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Sehnsucht nach schönen Bildern
Neue Zürcher Zeitung

Rekonstruktionen auf Kosten vorhandener Denkmäler

Ob in Dresden, Hannover, Potsdam oder Berlin: Fast überall in Deutschland wird derzeit vom Wiederaufbau untergegangener Schlösser geträumt. Die gegenwärtige Debatte über Rekonstruktionen hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit erhaltenen Denkmälern. Statt sie behutsam zu konservieren, werden sie immer häufiger teilrekonstruiert.

22. Oktober 2002 - Jürgen Tietz
Deutschland ist nicht nur das Land der Dichter und Denker, sondern auch ein Land der Burgen und Schlösser. Doch all die Herrlichkeiten zwischen Glücksburg im Norden und Neuschwanstein im Süden scheinen den Deutschen nicht auszureichen. Vielmehr treibt sie derzeit die Sehnsucht nach ihren verlorenen Schlössern um. Dabei herrscht zwischen Rhein und Oder eigentlich gar kein Mangel an geschichtsträchtigen Adelssitzen. Allerdings bedürfte so manches dieser Herrenhäuser - vor allem im Osten Deutschlands - dringend der Pflege und finanziellen Unterstützung, um es vor dem drohenden Verfall zu retten. Doch statt sich dieses Bauerbes anzunehmen, wird freudig von neuen (Luft-)Schlössern geträumt. Das gilt nicht nur für die einstigen preussischen Residenzstädte Potsdam und Berlin. Längst hat der romantische Traum weitere Kreise gezogen. So fragte die «Hannoversche Allgemeine Zeitung» ihre Leser: «Fehlt Ihnen hier etwas?», und präsentierte darunter eine Wiese im Garten von Herrenhausen. Dort stand das von Georg Ludwig Friedrich Laves (1789-1864) klassizistisch überformte Schloss Herrenhausen, ehe es 1943 im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges unterging. In Hannover, wo mit schöner Regelmässigkeit die Diskussion um die Rekonstruktion des Schlosses aufwallt, setzen die Schlossfreunde auf das bewährte Motto «Steter Tropfen höhlt den Stein». Und tatsächlich bläst der Wind des Zeitgeistes den Gegnern derartiger Schlossrekonstruktionen zunehmend heftiger ins Gesicht.


Banalisierung von Architektur

Dabei ist die Sehnsucht nach den Schlössern nicht mit einer Sehnsucht nach authentischen Zeugnissen der Geschichte gleichzusetzen. Gewünscht werden lediglich die schönen Bilder, die eine heile Welt vorgaukeln. So bekannte Florian Illies, Bestsellerautor und Feuilletonist der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», in seinem Plädoyer «Baut das Schloss!» mit schöner Unbekümmertheit: «Es ist eben nicht die Sehnsucht nach einem politischen Symbol, nicht Gegenwartsflucht, die die Befürworter der Rekonstruktion antreibt, sondern die befreiende Chance, Berlins Zentrum durch seinen alten Mittelpunkt wieder ästhetisch zu justieren.» Dabei regt sich der Verdacht, die neue Sehnsucht nach den alten Schlössern könnte die Antwort auf jene vierzig Jahre demütig ertragener Bescheidenheit sein, die in beiden deutschen Staaten während der Teilung zähneknirschend erduldet werden musste.

So sind es denn auch nicht allein die Schlösser, die in Deutschland derzeit aus Ruinen auferstehen, wie der Blick nach Dresden lehrt (NZZ 4. 3. 02). Was zählt, ist der Stimmungswert von Architektur generell. Und der lässt sich kommerziell trefflich ausschlachten. Dass diese Emotionalisierung mit einer Banalisierung von Architektur einhergeht - wen stört's? Ist die Architektur erst einmal von ihrer historischen Verwurzelung und Materialität gelöst, dann ist es auch nicht mehr weiter schlimm, wenn die Sehnsucht nach den schönen Architekturbildern kurz hinter der Fassade endet - den deutschen Wärmeschutzverordnungen und Brandschutzbestimmungen sei Dank.

Nun mag man einwenden, dass es sich bei der derzeitigen Rekonstruktionsdebatte um einen alten Hut handelt. Schliesslich führt ein roter Faden vom Knochenhauerhaus in Hildesheim über Frankfurts Goethehaus bis hin zum Schloss in Heidelberg. 1905 konstatierte Georg Dehio, der Ahnherr der deutschen Denkmalpflege: «Der Historismus des 19. Jahrhunderts hat aber ausser seiner echten Tochter, der Denkmalpflege, auch ein illegitimes Kind gezeugt, das Restaurationswesen. Sie werden oft miteinander verwechselt und sind doch Antipoden. Die Denkmalpflege will Bestehendes erhalten, die Restauration will Nichtbestehendes wiederherstellen.»

