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Lübecker Veränderungen
Neue Zürcher Zeitung

Gefährdet ein moderner Neubau das Weltkulturerbe?

7. Oktober 2002 - Jürgen Tietz
Schmale Kaufmannshäuser mit Backsteinfassaden und Stufengiebeln, dazu die mächtige Marienkirche, das gotische Rathaus und das markante Holsten-Tor: Noch heute zehrt Lübeck mit seinen Postkartenschönheiten vom Ruhm seines baulichen Erbes. Bereits 1836 galt Lübeck dem Reiseschriftsteller Eduard Beurmann als ein «in Stein gehauener Abschnitt der Weltgeschichte». Als Hansestadt hatte die Stadt an der Trave im späten Mittelalter einen einzigartigen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung als Handelszentrum erlebt. Doch die Bomben des Zweiten Weltkriegs fügten dem historischen Stadtgefüge schwere Schäden zu. Der Wiederaufbau nach 1945 tat das Seine, um das Gesicht der Stadt zu verändern. Trotzdem wurde Lübeck, das heute rund 200 000 Einwohner zählt, 1987 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen.


Historische Stadt im Wandel

Nun ist ein Streit über die Denkmalverträglichkeit eines geplanten Neubaus am Lübecker Marktplatz entstanden, der der Stadt eine Erwähnung im aktuellen Bericht über das gefährdete Kulturerbe «Heritage at Risk» 2001/02 des International Council on Monuments and Sites (Icomos) eingebracht hat. Doch die Geschichte hat einen langen Vorlauf, der letztlich bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Bereits damals setzten Veränderungen in der Bebauungsstruktur der Stadt ein, die sich durch schmale, giebelständige Häuser auszeichnete. Vielfach umgebaut, erweitert und dadurch den sich verändernden Bedürfnissen angepasst, bergen etliche dieser Häuser noch heute einen mittelalterlichen Kern. Für die Bewahrung der Gebäude spielte bis ins 19. Jahrhundert weniger die Pietät gegenüber dem Erbe eine Rolle als wirtschaftliche und funktionale Gründe: Neu zu bauen war teuer, und die Funktion der Gebäude hatte sich bewährt.

Um 1870 setzten jedoch der Umbau und die Aufwertung des bis dahin weitgehend mittelalterlich geprägten zentralen Lübecker Handelsplatzes ein, des Marktplatzes. Die angrenzenden Gebäude wurden teilweise restauriert, so auch das Rathaus. Um seinen gotischen Charakter zu unterstreichen, erhielt es an seiner Platzfassade zusätzlich neogotische Ziergiebel - ganz im Sinne der Restaurierungspraxis des späten 19. Jahrhunderts. Fast gleichzeitig riss man gegenüber dem Rathaus eine Reihe kleinerer Häuser ab. An ihre Stelle trat der Neubau der Reichspost (1882-84) von Postrat Hake. Dieser verlieh dem Bau ein Stilgewand, das die Formensprache der norddeutschen Backsteingotik aufnahm, um sich in das historische Ensemble einzufügen. Doch der Neubau veränderte nicht nur den Charakter des Platzes, er besass auch eine politische Konnotation: Durch seine zentrale Lage und die Verwendung einer architektonischen Grossform, die derjenigen des Rathauses und der Marienkirche kaum nachstand, war er eine bauliche Manifestation des preussisch dominierten Deutschen Reiches im Herzen der Freien Hansestadt.

Rund 100 Jahre später begann 1995 mit dem Auszug der Post aus ihrem Stammhaus eine langwierige Diskussion über die Zukunft des Marktplatzes. Vom neugotischen Glanz des Gebäudes war nach dem Zweiten Weltkrieg wenig übrig geblieben. Stattdessen präsentierte es sich mit einer unauffälligen, purifizierten Nachkriegsfassade. Da sich für das Gebäude kein neuer Nutzer fand und es auch nicht unter Denkmalschutz gestellt worden war, standen die Zeichen auf Abriss. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass das benachbarte Stadthaus - ein Verwaltungsgebäude der fünfziger Jahre - ebenfalls 1995 geschlossen wurde, weil sich die Stadt seine Sanierung nicht leisten konnte. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb sollte 1996 eine Lösung für das Gebiet der alten Post und des Stadthauses bringen. Doch statt einen ersten Preis zu vergeben, empfahl die Jury die Weiterbearbeitung von fünf Beiträgen, welche die beiden grundsätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten aufzeigten: Entweder kehrte man zur kleinteiligen mittelalterlichen Parzellenstruktur zurück, was dem Konzept einer kritischen Rekonstruktion entsprochen hätte. Oder man entschied sich dafür, auf dem Grundstück der Post wiederum eine architektonische Grossstruktur zuzulassen - wie schon in den vergangenen 120 Jahren. Überlegungen, eine kleinteilige bauliche Mischnutzung auf dem Areal zu verwirklichen, scheiterten freilich daran, dass sich für sie kein Investor fand.


