte es diesen Zeitabstand, um die Werke der Avantgarde angemessen würdigen zu können. Doch fand diese Wiederentdeckung erst statt, als die architektonischen und städtebaulichen Konzepte der Moderne ausgedient hatten. Mit der Krise des Funktionalismus und der Rückkehr von Säule oder Walmdach in das postmoderne Stadtbild setzte eine seltsame Doppelbewegung ein: Einerseits fanden die Gründungsbauten der Moderne Eingang in die Denkmallisten, andererseits aber gerieten sie unter einen wachsenden Umnutzungs- und Abrissdruck.

Zu den Meilensteinen beim denkmalgerechten Umgang mit dem Neuen Bauen gehörte die detaillierte Untersuchung, die Ende der siebziger Jahre an Bruno Tauts Berliner Grosssiedlung «Onkel Toms Hütte» mit ihrer einzigartigen Farbigkeit durchgeführt wurde. Auf der Liste jener Siedlungen der Moderne, die Berlin heute gerne als Teil des Weltkulturerbes sehen würde, sucht man «Onkel Toms Hütte» allerdings vergeblich. Eine ähnliche Pionierleistung stellte auch die erste Sanierung der Stuttgarter Weissenhofsiedlung zwischen 1981 und 1987 dar. So verdienstvoll diese Intervention war, so zwiespältig ist rückblickend das Vorgehen. Denn einerseits wurde an den berühmten Bauten der Werkbundausstellung von 1927 eifrig rekonstruiert, andererseits opferte man für eine neue Wärmedämmung originale Bausubstanz.

Farbiger Aufbruch

Jetzt stand die erneute Restaurierung des Doppelhauses von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in Stuttgart an. Von der Wüstenrot-Stiftung unterstützt, wurde sie vom ortsansässigen Büro «Architektur 109» durchgeführt. Künftig soll das Haus einer Doppelfunktion nachkommen: als Ausstellungsgebäude, das die Besucher mit der Geschichte der Weissenhofsiedlung vertraut macht, sowie als Exponat seiner selbst. Denn das 1927 in nur wenigen Monaten unter der Leitung von Alfred Roth errichtete Haus gilt als programmatischer Bau. Mit ihm verwirklichte Le Corbusier seine Vision vom modernen Wohnen. Dem Weiss der Fassade, die von einem dynamischen Flugdach bekrönt wurde, antwortete im Inneren des Hauses eine starke Farbigkeit.

Doch ausgerechnet dieses Corbusier-Gebäude war das einzige in der Weissenhofsiedlung, das nach dem Ausstellungsende keinen Nutzer fand. Daher baute man es 1933 tiefgreifend um. Die Einbauschränke verschwanden, das Haus wurde unterkellert, und die Dachterrasse wurde zum Dachgeschoss. Bei der Restaurierung 1983/84 bemühte man sich, den Ursprungsbau wieder herauszuschälen. Zudem wurden die Einbaumöbel rekonstruiert, die tagsüber die Betten verbergen sollten. Freilich nicht mit ihrem - ursprünglichen - Betonrahmen, das trug der zu dünne Boden nicht. Bei der jetzigen Restaurierung hat man eine neue Version dieser Bettmöbel rekonstruiert, statt jene aus den achtziger Jahren als Dokument der Restaurierungsgeschichte zu bewahren.

Ideologische Verblendungen

Das Stuttgarter Doppelhaus stand lange Zeit für den schwierigen Umgang mit der Moderne in Deutschland. Die aufgrund der weissen Flachdachkuben schon bei ihrer Entstehung als «Araberdorf» diffamierte Weissenhofsiedlung hatte einen schweren Stand. Im Dritten Reich sollte an ihrer Stelle gar das «Generalkommando V» des Heeres entstehen: Den Mietern der Weissenhofsiedlung wurde zum 1. April 1939 gekündigt.