Auf der Suche nach den Ursachen für die deutsche Rekonstruktionsleidenschaft wird man nicht nur bei den Städtebauern und Architekten landen und ihrem von der Postmoderne vorangetriebenen Plädoyer für die europäische Stadt. Dabei fällt gerne unter den Tisch, dass gerade die europäischen Metropolen in den letzten Jahrhunderten durch permanente Erneuerungs- und Veränderungsschübe als Motoren der Moderne dienten. Doch auch die heutige Generation von Denkmalpflegern in Deutschland ist nicht ganz schuldlos an der Misere, in der sie derzeit sitzt. Denn sie konservieren und reparieren nicht mehr nur, nein sie rekonstruieren auch eifrig an ihren schutzbefohlenen Baudenkmälern herum. Beseelt vom Wunsch, zurückzugewinnen, was einst untergegangen ist, werden nicht nur Totalrekonstruktionen freudig in Angriff genommen, auch Teilrekonstruktionen werden vorangetrieben. Natürlich sind die Grenzen fliessend zwischen Konservieren und Reparieren, zwischen Sanieren und Rekonstruieren. Und natürlich gilt es zu differenzieren, ob ein über lange Zeit nicht mehr existierendes Gebäude völlig neu errichtet wird oder ob man ein überformtes Baudenkmal auf Grund einer klaren Befundlage in einen bestimmten Zustand zurückversetzt. Doch selbst wenn die Denkmalbehörden ihr ganzes denkmalpflegerisches Instrumentarium einsetzen, so bedienen sie bereits durch ihre (Teil-)Rekonstruktionen jene Bilder einer unversehrten, vermeintlich «originalen» Architektur, die durch unsere Köpfe geistern.


Tiefgefrorene Architekturbilder

Noch immer beginnen feierliche Trompetenkonzerte in unseren Köpfen zu spielen, sobald wir auf eine Barockkirche oder ein Schloss des Klassizismus stossen. Wenn solche Bauten in Reiseführern und Kunsthandbüchern dann auch noch mit Begriffen wie «festlich» oder «prachtvoll» garniert sind, dann haben Spinnweben in den Ecken und Alterungsspuren an der Fassade keine Chance mehr. Sie müssen bei der nächsten Restaurierung der Leidenschaft für jene Hochglanzdenkmäler weichen, denen die Spuren der Zeit nichts anhaben dürfen. Derart tiefgefrorene Architekturbilder beschränken sich freilich nicht nur auf Gotik, Barock und Klassizismus. Sie gelten auch für die Bauten der Moderne. In die Jahre gekommen oder gar massiv überformt, stellen sie die Denkmalpflege seit einigen Jahren vor Probleme. Dass die Bauten der Moderne - trotz anders lautenden Verdikten - doch restaurierbar sind und einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden können, das haben nicht zuletzt jene Projekte bewiesen, die die Ludwigsburger Wüstenrotstiftung als Bauherrin vorangetrieben hat.

Mit dem Meisterhaus Muche/Schlemmer in Dessau hat sie sich gemeinsam mit dem Berliner Architekten Winfried Brenne jetzt einen besonders schwierigen Brocken herausgepickt. Die Veränderungen während des Dritten Reichs und der DDR haben das Gesicht des von Walter Gropius für die Bauhausmeister Georg Muche und Oskar Schlemmer entworfenen Doppelhauses nachhaltig verändert. Daher musste in Dessau eine grundsätzliche Entscheidung getroffen werden. Das bauzeitliche Gesicht des Hauses war nach all seinen Veränderungen nur durch eine teilweise Rekonstruktion zurückzugewinnen. Trotz aller Sorgfalt, die auf die Dokumentation des Gebäudes verwendet wurde, und trotz dem sichtbaren Bemühen, die Spuren der Geschichte in ihrer Materialität am Gebäude zu bewahren und lesbar zu belassen, stellt die jüngst abgeschlossene Sanierung des Meisterhauses einen denkmalpflegerischen Problemfall dar. Denn mit ihr wird dem Bild einer Ikone der modernen Architektur der Vorzug gegeben vor der überformten Realität dieses Gebäudes. Der tourismusfördernden Dessauer Teilrekonstruktion kommt nicht zuletzt deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie den Begehrlichkeiten, das gesamte Ensemble der Meisterhäuser wieder zu vervollständigen, neue Nahrung gibt. So droht in den nächsten Jahren die Totalrekonstruktion des Meisterhauses von Walter Gropius, der Trinkhalle von Ludwig Mies van der Rohe und Eduard Ludwig sowie die Vervollständigung des Hauses Moholy-Nagy/Feininger.

So unterschiedliche Qualitäten die Teilrekonstruktion in Dessau und die geplanten Totalrekonstruktionen deutscher Schlösser auch besitzen, sie einen die ungeheure Bedeutung, die der Vision von dem «ursprünglichen» Bauwerk gegenüber dem aktuellen Zustand eingeräumt wird. Nähme man Architektur hingegen als einen Träger von Geschichte ernst und verstünde sie nicht allein als ein Mittel der kommerzialisierten Spassgesellschaft zur ästhetischen Justierung von Stadträumen, dann würde wohl niemand ernstlich auf den Gedanken kommen, Schlösser wieder aufzubauen. Denn mit den Rekonstruktionen gewinnt man die historische Aussagequalität einer über Jahrhunderte dauernden Baugeschichte nicht zurück. Dafür erhält man architektonische Surrogate, die als Symbole einer längst untergegangenen Herrschaftsepoche allzu leicht missdeutet werden können.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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