Unesco gegen neue Niedlichkeit

Erst mit einem Besitzerwechsel des Postgrundstücks zeichnete sich im Jahr 2000 eine neue Entwicklung ab. Der Investor brachte einen Entwurf des Düsseldorfer Architekturbüros Ingenhoven und Overdiek ins Spiel, das an dem Wettbewerb 1996 nicht teilgenommen hatte. Dieser sieht die Bebauung des Areals mit einem dreigeschossigen Glasriegel vor, dem eine Lamellenkonstruktion aus rötlicher Terrakotta vorgeblendet werden und dessen Blickfang das ungewöhnliche Dach mit seiner Kappenstruktur sein soll. Jeder Kappe entspricht dabei eine vertikale Fuge am Baukörper, so dass die Gebäudeflucht in kleinere Teile strukturiert werden würde. Der Megastruktur im Inneren entspräche damit im Äusseren eine ferne Erinnerung an die einstige Parzellenbebauung des Grundstücks. Auf Widerstand stiess der Entwurf nicht nur wegen des Materials und der ungewöhnlichen Dachform, sondern auch, weil er den Standort des ehemaligen Stadthauses mit einbezog, ohne ihn gestalterisch zu differenzieren.

Nach längerer Diskussion und einer Überarbeitung der Entwürfe durch die Architekten arrangierte sich die Lübecker Denkmalpflege mit der städtebaulichen und architektonischen Wirkung des Neubaus. Bei der «Bürgerinitiative rettet Lübeck» (BIRL) stiess der Entwurf von Ingenhoven und Overdiek ob seiner Dimensionen und der monofunktionalen Nutzung jedoch weiter auf Protest. Daraufhin schaltete die BIRL die deutsche Sektion des Icomos ein, die sich der Einschätzung der Bürgerinitiative anschloss. Eine eilends einberufene Expertenrunde, die ihrerseits die Unesco informierte, kam freilich zu einer anderen Entscheidung: Sie sah Lübecks Status als Weltkulturerbe durch den Neubau nicht gefährdet. Gleichwohl mahnte sie die Überarbeitung des Entwurfs an. Der anstelle des Stadthauses im Vorfeld der Marienkirche geplante Bauteil soll nun stärker architektonisch differenziert werden. Derzeit erarbeitet das Düsseldorfer Architekturbüro Änderungsvorschläge. Auf das grundsätzliche Erscheinungsbild wird die Überarbeitung aber wohl kaum Einfluss haben.

Wahrscheinlich wäre Lübeck mit der rechtzeitigen Unterschutzstellung des Postgebäudes am besten beraten gewesen wäre. Doch diesen Weg zur Bewahrung ihres tradierten Stadtbildes hat sich die Stadt selbst versperrt. Die Haltung der Expertenrunde der Unesco allerdings weist über den engen Rahmen Lübecks hinaus, denn sie ist als ein Votum für moderne Architektur im historischen Kontext zu bewerten. Damit bezieht sie Position gegen jene Vorstellungen einer neuen Niedlichkeit und die Rekonstruktionsmanie, die derzeit in Deutschland um sich greift. Gleichwohl hätte man sich den Neubauentwurf für den Lübecker Marktplatz mutiger gewünscht. Doch dazu waren wohl die Vorbilder der Marienkirche und des Rathauses zu übermächtig, aber auch die Diskussionen um das Verhältnis zwischen Geschichte und Zukunft in Lübecks Architektur zu angstbeladen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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