Wie tief die Aversion gegen die Moderne sass, zeigt sich nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Dessau. In einem systemübergreifenden Hass der deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf die Avantgarde wurden das Bauhaus und die Meisterhäuser von Walter Gropius überformt und den gängigen Architekturvorstellungen angepasst. Ganz so, als gälte es, das Bauhaus einer «damnatio memoriae» zu unterziehen. Diese doppelte ideologische Verblendung im Dritten Reich und in der DDR erfuhr durch die Kriegszerstörungen noch eine zusätzliche Dimension. Wer heute vor den Dessauer Meisterhäusern steht, der wird von den Veränderungen der Bauten kaum noch etwas erkennen - sofern er nicht von ihnen weiss. Denn sie präsentieren sich wieder im lichten Glanz der Avantgarde, ganz so, als hätte es in den letzten siebzig Jahren nicht zahlreiche Bemühungen gegeben, sie auszulöschen.

Derweil dauert die unheilige Allianz aus Ablehnung und Gleichmut gegenüber der Moderne andernorts bis heute an. In Russland droht zahlreichen Bauten des Konstruktivismus der Untergang. So dem «Narkowim»-Haus, das Moissej Ginzburg 1928/30 für die Beamten des Finanzvolkskommissariates der Sowjetunion verwirklicht hatte. Von seinen einst 50 Wohnungen sind heute nur mehr 20 bewohnt. Im Übrigen beherrschen Rost und zerbrochene Fensterscheiben das Bild. Der Zustand des Baudenkmals ist kein Einzelfall. Insgesamt 15 bedrohte Moskauer Beispiele des Konstruktivismus hat die Berliner Bauhistorikerin Anke Zalivako auf einer Webseite der Baugeschichte an der TU Berlin dokumentiert. Darunter gleich mehrere Arbeiten von Konstantin Melnikow und Alexander Wesnin. Eine unter anderem von der Russischen Akademie für Architektur und Bauwissenschaften initiierte Tagung wird sich Mitte April unter dem Titel «Heritage at risk. Preservation of 20th Century Architecture and World Heritage» der Moskauer Problemfälle annehmen - aber nicht nur ihrer. Denn wer meint, dass die Zerstörung der Moderne nur ein Problem Russlands sei, der irrt.

Zwar gibt es herausragende Beispiele für die behutsame Restaurierung moderner Bauten. Dazu gehört das von Pitz und Hoh hergerichtete Haus Schminke von Hans Scharoun im sächsischen Löbau ebenso wie die Rotterdamer Van- Nelle-Fabrik. Von Jan Brinkman und Lee van der Vlugt zwischen 1925 und 1931 errichtet, wurde sie jüngst durch den Rotterdamer Architekten Wessel de Jonge umgenutzt. Doch der Umgang mit den Bauten der Moderne bleibt ambivalent. Während sie an manchen Orten sehnsuchtsvoll rekonstruiert werden, dienen sie andernorts als Spielball von Ablehnung und kommerziellen Interessen. Mit dem Abriss der denkmalgeschützten Siedlung Blumlägerfeld (1930/31) von Otto Haesler ist im norddeutschen Celle erst vor wenigen Jahren ein Meilenstein des «Bauens für das Existenzminimum» zerstört worden.

Auch in der Schweiz droht der Verlust eines herausragenden Baudenkmals der Moderne: das Zürcher Kongresshaus des Architekturbüros von Max Ernst Haefeli, Werner Max Moser und Rudolf Steiger. Zeitgleich mit den Bauten der Landi 1939 verwirklicht, greift es dem architektonischen Duktus der fünfziger Jahre voraus. Der freie Grundriss und die kunstvoll gestaffelten Bauglieder gehen mit einer Wiederentdeckung des lange von der Moderne geschmähten Ornaments bei der Behandlung von Wänden und Böden einher. Selbst eine missglückte Ergänzung aus den achtziger Jahren vermag der einzigartigen Qualität des Kongresshauses kaum etwas anzuhaben. Die gegenwärtigen Planungen für das neue Kongresszentrum gehen jedoch derzeit von einem Abbruch des Denkmals aus. Der Vorschlag des Basler Architekten Roger Diener, den Bau in die neue Nutzung einzubeziehen, wird nicht weiterverfolgt. So droht auch Zürich ein schmerzlicher Denkmalverlust. Qualität und Bedeutung der architektonischen Avantgarde, so scheint es, sind im Bewusstsein der Gegenwart noch immer erst bruchstückhaft angekommen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: